Eine unendliche Geschichte

Der Roman „The Dragonfly Sea“ (deutscher Titel „Das Meer der Libellen“) ist ein frisches Werk aus der Feder der kenianischen Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor. Wie in ihrem ersten Roman „Dust“ von 2006, wählt sie einen zentralen geografischen Bezugsort in Kenia und zwar die Insel Pate, die zum Lamu-Archipel gehört, das im Indischen Ozean liegt. Die Erzählung liegt zeitlich zwischen dem Ende des 20. Jahrhunderts und dem Anfang des 21. Jahrhunderts. Die zentrale Figur ist ein Mädchen Namens Ayaana, das im Laufe des Buches erwachsen wird und in dieser Zeit die Zeugin vieler Schicksale wird, sowie selbst große Abenteuer auf der Insel und in der Ferne erlebt. Ihre Lebensgeschichte ist bei Weitem nicht die einzige, die die Leserschaft im Laufe des Buches erlebt. Das Schicksal ihrer Mutter und auch eines Matrosen, der zu einer Vaterfigur für Ayaana wird, sind auch sehr wichtige und teilweise eigenständige Erzählstränge, die für Ayaana nur indirekt aus Erzählungen bekannt werden. Ähnlich überschneiden sich die Lebenswege der weiteren Figuren mit denen dem Mädchens.

Der Roman kann mit gutem Gewissen als politisch und historisch betrachtet werden. Eine romantische Komponente ist soweit ausgeprägt, dass es an einigen Stellen auch als Märchen oder Saga wahrgenommen werden kann. Es liegt viel Mystik in der Luft, viele Rätsel, viel Unbekanntes, welches darauf wartet, entschlüsselt oder entdeckt zu werden. Harte politische Realität, Beziehungsdramen schlagen zwischendurch auch immer wieder zu. Das Leben wendet sich aber auch zum Guten, Figuren feiern Siege, erleben positive Überraschungen. So wird die Erzählung nicht zu einer düsteren Geschichte des Leidens, sondern viel mehr eine ausgewogene Unterhaltung.

Aus der westlichen Perspektive wirkt es überraschend, nachdenklich, fast schon aufklärerisch, dass die Romanfiguren sich in erster Linie im Indischen Ozean zwischen Afrika und China bewegen. Später führt der Weg in die Türkei, aber die Verbindung nach Europa, zum Westen, wird stark vermindert. Dies ist ein schöner Perspektivenwechsel und eine Ergänzung der westlichen Sichtweise auf die Welt.

Die Autorin versuchte im Laufe des Romans jegliche aktuell relevante Themen in die Handlung einzubinden: Die politische und ökonomische Situation in Kenia, Piraten vor der Küste Somalia, Entwicklungen in China, Terrorbekämpfung durch westliche und lokale Mächte, Dialog der Kulturen, Gleichberechtigung der Frauen, die Auseinandersetzung mit der Religion usw. Dieser Weg durch alle Kontrollpunkte wirkte doch ein wenig zu konstruiert, zu aufgesetzt.

Das Buch umfasst ca. 600 Seiten. Die Leserschaft braucht einen langen Atem und soll gar nicht versuchen das Ende zu erraten. Die Geschichte wirkt nicht abgeschloßen, es gibt keinen Spannungsbogen, der durch das ganze Buch hindurch geht. Vielmehr ist das eine Reihe oft überlappender Spannungsbögen. Das Buch wird gut bei einer Leserschaft ankommen, die eine langfristige schöne und anspruchsvolle Unterhaltung nötigt hat, da ihr eigenes Leben nicht abenteuerreich genug ist und für die der Weg wichtiger ist als das Ziel.

Sachlicher und überzeugender Feminismus

Chimamanda Ngozi Adichie ist keine Unbekannte. Ihre Romane „Americanah“, „Half of a Yellow Sun“ und „Purple Hibiscus“ wurden zahlreich ausgezeichnet. Sie ist eine Feministin und veröffentlichte 2017 ein Buch, in dem sie sachlich, aber in einem literarisch fiktiven Kontext, über die feministische Erziehung von Töchtern spricht. Der Originaltitel lautet „Dear Ijeawele, or A Feminist Manifesto in Fifteen Suggestions“. Die deutsche Übersetzung trägt den Titel „Liebe Ijeawele! Wie unsere Töchter selbstbestimmte Frauen werden“. Der Text ist in der Form eines Briefes gehalten, den die Autorin an ihre Freundin schreibt, die vor kurzen eine Tochter geboren hat.

Das Buch besteht aus einem Vorwort, einem Nachwort und fünfzehn Thesen beziehungsweise Ratschlägen, die vielleicht sogar als Gebote des Feminismus gemeint sein könnten. Im Gegensatz zu zahlreicher Literatur über Feminismus, bleibt der Ton dieses Buches sehr ausgeglichen, vermeidet Dramatisierungen, Pathos und blanken Männerhass. Die Autorin fühlt sich sicher in dem Thema und versucht nicht mit emotionalen Aussagen eventuelle Logiklücken zu kaschieren.

Die Ratschläge variieren von der Definition der grundsätzlichen Prinzipien bis zu alltäglichen Problematiken. Die einzelnen Ratschläge werden nicht zu kategorisch formuliert und erwarten lediglich einen Versuch berücksichtigt zu werden. Die einzelnen Kapitel fangen oft mit der Beschreibung einer Situation an, die untersucht wird. Danach folgt ein Vorschlag oder eine Lösung, die mit Argumenten begründet wird. Dabei geht es nicht um die leichteste Lösung, sondern um die beste, um die richtige, die im Sinne des Feminismus und noch mehr im Sinne der Gleichberechtigung der Geschlechter. Ihre Argumentation löst immer wieder einen Aha-Effekt aus. Und diesen ohne Nebenwirkungen oder unangenehmen Nachgeschmack für Frauen oder für Männer. Niemand fühlt sich angegriffen, weil die Gerechtigkeit und Gleichstellung aller Menschen bei der Argumentation im Vordergrund steht.

Eigentlich ist das Buch für eine Mutter mit einer kleinen Tochter genau so zu empfehlen, wie für einen Vater mit einem Sohn. Auch ein „alter weißer Mann“ wird sich von einer Feministin verstanden fühlen bzw. er wird endlich die Möglichkeit haben den Feminismus lieben zu lernen. Also ist dieses Werk uneingeschränkt und voller Begeisterung weiterzuempfehlen. Solche Bücher machen die Welt schöner. Und zwar für alle.

Große Sauerei alias Dexter-Style

Was verkauft sich noch gut in den Medien außer einer Verheißung von Sex? Ein Mord, Blutlachen, ein Serienmörder, am besten einer, von dem das nicht erwartet wird, der eigentlich normal wirkt. So normal, wie jeder von uns ist, damit wir uns leichter mit dem Serienmörder identifizieren können. Hoffentlich erschrecken wir uns irgendwann über sich selbst. Oder wir lachen. Im Buch „My Sister, the Serial Killer“ (dt. „Meine Schwester, die Serienmörderin“) von Oyinkan Braithwaite gibt es, wie der Titel andeutet, einen leichten Perspektivenwechsel. Die Serienmörderin ist die jüngere Schwester der Hauptfigur. Und als ältere muss sie die Sauerei jedes Mal hinter ihr wegräumen. Klingt im ersten Moment nicht sehr spannend, ist aber für Liebhaber*innen des schwarzen Humors bereits an dieser Stelle ziemlich unterhaltsam und für angehende Hobby-Serienkiller eventuell sehr informativ.

Das Buch wird zwar auch als Krimi deklariert, der Mörder und der Tatablauf sind aber von vornherein bekannt. Die Spannung verlagert sich viel mehr auf die Beseitigung der Spuren. Beim Lesen wird man/frau sehr schnell zum Mitwisser und Mittäter, denn die Sympathie und das Verständnis für die Situation der älteren Schwester stellt sich innerhalb der ersten Minuten ein. Und die rasante Fahrt nimmt ihren Lauf. Mit der Zeit flacht die Erzählung nicht ab, geht in die Tiefe, entwickelt weitere Aspekte und Wege.

Wenn das Buch nicht so ironisch und witzig wäre oder vielleicht genau deswegen, könnte man/frau dieses Werk nach Paragraph 131 des Strafgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland zur Verantwortung ziehen, da Gewaltdarstellungen, Gewaltverherrlichung und Gewaltverharmlosung im Überfluss zu finden sind. Besondere Schwere käme hinzu, da die Taten sexistisch motiviert sind. Im Roman werden ausschließlich Männer umgebracht und zwar von einer Frau. Der feministische Drang nach einem Ausgleich im Sinne einer Rache für die Jahrhunderte, gar Jahrtausende, der Unterdrückung finden in diesem Roman ihr Ventil.

Die Beziehung der beiden Frauen wurde ebenfalls gut ausgearbeitet, ist sehr glaubwürdig und spannend, obwohl die Konstellation zu den Klassikern gehört: Eine jüngere schönere Schwester, die furchtbar egoistisch ist, ohne großartige Selbstkontrolle, aber schön und beliebt bei den Männern, lässt der älteren Schwester auch keine Chance auf ihr privates Glück.

Insgesamt ist der Roman tatsächlich witzig und humorvoll. Originalität ist durch den Perspektivenwechsel gegeben. Auch wenn die Idee an die Serie „Dexter“ (2006-2013) oder an den Film „Serial Mom“ aus dem Jahr 1994 erinnert. Ein leichter Lesestoff, der vermutlich auch bei Männern gut ankommt, wenn sie ihre Männlichkeit nicht allzu ernst nehmen.

Jedermanns Feminismus. Ein Albtraum.

JJ Bola, ein kongolesischer Autor aus Kinshasa, der bereits als Kind nach London immigrierte und da in einem sozialen Brennpunkt aufgewachsen ist, könnte einigen Lesern bereits bekannt sein. Seine aktive politische Haltung war bereits in seinen Lyrikbänden zu spüren. So kam es im Jahr 2019 dazu, dass er ein Buch herausgebracht, welches oft unter anderem als Sachbuch bezeichnet wird.

„Mask Off: Masculinity Redefined“ ist der Titel des Buchs. Die deutsche Ausgabe bekam einen ziemlich provokativeren Titel „Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist“. Das Buch beschäftigt sich mit der aktuellen Vorstellung über Männlichkeit und versucht diese aufklärerisch zu transformieren und als neue Männlichkeit den Männern beizubringen, wie sie zu Männern 2.0 werden können oder auch müssen.

Die Sprache des Buchs ist klar und verständlich für jedermann. Und damit es auch wirklich jeder versteht und den Inhalt und den Autor vollständig aufnimmt, werden Tupac Shakur und andere Gangster-Rapper als Repräsentanten der männlichen Gesellschaft gleich zu Anfang des Buches gerne zitiert. Auch sein Lieblingsbegriff „Real Man“, der kaum in seinen Lyrikwerken zu übersehen ist, taucht hier wieder auf.

Im Gegensatz dazu theoretisiert JJ Bola auch gerne über Patriarchat, gesellschaftliche Zwänge, Feminismus und noch vieles mehr. Eine Flut an Floskeln und abgenutzten Slogans wird als eine angeblich solide Argumentation aufgeführt. Dabei wäre es fair die Autoren der zitierten Gedanken zu erwähnen und nicht als eigene darzustellen.

Die Prämissen des Autors entlarven seine fehlende Bereitschaft über den Tellerrand zu schauen, und das eigene stereotype Denken überhaupt erkennen zu wollen. Nach seiner Auffassung sind alle Männer gleich, obwohl er mit den Beispielen und Statistiken nicht weiter als nach Großbritannien, Kongo oder zu den Gangster-Rappern aus dem USA geht. Der Rest der Welt existiert für ihn nicht. Die Beispiele der Kommunikation und Interaktion zwischen den Männern entsprechen auch bei weitem nicht den beobachteten Normen der Gesellschaft des 21. Jahrhundert. Es wird immer wieder über „den Mann“ gesprochen und auf „die Männlichkeit“ verwiesen, als ob das etwas festes und eindeutiges wäre. Dabei sagt er selbst, dass es viele Speilarten von Männlichkeit gibt und diese einem ständigen Wandel unterliegen. Logisch ist das nicht. Wissenschaftlich auch nicht. Außerdem teilt JJ Bola die Menschen klar in zwei Lager Männer und Frauen. Alles andere wäre zu kompliziert.

Trotz der Meinung einiger Buchläden und großer Online-Shops, gehört dieses Buch nicht wirklich zu der Kategorie „Politikwissenschaft“ oder „Sachbuch“. Viel mehr sind das emotionale Prosagedichte über das ewige Thema von „Real Man“. Der Wille des Autors sich für ein wichtiges Thema zu engagieren scheiterte an dem schwachen Verständnis der Problematik und der wissenschaftlichen Herangehensweise.

Das Buch ist auf jeden Fall für „echte“ Männer zu empfehlen. Nur diese können einen Nutzen aus dem Buch bekommen.

Ein Gesicht des Elends und der Korruption

Es gibt Begriffe, die vermutlich fast überall in der Welt und fast in jedem Jahrhundert, auch vor Christi Geburt, auf gleiche Weise verstanden und wahrgenommen wurden. Dabei geht es in diesem Falle nicht um die gehobenen Begriffe, wie Liebe oder Stolz, sondern um menschlich viel näher liegende Phänomene, hoffnungsloses Elend, korrupte Beamte, gierige Staatsoberhäupter und sehr ehrgeizige, aber trostlos unfähige Männer. Und das sind die Hauptakteure der Kurzgeschichten von Petina Gappah, die in einem Buch mit dem Titel „An Elegy for Easterly“ zusammengefasst wurden. Die deutsche Version „Im Herzen des Goldenen Dreiecks“ wurde im Sommer 2020 veröffentlicht.

Da die Autorin ihre Jugend in Simbabwe verbracht hat und auch Rechtswissenschaft an der University of Zimbabwe studiert hat, ist es keine große Überraschung, dass sie ihre Kurzgeschichten in Simbabwe spielen lässt. Das Themenfeld erstreckt sich ebenfalls in der zu erwartenden Form eines politischen Romans.

Der tatsächliche Wert des Buches entsteht viel mehr im Schmerz, welcher den Charakteren der Geschichten angetan wird. Oft wird dieses Leiden der Leserschaft sarkastisch und mit viel Zynismus schmackhaft gemacht. Das ist zum Teil ein direktes schonungsloses Auslachen. Ein Auslachen der schwachen und unter diesen Schwächen leidenden Charaktere. Der andere Teil der Geschichten geht mit den schweren Schicksalen der Menschen sehr einfühlsam um, so dass die letzten Zeilen Gänsehaut erzeugen und dem Leser eine Pause abverlangen, damit die beschriebene düstere Welt ihn wieder verlässt. In dieser Abwechslung zwischen Sarkasmus und Mitgefühl entsteht eine zyklische emotionale Dynamik, ein Perpetuum mobile, das bis zum Schluss des Buches die Spannung hält.

Ein wichtiges Merkmal des Buches ist eine gewisse Männerfeindlichkeit, klarer Sexismus. Männer werden mehr in negativen Rollen dargestellt: entweder als heuchlerische, gefühllose Aggressoren oder unfähige, infantile, dumme Möchtegern-Geschäftsmänner. Dagegen besetzen Frauen viel mehr die Rollen der Leidtragenden oder der Weisen bzw. Besserwisserischen im positiven Sinne. Das wäre ein starker Kritikpunkt, wenn das nicht eine Form des ausgleichenden Sexismus wäre, die das überschätzte Selbstbewusstsein vieler Männer auf ein realistisches Niveau herunterstürzen soll.

Die politische Botschaft, die Kritik an der Korruption im Staatswesen von Simbabwe und die schwierige Situation der Bevölkerung, hält sich in Grenzen, wie bei den meisten Büchern diese Genres: scharfe Kritik der Staatsmacht, Verlangen nach Demokratisierung, Gleichberechtigung, Stärkung der Zivilgesellschaft und eine Teilschuldzuweisung an die Bevölkerung des Landes, an ihre Passivität.

Das Buch ist unterhaltsam in der Sprache, in den Formulierungen, in den erzählten Situationen. Die Leserschaft wird schnell begreifen, worum es in den Geschichten geht, kann den Humor gut nachvollziehen und, dass es sich um bekannte Phänomene handelt, die kaum simbabwe-spezifisch sind. Neue politische Ideen sollte man/frau aber von dem Buch nicht erwarten.

I had a dream – zwischen Traum und Traum

Irgendwann träumt jeder Mensch. Das passiert mal im Schlaf oder am Tage. Woher kommen unsere Träume? Wer macht sie? Entscheiden wir denn selbst, was unser Traum diese Nacht sein wird? Wer entscheidet, was unser Lebenstraum wird? (Ist alles nicht so einfach.)

José Eduardo Agualusa gibt in seinem zeitgenössischen Roman „Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer“ auch nicht alle Antworten auf diese tiefgründigen Fragen. Was er seiner Leserschaft gibt, ist eine Kulisse am Anfang des 21. Jahrhundert in Angola, das nach mehreren blutige Bürgerkriegen immer noch undemokratisch regiert wird, das Porträt eines einheimischen Journalisten, der gerade frisch geschieden ist, und die Beobachtung seltsamer Phänomene, die von vielen Menschen im Schlaf erfahren wurden.

Der Roman liest sich ziemlich entspannt. Der Leser bleibt im Fluss, wird nicht von komplexen logischen Rätsel außerhalb des Geschriebenen unterbrochen oder irregeführt. Vielleicht sollte man angesichts der recht komplexen Figurenkonstellation ein paar Namen der Hauptakteure notieren, um den Zusammenhang bei den Szenenwechseln oder längerem Ausbleiben einer Figur schneller wieder hervorrufen zu können. Der Autor lässt einen auch nicht alleine ratlos im Dunkeln stehen, wenn es um mysteriöse Phänomene geht oder um die historischen Ereignisse in Angola, die nicht so bekannt sind. Zusätzlich befinden sich im Buch zahlreiche Hintergrundinformationen, wenn die eine oder der andere es noch genauer etwas wissen möchte. Auf diese Informationen kann, muss man aber für eine gewinnbringende Lektüre nicht zugreifen. Der Spannungsbogen wird gut gehalten und zwingt immer weiter zu lesen bis zu der großen Auflösung am Ende des Buches.

Die persönliche Ebene der Scheidung des Protagonisten Daniel Bachimol und seines Verhältnisses zur Ex-Frau sowie zu der erwachsenen Tochter, bleibt die meiste Zeit im Hintergrund und belastet den Leser nicht unnötig. Viel mehr konzentriert sich der Autor auf de geschichtlich-politischen Kontext und vermischt das mit Phantastischem an der Grenze zwischen Mystery und Science-Fiction. Dazu kommen einige interessante philosophische Dialoge, die wie der ganze Text mit gelungener Ironie und Sarkasmus durchdrungen sind. Im Laufe des Buches vermischen sich die Ebenen und so wird das Persönliche und Mysteriöse immer mehr politisch.

Die wichtigsten Werte, die der Autor vermittelt, sind die Freiheit des Menschen, der notwendige Widerstand gegen eigene Ängste, ein Glaube an die neue junge Generation, die eine bessere Zukunft für das Land schaffen kann.

Der Roman von Agualusa ist grundsätzlich für das breite Publikum empfehlenswert. Eine zusätzliche Anerkennung wird er bestimmt von politisch interessierten Lesern erhalten, sowie diejenigen, die gerne mehr über das postkoloniale Afrika im Allgemeinen und Angola im Besonderen erfahren möchten.

Eine Pflichtlektüre

Es gibt keine afrikanische Literatur, es gibt keine europäische Literatur, keine amerikanische oder asiatische. Es gibt nur schlechte Literatur oder gute Literatur, schwache Literatur oder starke, langweilige oder atemberaubende, wie den Roman von David Diop Nachts ist unser Blut schwarz.

Zurecht genießt der Autor mit senegalesischen Wurzeln die begeisterten Stimmen zu seinem Roman. Zurecht darf er französischsprachige afrikanische Literatur an der Universität Pau unterrichten. Er weiß, er hat verstanden, wie die Literatur sein sollte.

„Ich habe nur entfernt, was nicht dazu gehörte.“
– Michelangelo

Was entfernte denn David Diop aus seinem Roman? Die langweilige Einleitung mit der zögernden Beschreibung der Figuren, der Landschaften, des historischen Kontextes. Es geht gleich mit voller Wucht rein ins Geschehen, rein in die kreisenden und doch klaren Gedanken des Protagonisten. Es geht um den Krieg, es geht um einen Soldaten im Krieg, der soeben seinen besten Freund verloren hat und darum dass er sich Vorwürfe macht, dass er das Leiden des schwer verwundeten Freundes nicht verkürzen konnte.

Man findet in dem Roman keine kitschige Konstellationen, keine vorhersehbaren Entwicklungen. Es ist eine Spannung in den Buchstaben, die den Leser dazu zwingt die Kontrolle aufzugeben und sich einfach von dem Gedankenstrom des Hauptcharakters mitreißen zu lassen. Von einem Gedankenstrom, der die Hauptfigur zu merkwürdigen Taten verleitet, aber auch zu pragmatisch hochpräzisen Feststellungen.

Trotz des vermeintlichen Siegels der „afrikanischen Literatur“ schafft Diop tatsächlich den typischen und floskelartigen anti-rassistischen Zeigefinger komplett zu ersparen. Auch die afrikanische Kulissen sind so harmonisch und natürlich eingewebt, dass der europäische Leser kaum das Gefühl bekommt, dass es sich dabei um etwas Fremdes und Exotisches handeln könnte. Das Nachvollziehen der Umstände und Geschehnisse aus der Kindheit und Jugend des Soldaten fällt einem ziemlich leicht dank der universalen humanistischen Sprache, wo es einfach um die Menschen geht mit all seinen Freuden, Ängsten, Träume und Wunden.

Die sozialkritische Funktion des Romans bzw. sein Beitrag zu der äußeren und inneren Befreiung des Menschen als Individuum lässt das Werk als klar humanistisch und aufklärerisch Bezeichnen.

„Nachts ist unser Blut schwarz“ kann jedem empfohlen werden. Es ist nicht nur ein Vergnügen an originellen Formen und Gedanken, sondern auch ein guter moralischer Uhrenabgleich, der vielleicht ein Teil des Schulprogramms werden sollte.

Ein unterschwelliger Angriff auf die Normen der Gesellschaft

Der Sammelband She Called Me Woman ist einer der Fälle, in denen die Einleitung die tragende Rolle des Werkes übernimmt. Man denke an die moderne Kunst, bei der das einfache Betrachten des Objektes nicht unbedingt zur vollen Verinnerlichung der Künstlerbotschaft führt. Es ist wichtig den „Begleitzettel“ aufmerksam zu lesen.

She Called Me Woman ist das Ergebnis einer umfangreichen Arbeit, die quasi an eine sozialwissenschaftliche Studie grenzt. Es wurden zahlreichen Interviews mit Queer-Frauen aus und in Nigeria geführt, die zwischen 20 und 42 Jahre alt waren. Zwanzig von diesen Interviews wurden in den Sammelband aufgenommen. Die Aufbereitung des Materials wurde minimal gehalten, um Authentizität zu bewahren. Die Erzählungen wurden anonymisiert.

Es ist ein politisch motiviertes Werk. Es geht darum die Situation der Queer-Communities in Afrika am Beispiel Nigeria‘s durch die autobiographischen Geschichten zu vermitteln und den queeren Menschen eine moralische Unterstützung zu geben. In einigen Erzählungen handelt sich auch um Auswanderer in die westliche Welt, bzw. deren Kinder, die sich aber trotzdem dem Einfluss der kulturellen Wurzeln nicht vollkommen entziehen können, wie in dem Beitrag „Focusing On Joy“ einer US-Amerikanerin mit nigerianischen Wurzeln. Diese Betrachtungsperspektiven bieten die Möglichkeit eines zusätzlichen Vergleichs der Situation in unterschiedlichen geographischen und vor allen sozial-politischen Strukturen.

Einzelne Kurzgeschichten sind als autobiographische Monologe aufgebaut und meistens chronologisch, ähnlich der Antwort auf die Frage „Wie war dein Leben bis jetzt als Queer? Erzähl mal!“. Es ist eine Erzählung unter Freunden, entspannt, ohne Hektik, ohne einen aufgebauten Spannungsbogen, so trivial und banal, wie das Leben manchmal ist, aber auch mit ergreifenden Momenten, die manchmal distanziert und ohne Dramatisierung erzählt werden und trotzdem, oder vielleicht deswegen, zur Gänsehaut beim Leser führen. Einige Frauen werden emotionaler, drücken ihre Empörung, Angst oder Traurigkeit offen aus und anscheinend schaffen die Interviewenden es diese Emotionalität zu Papier zu bringen zu können.

Inhaltlich hält sich das Thema „Queerness“ in Grenzen und wird nicht zum Selbstziel der Geschichten. Die Beziehungsdramen oder Kindheitserinnerungen sind trotz spezifischer Aspekte meist nicht von Lebenssituationen Heterosexueller zu unterscheiden. Das ist vermutlich einer der „Geheimwaffen“ des Sammelbands – ein Schleichangriff auf die Normen der Gesellschaft. Die Queer-Frauen werden der Gesellschaft nicht entgegen gesetzt, nicht marginalisiert, sondern als Teil der „normalen“ Gesellschaft dargestellt. Genau darauf beruht die Empörung der Queer-Community, wenn deren Mitglieder als Außenseiter, als Werk Satans oder als psychisch krank bezeichnet werden, obwohl die sexuellen Vorlieben einiger „Heteros“ deutlich weiter in ihrer Abweichung von den Normen gehen.

Die deklarierten Ziele des Sammelbandes scheinen erreichbar zu sein. Das Zielpublikum aus der Queer-Community wird sein Gefallen am Buch finden und eine moralische Unterstützung in schwierigen Zeiten oder Regionen finden. Andere Leser, die nicht in der Materie stecken, erfahren nicht zu viel Neues. Vielmehr ist das eine quasi dokumentarische Bestätigung, dass die Welt nicht untergehen wird, wenn ein paar Gay-Paraden mehr stattfinden oder wenn das eigene Kind sich als queer entpuppt.

Rezension zu ausgewählten Kurzgeschichten aus Lagos Noir und vielleicht ein wenig mehr.

In den ausgewählten Kurzgeschichten geht es inhaltlich um Großstadtanekdoten. Das Genre wird bereits im Titel mit „Noir“ deklariert und die geographische Einordnung „Lagos“ entspricht dem tatsächlichen Setting der Erzählungen. Der Sammelband an sich ist zwar nicht direkt als eine Sammlung von Krimi-Geschichten gekennzeichnet, erweckt aber diesen Eindruck durch den Inhalt und die Figuren in einzelnen Werken. Es geht meistens um Polizisten, Detektive, Verbrecher und Verbrechen. Besonders oft um Mord. Jede Geschichte hat einen anderen Autor. Dadurch verstärkt sich die Vielfalt der Charaktere noch mehr. So geht es um ehrliche und um korrupte Polizisten, um nette und um eiskalte Verbrecher. Die verschwommene Grenzen zwischen Gut und Böse sind auch ein Teil des Noir-Genre per Definition.

Die Sprache und die Beschreibungen sind zugänglich für jedes Publikum. Der Leser kann leicht und schnell in die aufgebaute Atmosphäre eintauchen. Es muss auch nicht viel im Hintergrund überlegt werden, um der Geschichte folgen zu können. Nur am Ende jeder Erzählung wird man nachdenklich und sollte die Zeit des Nachgeschmacks genießen.

Literarisch gesehen ist die Qualität zwar variabel, aber in einem akzeptablen Bereich. Die Autoren sind talentiert und beherrschen ihr Handwerk. Die Originalität des Plots und der Charaktere ist nicht unbedingt auf dem höchsten Niveau. Wie soll man auch etwas Neues in einem Genre des „Roman noir“ schaffen, das bereits seit 80 Jahren von zahlreichen Autoren weltweit abgearbeitet wurde? Mit einem korrupten Polizisten oder einem postmortalen Coming-Out des Opfers wird man im 21. Jahrhundert kaum jemanden überraschen können. Auch der Anspruch im Sinne von Postkolonialismus sozialkritisch zu wirken wurde um mehr als 50 Jahre verpasst.

Nehmen wir auch mal die Geschichte „Killer Ape“ von Chris Albani, die originellste Idee, dass ein Affe einen Mann umgebracht hätte und zwar auf eine Weise, die nur einem Menschen zumutbar wäre. Im Jahr 2005, also 13 Jahre früher, wurde eine Episode „Mr. Monk and the Panic Room“ der TV-Krimi-Serie „Monk“ ausgestrahlt, in der ein Affe mit einem Revolver einen Mann angeblich erschossen hätte. Vor ein paar Tagen lief mal diese Episode auch bei ZDF-Neo wieder.

Der Titel „Lagos Noir“ weist darauf hin, dass die Geschichten in dem Band solche sind, die in Lagos passiert sein könnten. Es stellt sich die Frage ob, wenn man nur wenige Attribute wie geographische Bezeichnungen, Namen der Figuren und einige wenige Praktiken austauschen würde, dies nicht genauso Geschichten sein könnten, die in Nairobi, Tel Aviv, Moskau oder Boston passiert sein könnten? Was in den Erzählungen fehlt ist ein tatsächlicher lokaler Bezug. Nur dann könnte man nach dem Lesen sagen, dass man die Metropole Lagos ein wenig mehr kennengelernt hat.

Wem könnte dieser Sammelband und die komplette dazugehörige Noir-Serie aus dem Verlagshaus Akashik gefallen? Jeder der Bände fokussiert sich auf eine andere globale Großstadt. Zielgruppe könnten in erster Linie Touristen sein, die durch die Lektüre ein Stück der lokalen Atmosphäre mitnehmen könnten, in einer Kurzgeschichte mal den bekannten Namen der Straße oder des Bezirks wiedererkennen und einen Aha-Effekt „Hey! Da sind wir doch vorbei gegangen!“ haben. Echte Fans könnten sogar die ganze Serie der Sammelbände abarbeiten und systematisch jeden erwähnten Ort in jeder Kurzgeschichte besuchen. Die zweite Zielgruppe wäre jung und in Noir sowie in Krimi Genre unerfahren. Für sie wäre das Ganze sehr lesenswert, neu und überraschend. Die dritte Gruppe der Leser, vielleicht die größte, wären einfach Menschen, die gerne gute Geschichten lesen. Sie wollen einfach der reellen Welt für ein paar U-Bahn-Stationen entfliehen und ein Detektiv oder ein Gangster im weiten Lagos werden.

Schmerzvolle Hoffnung

„It’s un-Nigerian.“

(S.1, Introduction)

Mit diesen Worten führt der biografische Band She Called me Woman (hg. von Azeenarh Mohammed, Chitra Nagarajan und Rafeeat Aliyu) Leser*innen in die Lebenswelten queerer Frauen* in Nigeria ein. Frauen* im Alter von 20-42 Jahren, deren Namen nur als Initialen und Herkunftsorte oder nur als freies Feld in ihren* Geschichten erscheinen. Ein weiteres Detail, welches auch nach der starken und berührenden, jedoch nicht verharmlosenden Einleitung, deutlich macht, wie wenig frei und sicher die Leben von queeren Frauen* in Nigeria sind. Die Berichtenden* kommen aus verschiedenen Regionen des Landes und haben nicht selten für ihre* eigene Freiheit Orte verlassen müssen. Zum einen aufgrund von religiösen und kulturellen Einstellungen in Gesellschaft und Familie, wie aus OFs Geschichte hervorgeht “I also do not believe God is going to smite me for loving.“(S.56, Love is not Wrong). Zum anderen aufgrund politischer und rechtlicher Strukturen. In den verschiedenen Teilen Nigerias herrschen unterschiedliche Gesetze und Strafen für Homosexualität, diese reichen von mehreren Jahren Haft bis hin zum Steinigen durch die Scharia. Viele Frauen berichten von Angst vor Strafen und, dass dies Grund für ihr verstecktes Leben sei oder auch die Flucht. Im Kontrast wird trotz allem viel von der Unterstützung durch Freund*innen gesprochen, sowie das Aufbauen eines Sicherheitsnetzes, sei es in der LGBTQ+-Gemeinschaft oder in Form eines selbst gewählten Kreises.

Das Heranwachsen als junge queere Frau*, in Nigeria, ist geprägt von der langsamen Erkenntnis nicht anerkannt zu sein. Darüber hinaus davon, sehr früh ein Bewusstsein für politische und gesellschaftliche Strukturen zu entwickeln, um ein selbstbestimmtes und so weit wie möglich freies Leben führen zu können.

Hinweise wie „Content Note: Intercommunal Violence, Physical Violence“, in TQs Bericht (S.39, I Pray That Everyone Has Forgotten), machen sehr bewusst auf die Tragweite von den bereits genannten Strukturen aufmerksam. So sind die Frauen* nicht nur von gesellschaftlichem Ausschluss und Strafen bedroht, sondern auch in allen Lebensbereichen von Gewalt. I Pray That Everyone Has Forgotten erzählt, so wie viele andere Texte auch, aus einer sehr privaten Perspektive. Teilt Erfahrungen von Verlust, einem zwiegespaltenen Herzen, Hoffnungen und Träumen für eine Zukunft in Nigeria, wie auch Zeugnisse des Muts und der Kraft, sich nicht brechen zu lassen.

She Called Me Woman sind die kostbaren und mutmachenden, wie auch schonungslosen Worte von Überlebenskünstler*innen, welche kein Mitleid fordern, sondern ihr* Recht zu sein. Dieser Band ist bildend, politisch und aktuell. Gemacht für jede Person, jedes Alter und jeden Wissenstand. Das Buch erwartet nicht, dass sich Leser*innen schon informiert haben. Es bietet mit seiner Einführung und Sammlung eine erste Grundlage, Denkanstöße und Raum sich auf die vielfältigen Themen des Bandes einzulassen. Wer gewillt ist, kann durch dieses Werk den eigenen Horizont bereichern, sei es zu Nigeria oder queerem Erleben. Da jede Person ihre Geschichte in einem eigenem, für einen Lebensweg, fast viel zu kurzem Kapitel erzählt, ist dieser Band auch die perfekte Lektüre für jede Gelegenheit. Ob für unterwegs oder ein Paar Seiten auf der Couch. Nach Lesen der Einleitung können Kapitel auch bei wenig Zeit unabhängig voneinander gelesen werden.

Abschließend kann gesagt werden, dass die Erzählerinnen* trotz der schweren Erfahrungen optimistisch und unerschrocken in die Zukunft blicken. Sie teilen mit der Welt ihre schmerzvolle Hoffnung auf ein freies und gleichberechtigtes Leben und Lieben.

Kaufen Sie, Kaufen Sie sich eine neue Identität!

Eh ich begriff, dass dieser Roman, eines der früheren Bücher von Agualusa und das zweite, was ins Deutsche übersetzt wurde, aus der Perspektive eines Tiers geschrieben ist, blätterte ich ein paar Mal; dabei verrät doch der deutsche Titel „Das Lachen des Geckos“, worauf sich die Leserschaft hier möglicher Weise einlässt. José Eduardo Agualusa entführt seine Leser*innen immer wieder in fantastische Welten. In seinem 2004 entworfenen „Theater“, mit dem Titel „O Vendedor de Passados“ über einen adoptierten Mann mittleren Alters mit Albinismus, der mit Identitäten handelt, sitzt der benannte Erzähler an der Decke und beobachtet, was Felix Ventura so treibt und wer bei ihm ein- und ausgeht.

Eines Tages kommt ein Interessent unangemeldet mit einer scheinbar hohen Geldsumme und fordert Ventura heraus. Ventura wägt ab und entscheidet sich den Auftrag anzunehmen: Die „Geburtsstunde“ José Buchmanns. „„Das hier“, verkündet der Albino, „ist Cornélio Buchmann, Ihr Großvater.“ Auf einer anderen Fotografie umarmte sich an einem Flussufer und vor einem weiten, grenzenlosen Horizont ein Paar. […] „Meine Eltern?“ Der Albino nickte.“ Obwohl Ventura Herrn Buchmann einschärft: „Ich muss es wohl nicht extra erwähnen, […] setzen Sie niemals einen Fuß nach Chibia“, setzt sich der Kunde über die ungeschriebenen Gesetze Venturas hinweg und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Denn Chibia ist ein Ort, den es wirklich gibt, wo Buchmanns imaginierter Vater begraben liegt. Durch Buchmanns Neugier und die daraus resultierenden Nachforschungen gerät die Vergangenheit Buchmanns, die er durch die neue Identität hinter sich lassen wollte, ans Licht, wenn auch erst recht weit hinten im Roman.

In den bisher von mir gelesenen Romanen Agualusas spielt die Geschichte Angolas, die Politik der letzten Jahrzehnte, immer eine große Rolle. Die Charaktere sind oft verwickelt in die in sich verkeilten Fronten der Parteien in Form von Folterer, Geknechtetem, Ex-Agenten… Ob mit Vorwissen oder ohne, es bereitet mir Freude in diese Welt(en) abzutauchen, zumal Agualusa immer mehrere Perspektiven aufzeigt. Er verflicht auch in diesem Werk die Lebenswege der Persönlichkeiten auf umwerfende Art und Weise. Und es kommt zum Showdown, zum Mord, doch wer durch wessen Hand stirbt, dürfen Sie selbst nachlesen. Bis dahin dürfen Sie eintauchen in die Existenz eines Geckos, eines Antiquars, einer Gefolterten, eines Ministers und weiteren… Vielleicht teilen Sie ja mit dem Gecko, Felix Ventura, seinem Oberstufenlehrer Gaspar und mir die „Leidenschaft für alte Wörter“? Oder versinken in Träumen Eulálios und Felix‘? Vermischen sich Ihre Träume(reien) und Erlebnisse mit denen aus dem Buch? Das kann bei dieser Erzählweise schon mal passieren.

José Eduardo Agualusa weist ein beachtliches Repertoire an Werken vor, das mehrere Romane und Erzählungen, eine Novelle und sogar ein Kinderbuch umfasst. Leider ist nur ein eher kleiner Teil seines Œuvres ins Deutsch übersetzt worden, obwohl Agualusa inzwischen zu den Großen der zeitgenössischen lusophonen Literatur zählt. Die literarische Qualität lässt keine Wünsche offen, wenn Sie sich auf den etwas abgedrehten Stil Agualusas einlassen können und sich gern überraschen lassen. Wirklich großartige Literatur, wärmstens zu empfehlen.

Vergessene Stimmen

Selten wird Geschichte eindeutig aus der Sicht einer Frau erzählt, noch seltener wird und wurde dies festgehalten. Petina Gappah ändert genau dies in ihrem historisch-biografisch fiktiven Roman Out of Darkness, Shining Light, sie verleiht Halimah, einer Schwarzen Frau die Macht und Stimme David Livingstons letzte Reise, aus der Perspektive, der von ihm befreiten Sklavin und dann Köchin der Livingston begleitenden Karawane, zu erzählen. Aus der Perspektive einer Frau, die selbstbewusst ist und mit ihren Fragen aneckt. Gappah, eine preisgekrönte simbabwische Autorin und Juristin, schrieb ihren 2019 erschienen Roman über Livingstons letzte Expedition nach dem Ursprung des Nil, als sie Teil des Künstler*innenprogramm des DAAD in Berlin war. Mit ihrem Werk bietet sie der Welt einen neuen Blick auf eine europäisch geschriebene Geschichte. Denn was oft keine Aufmerksamkeit findet, ist, dass der schottische Dr. Livingston 1866-1872 auf der Suche des Nil-Ursprungs, sowie insbesondere kurz vor seinem Tod im Jahr 1873 nicht alleine reiste. Er wurde von einer 69 köpfigen Karawane, bestehend aus Menschen verschiedenster afrikanischer Länder, sicher über den afrikanischen Kontinent, geleitet. Die Autorin beschreibt Halimah als Jene mit dem Einfall, Dr. Livingston seine letzte Reise zurück in die Heimat zu ermöglichen. Vor dem Aufbruch soll die Leiche Livingstons für diese zu trocknen, um sie auf die neun Monate und 1500km vom heutigen Sambia zurück nach Bagamoyo an die Küste des heutigen Tansania vorzubereiten. Mit Out of Darkness, Shining Light, wird Geschichte neu erzählt und bekommt einen neuen Fokus, die Intention ist nicht etwa, die Absichten und Handlungen des weißen Forschenden zu hinterfragen oder zu kritisieren, sondern es soll denen, die ihm ihren letzten Dienst erwiesen Anerkennung gezollt werden und ihnen nach viel zu langer Zeit eine Stimme verliehen werden. Im Roman erfolgt dies durch die Perspektive von Halimah und Jacob Wainwright. Sie bekommen die Möglichkeit ihre eigene Geschichte erzählen zu können:

„(…) ,this was no longer just the last journey of the Doctor, but our journey too.” (S.233, Jacob Wainwright in Out of Darkness, Shining Light)

Jacob Wainwright ist ein zum Christentum konvertiertes Mitglied der Karawane, welches auch in der Realität eigene Schriften hinterlassen hatte und teilt seine Sicht im Buch in Form von selbstverfassten Tagebucheinträgen mit dem Lesepublikum. So erzählen, reflektieren und hinterfragen Halimah und Wainwright, aus ihrer von eigenen Werten beeinflussten Perspektive, die Ereignisse auf der Reise mit „Mwili wa Daudi“, dem Körper von David, wie Livingstons Leiche genannt wird. Halimah ermöglicht dabei einen Einblick in die Erlebniswelt und Position der Frauen in der Karawane, welche oft unterschätzt und immer an einen Mann gebunden wurden. Wainwright beurteilt aus der Perspektive eines Schwarzen zum Christentum konvertierten und im Auftrag des Glaubens handelnden Mannes.

Je länger die Reise fortschreitet, desto mehr hinterfragen und reflektieren die Mitglieder der Karawane ihr Vorhaben und den Mann, welchem sie die letzte Reise ermöglichen, wobei sie täglich ihr eigenes Leben riskieren:

„Was this worth all of this trouble, was he worth it? What were we doing, taking a father to his children, when he had let one of those children die.” (S. 107, Halima in Out of Darkness, Shining Light)

Die Charaktere durchlaufen ein konstantes Wachstum, was die immer wieder neuen Herausforderungen, denen sie begegnen nicht langweilig werden lässt. Es ist nie klar, wie solchen begegnet wird. Insbesondere, da im Roman gekonnt die Beziehungen, wie auch Konflikte zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gruppe geschildert werden. Ebenfalls werden bestehende unterschiedliche Bedürfnisse beschrieben, welche durch die verschiedenen Kulturen, Religionen, Bildung und Positionen der Individuen existieren. Verluste von Mitgliedern und zuletzt gezielte Morde innerhalb der Karawane halten das Interesse und die Spannung beim Lesen aufrecht.

Die Autorin bedient sich Worten und Sätzen, der Zeit der Handlung und vorherrschenden Sprachen der Gruppe, es befindet sich ein Glossar am Ende des Buches für überwiegend Arabisch und Swahili. Mit der klaren Unterscheidung zwischen gesprochener und Schrift-Sprache, welche abhängig von den Erzähler*innen sind. Auch humorvolle Sprache, originale Auszüge aus Schriften Livingstons, Wainwright, und Anderer bieten Abwechslung im Lesefluss und authentischen historischen Kontext. Die originalen Tagebucheinträge und Schriften könnten dann problematisch werden, wenn Leser*innen die Inhalte nicht reflektiert und mit Blick auf Sklavenhandel und späteren Kolonialismus, sowie Machtpositionen der Zeit betrachten. Die den Abschluss des Buches ausmachende Bibliographie, bietet jedoch eine zusätzliche Möglichkeit, sich über den Roman hinaus, mit den genutzten zitierten Quellen zu beschäftigen. Historischer Kontext wird darüber hinaus durch die Beobachtungen und Erzählungen der Charaktere geboten. Eine Karte Zentralafrikas, die Route Livingstons darstellend, bietet dem Leser einen visuellen Eindruck der Reise.

Doch ganz ohne eindeutigen kritischen Blick auf die Geschichte lässt Petina Gappah Out of Darkness, Shining light nicht enden. Chirongo ein unbeliebtes Mitglied der Karawane, dessen Motivationen sich bis zum Ende von niemandem richtig einschätzen lassen, zieht ein Fazit, welches bezeichnend für die Zukunft des Kontinents werden wird:

„…More of them will come mark my words. This Nile source that he wanted to find, that they all want to find. They will find it, and other river sources, and in the process, they will see that there are other things to be taken. And they will want us to worship their gods, like we have not our own.” (S.256, Out of Darkness, Shining Light)

Gappahs Werk ist für alle zu empfehlen, die die Geschichte des afrikanischen Kontinents aus einer anderen Erfahrungswelt heraus erleben wollen. Und die in den ersten Kapiteln die Ruhe haben, sich auf die stark von Beobachtungen geprägte Erzählung Halimahs einzulassen. Wenn dies geschehen ist, werden Leser*innen ihren Witz und ihre Direktheit im Laufe des Romans zu schätzen wissen.

Out of Darkness, Shining Light ist ein gelungener Roman, zeigt Allen, die dafür offen sind, die andere Seite der Geschichte und lädt sie dazu ein, zu hinterfragen welche Teile des uns Bekannten die Geschichtsbücher auslassen.

Die Zerrissenheit der Diaspora

“He did not get the same feeling of space or expansiveness here as he felt when he was back home.” (S.84 Magistrate in The Maestro, The Magistrate & The Mathematician)

Wenn das Heimatland verlassen werden muss, weil es für einen selber, oder die Familie keine Perspektive gibt und das Ausland mehr verspricht, wenn man sich gezwungen fühlt zu gehen, dann ist es schwierig die Nostalgie nach der Heimat aufzugeben und sich zu erlauben in der Fremde wirklich anzukommen. Tendai Huchu beschreibt in seinem Roman The Maestro, The Magistrate & The Mathematician genau diesen Zustand des Lebens dreier simbabwischer Männer Anfang der 2000er in Edinburgh, Schottland. Huchu selber ist Simbabwer, lebt und arbeitet als Autor und Podologe in eben dieser Stadt. Sein Werk beschreibt vielleicht genau aus diesem Grund sehr präzise die Situation in der die Simbabwer, der „Magistrate“, „Mathematician“ und „Maestro“ sich wieder finden. Noch nicht richtig in der neuen Heimat angekommen, obwohl sie schon einige Zeit in der schottischen Stadt leben, sind sie mit ihren Gedanken trotzdem immer noch in Simbabwe. Sei es, um zu vergessen und nicht zu erinnern, konstant die Nachrichten verfolgend, in der Hoffnung nach neuen hoffnungsbringenden Berichten für das eigene Land, oder auch eigene Investitionen im Heimatland im Auge behaltend. Die Charaktere wechseln sich in Form von Sektionen ab, aus ihrer Perspektive mit den Lesenden ihren Alltag, ihre Gedanken und Sorgen zu teilen. Dabei handelt es sich um die Sorgen von Menschen in der Diaspora, welche beunruhigt und in ständiger Anspannung auf Veränderungen in der sich stetig verschlimmernden Wirtschaftskrise und politischen Situation hoffen und eher nebenbei ein Leben im Ausland führen. Huchu bietet einen detaillierten Einblick in das alltägliche Leben seiner Charaktere, was ihre Situation umso greifbarer macht. Sie stellen sich selber durch Rückblenden in ihre Vergangenheit und innere Monologe vor. Zwischenmenschliche Beziehungen und die Verwobenheit der Leben der einzelnen, vorgestellten Individuen und ihrer Geschichten können Leser*innen immer wieder in Erstaunen versetzen. Denn auf den ersten Blick unterscheiden sich die drei Männer, an denen sich die Geschichte entlang entwickelt, nicht nur in den Generationen, sondern auch in ihrem Wesen und Erleben stark.

Der „Magistrate“ ist Familienvater und ehemals angesehene Persönlichkeit, welcher in Schottland erst arbeitslos und dann auf einer seiner Qualifikation nicht entsprechenden Stelle im Gesundheitswesen Arbeit findet. Er führt Lesende in simbabwische Musik und ihre Bedeutung ein, kann zunächst nicht von nostalgischen Erinnerungen an die Vergangenheit ablassen und wird vom neuen Leben in neuem Umfeld mit neuen Regeln, sowie seiner ebenfalls neuen gesellschaftlichen Position herausgefordert. Gleichzeitig versucht er sich auf das neue und andere Leben der jungen (simbabwischen) Generation, wie das seiner Tochter einzulassen.

Teil einer jüngeren Generation ist auch der „Mathematician“, seine Person scheint auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig, unreif und unreflektiert. Merkwürdige Witze gehören zu seiner Kommunikation und Hutchu baut in seine Sektionen unterschiedliche Schriftarten, Zahlen und Symbole ein, welche den vermuteten kindischen Geist noch hervorheben. Im Laufe des Romans stellt sich jedoch heraus, dass es sich um einen, wenn auch wirtschaftlich privilegiert aufgewachsenen, sehr reflektierten Charakter handelt. Seine gesellschaftskritischen Ansichten behält er jedoch in der Regel für sich.

Vom „Maestro“ lässt sich über viele Seiten sehr wenig erfahren. Sein Leben dreht sich um Bücher und es lässt sich ein stark depressiver Zustand der Person erahnen, in dessen Zügen er Menschen von sich stößt und in selbstgewählter Einsamkeit, den Sinn des Lebens hinterfragt. Dieser Zustand der anhaltenden Schwere und des ewigen Lesens und Analysierens kann für Leser*innen fast schon zu anstrengend werden. Daher sind die Perspektivwechsel eine Bereicherung für den Roman und ein starkes Beispiel für nebeneinander existierende Lebensrealitäten, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Verflechtungen zwischen den Leben der im Roman vorgestellten Figuren entstehen oft durch ihre Gemeinsamkeit als in der Diaspora und nach Halt suchende Simbabwer. Verbindungen in die Heimat, mit anderen Simbabwern oder auch politischer Aktivismus gegen Korruption und Politik zu Hause sind Halt gebenden Elemente.

Der Roman wird von Huchus humorvollem Schreibstil getragen. Wechsel zwischen den drei sehr intensiven und erzählenden Persönlichkeiten, wie auch die immer wieder aufkommenden Hinweise darauf, dass sich ihre Wege früher oder später kreuzen könnten, sorgen für ein stetig anhaltendes Interesse am Fortlauf der Handlung.

The Maestro, The Magistrate & The Mathematician ist ein vielseitiger Roman, der die Zerrissenheit derer beschreibt, die in die Diaspora gingen. Ebenfalls beschreibt er eine Zeit Simbabwes aus der Außensicht, die auf Grund der sich anhaltend verschlechternden Lage im Land als „Lost Decade“ gilt. Huchu hat eine Momentaufnahme geschaffen, der es sich lohnt seine Zeit zu schenken, sei es aus Interesse an simbabwischem Leben aus der Sicht der Diaspora, oder um einen Einblick in die Vielschichtigkeit seiner Charaktere zu bekommen. Ein empfehlenswerter Gesellschaftsroman, insbesondere für Menschen, die sich für Geschichten über innere Zerrissenheit und das Ankommen begeistern.

Von Guten und Schlechten Tagen

„Niru, my father shouts, please come back, talk to me. But there is nothing left to say.” (S.141, Speak No Evil)

Liebe und Wut. Stolz und Angst.

Diese Emotionen begleiten Niru und Meredith, ebenso wie die Überforderung mit diesen. Als Teenager müssen sie in einer Welt voller Intoleranz und Unverständnis, den eigenen Weg zu finden, dies macht Speak No Evil, zu mehr als nur Coming of Age Literatur. Autor und Arzt Uzodinma Iweala wurde bereits für seinen Debüt-Roman Beasts of No Nation mit vielen Preisen ausgezeichnet, dies setzte sich mit dem „Gold Nautilus Award for Fiction“ für Speak No Evil fort, sowie mehreren Auszeichnungen für eben dieses Werk. Iweala, welcher selbst mit nigerianischen Eltern in Washington D.C. aufwuchs und heute zwischen New York City und Lagos, Nigeria pendelt, lässt auch seinen Charakter Niru mit nigerianischen Eltern in der Diaspora, in Washington D.C. aufwachsen, ebenfalls geprägt durch regelmäßige Reisen nach Nigeria.

Niru und Meredith sind beste Freunde, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten, was umso mehr dadurch zur Geltung kommt, dass Teil 1 des Romans aus Nirus und Teil 2 aus Meredith Perspektive erzählt. Trotz ihrer Unterschiede teilen sie Themen, wie die schwierige Beziehung zu ihren Eltern, das Zurechtkommen in einer Welt die sie nicht zu verstehen scheint, die Kraft die sie sich gegenseitig geben und Liebe. Denn als sie kurz vor dem Abschluss der High School stehen, zeigt Meredith Niru, dass sie mehr von ihm will als Freundschaft, woraufhin er sich ihr gegenüber outet. Ein Coming of Age Roman, der durchaus der queeren Literatur zugeordnet werden kann. Einfühlsam, wie auch direkt, das Lesepublikum nicht schonend, lässt Iweala, Niru seine Welt teilen. Aufwachsend mit einem konservativen, der Kirche sehr zugewandten nigerianischen Vater, der das Überleben seiner Kinder in einer weißen Welt sichern will und gewaltvoll wird, als er von der Homosexualität seines Sohnes erfährt. Er besteht darauf, Niru einem Geistlichen in Nigeria anzuvertrauen. Von dort an führt der Autor schleichend, Schritt für Schritt mit gekonnten Verflechtungen aus Erinnerung und inneren Monologen des jungen Mannes, die Themen Depression, Männlichkeit, Glaube, Identität und Selbstliebe ein. Niru beginnt sich und sein Umfeld zu hinterfragen, während Familie und Kirche versuchen ihm zu sagen, welches der richtige Weg für ihn ist. „Maybe I have spent too much time in the United States soaking up ungodly values and satanic sentiments, as my father has said, and that has created a confusion only the motherland can cure. Or maybe I’m just me.” (S.57, Niru in Speak No Evil)

Die Suche nach sich selbst, in einer Lebensrealität, die das neu gefundene Selbst nicht annimmt. Das Treffen von Entscheidungen für oder gegen die selbstgewählte oder auferlegte Identität und Einsamkeit verfließend mit Beschreibungen von guten und schlechten Tagen, die es zu überstehen gilt, ohne die beste Freundin, denn Meredith und Niru zerstreiten sich. Der Autor gewährt beiden Charakteren Raum für Entwicklung und beleuchtet dabei, die Menschlichkeit im Unverständnis und dem Mangel von Empathie für das Gegenüber auf Grund eigener Probleme. Es gelingt ihm ebenfalls deutlich werden zu lassen, das solch ein Verhalten auch Konsequenzen nach sich zieht. Eine unaufhaltsame Kette von Ereignissen. Es wird plötzlich sehr deutlich, was zu Beginn vom Autor immer nur angedeutet wurde, jedoch auch offensichtlich sein könnte. Niru ist ein Schwarzer Mann in Amerika und lebt in einem System, in dem sein Leben nicht zählt, noch weniger seine persönliche Situation. Meredith ist eine weiße junge Frau, sie ist alleine aufgrund ihrer Hautfarbe privilegiert. Ein Ereignis folgt dem Nächsten und aus einer Coming of Age Story wird ein eindeutig politischer Roman, der im Laufe seiner Entwicklungen das System Rassismus und Schwarz-Sein in den USA thematisiert. Während gleichzeitig die Geschichte eines in der Diaspora aufwachsenden jungen Mannes weiter in den Hintergrund rutscht. Leser*innen werden überrascht und bekommen nicht was sie erwarten, dies macht den Roman umso lesenswerter. Er lässt das Publikum sich in der Sicherheit der, vermeintlich richtigen, Vorahnung für den Fortlauf der Geschichte wägen und überrumpelt schlussendlich. Denn es ist Meredith, die im zweiten Teil ihre weißen Privilegien und Nirus Geschichte reflektiert, der Autor lässt das Publikum die gesamte Intensität der Erkenntnis nachspüren, die einen Wendepunkt in Niru und Merediths Freundschaft geschaffen hat. Iweala macht mit seinen zwei unterschiedlichen Figuren und ihren sehr verschiedenen Perspektiven und Erfahrungen in der Welt, seine Geschichte für ein breites Publikum zugänglich. Meredith Part beschreibt ihre Sicht auf die Ereignisse, nachdem sechs Jahre vergangen sind. Dies gewährt Lesenden einen Einblick in ihre persönliche Entwicklung und die der anderen Charaktere, denen sie begegnet. Sie reflektiert die Geschehnisse mit einigen Jahren Abstand, denn Meredith ist von Washington D.C. nach New York gezogen, hat sich von ihrem Elternhaus gelöst.

Der Roman ist für jede Altersgruppe zu empfehlen, die Vielfältigkeit der Handlung und dynamischen Beziehungen der Charaktere kreieren ein ganz besonderes Leseerlebnis. Wobei dies nicht zwangsläufig bedeutet, als lesende Person glücklich mit der Handlung zu sein. Anzumerken ist zudem, dass die nicht eindeutig markierte wörtliche Rede den Einstieg in den Roman etwas erschweren mag, den Lesefluss unterbrechen könnte, jedoch lediglich eine Gewöhnungssache ist.

Überwältigend ist dieses Werk für seine 200 Seiten, da die Vielfalt der Themen, überfordern kann, wenn sich allerdings auf die Handlung eingelassen wird, ist es positiv überraschend und intensiv. Es könnte sogar passieren, dass sich Lesende doch noch ein paar Kapitel mehr wünschen.

Mit dem Ende von Speak No Evil bleibt das Lesepublikum mit der Frage zurück, ob die Kette an Ereignissen, welche die Lebenswelt der Charaktere für immer verändert, hätte aufgehalten werden können und wann der Moment dafür hätte gewesen sein können.

Verschüttete Erinnerung

„Something told me we were going to see father again, one day: if not in this life, then maybe in another.” (S.140, Running with Mother)

Das sind die hoffnungsvollen Gedanken von Rudo Jamela, einem 14 jährigen Schulmädchen, dass sich ohne es zu ahnen eines Tages in Mitten des Genozid in Simbabwe, nach einem Sprichwort; Gukurahundi (z.dt. „der frühe Regen spült die Spreu weg vor dem Frühlingsregen“) benannt, wiederfindet. Inmitten, nicht nur auf Grund der Tatsache, dass das Morden sie von einem Tag auf den Anderen umgibt, sondern auch aus dem schlichten Grund, dass ihr Vater als Ndebele zu den von der Regierung „Gejagten“ gehört und ihre Mutter als Shona Teil der Bevölkerungsgruppe ist, welche den Genozid antreibt, vollzieht und die Mehrheit im Land darstellt. Rudo (Shona) Jamela (Ndebele)- bereits auf der ersten Seite des fiktiv historischen Romans Running with Mother beginnt der preisgekrönte simbabwische Autor, Poet und Theaterautor Christopher Mlalazi sein Lesepublikum langsam und dann immer intensiver in die Strukturen des in den 1980er Jahren aufflammenden Genozids in Simbabwe einzuführen. Eine vom damaligen Präsidenten Robert Gabriel Mugabe eingesetzte Spezialeinheit der Regierung, mit dem Namen „Gukurahundi“, vollführte ein Massaker an der Bevölkerungsgruppe der Ndebele. Mugabe selbst, Teil der Mehrheitsbevölkerung der Shona, führte dies somit gezielt durch, um seine Macht zu sichern. Bis heute herrscht Schweigen über die Gräueltaten der 80er Jahre und es wird weder aufgeklärt, noch über das Morden gesprochen. Christopher Mlalazi, selber Ndebele, ist Zeitzeuge und schreibt somit nicht nur über die verschüttete Geschichte seines Landes, die 20.000 Menschen das Leben kostete, sondern auch über seine Eigene. Er klärt auf worüber nur wenige sich trauen aufzuklären. Sehr bewusst scheint er daher Rudo Jamela als Hauptfigur seines Romans gewählt zu haben, die ohne etwas dafür zu können zwischen beiden Seiten steht und gleichzeitig repräsentiert, dass sowohl Shona als auch Ndebele zu Simbabwe gehören. Rudo und Mlalazi führen Leser*innen langsam durch die Zeit des Beginns von Gukurahundi, es sind nur wenige beschriebene Tage dieser Zeit, in denen Angst, Unruhe, Trauer und Trauma Rudos Leben bestimmen. Es ist die Geschichte einer Überlebenden, deren Flucht, das (Weg-) Rennen mit ihrer Mutter, vor Gewalt und Willkür, der rote Faden des Romans ist. Obwohl ihre Mutter Shona ist, müssen sie fliehen, denn sie leben mit der Ndebele Familie von Rudo, um ihre Tochter und die letzten Überleben der Familie, ihre Tante und ihren Baby-Cousin zu retten, müssen sie „rennen“. Dabei lässt Mlalazi die Flüchtenden historische Ereignisse dieser Zeit beobachten und selber erleben. Das Anzünden von Häusern, in denen sich ganze Familien befinden, das Foltern von Gefangenen in Lagern, das Entstehen eines von vielen Massengräbern in einer still gelegten Miene, die Willkür und Brutalität der Soldaten. Trotz der vorherrschenden Gewalt im Roman, schafft der Autor es den Leser*innen, durch die anhaltende Hoffnung und Kraft der Charaktere, ein wenig die schwere der geschilderten Handlung zu nehmen. Mit Rückblenden zu vergangenen glücklicheren Tagen, ermöglicht er ein Durchatmen und Erholen, aber auch tieferes Verstehen der Charaktere, ihrer Geschichten und Beziehungen. Der gefangen genommene Vater Rudos ist trotz seiner physischen Abwesenheit präsent und Erinnerungen an seine Vergangenheit als Freiheitskämpfer während des Kriegs für die simbabwische Unabhängigkeit von der Apartheid, geben dem Publikum historischen Kontext und ein Verständnis für den Unglauben aller Figuren, dass die Gewalt zurückgekehrt ist. Viele Rückblenden sind unter anderem von Witz geprägt, geben die Möglichkeit für kurze Zeit aus der Intensität des, nur 140 Seiten langen, Romans auszubrechen, zu schmunzeln und bereit für den nächsten Teil der Flucht zu sein. Mlalazi schafft es einfühlsam und nicht wertend das Verdrängen von Trauma zu beschreiben, welches alle Figuren auf eigene Art und Weise durchleben „We quickly turned away without a word, as if explanations would increase the brutal reality.“ (S.79, Running with Mother)/„ I noticed that even though her eyes were on the body she spoke as if she hadn’t seen it.” (S.80, Running with Mother). Darüber hinaus wird im Roman ein Bild der simbabwischen Gesellschaft gezeichnet. Die primäre Nutzung von Shona in der Kommunikation, welche Rudo und ihrer Mutter letztendlich das Leben rettet und das nicht Übersetzen dieses im Buch, ist sinnbildlich für die Dominanz der Shona im Land zur geschilderten Zeit. Sowie ebenfalls bezeichnend für die Macht, welche eine vermeintliche Zugehörigkeit und das Beherrschen einer Sprache in gesellschaftlichen und politischen zusammenhängen haben kann. Deutlich wird in Running with Mother das Privileg (u.a. des Überlebens), welches Rudo und ihre Mutter im Gegensatz zu anderen haben. Konflikte auf Grund dieser Privilegien können auch in der Beziehung zwischen Rudos Mutter und ihrer Tante gesehen werden. Diese Konflikte sind bis heute Teil der simbabwischen Gesellschaft, bei welchen das Nicht-Anerkennen der Verbrechen von Gukurahundi, als solche, bis in die heutige Zeit eine zentrale Rolle spielt. Trotz der genannten Spannungen schafft der Autor es, es dem Publikum schwer zu machen, eine klare Ablehnung Rudos Mutter gegenüber zu entwickeln. Gekonnt gelingt es ihm zwischen der starken Trennung der Menschen in Shona oder Ndebele, Figuren als Individuen zu zeigen, wie sie leiden, leben und lieben. Insbesondere die Liebe der Mutter zu ihrer Ndebele Familie, lässt die Sympathie für sie mit der fortschreitenden Handlung wachsen. Es wird zudem nicht außer Acht gelassen zu untermalen, dass für die Mutter am Ende das Überleben ihrer Tochter und mit dem Finden von Rudos Baby Cousin, das Überleben ihrer Kinder am Meisten zählt. Das Buch beschränkt sich nicht nur auf eine Perspektive sondern öffnete dem Publikum die Augen für die Vielfalt von Lebenswelten inmitten unberechenbarer Gewalt und Ungerechtigkeit. Es schafft Raum zu verstehen, dass es sich um ein politisch durchgeführtes Morden handelte und dafür nicht alle Individuen einer Bevölkerungsgruppe verantwortlich gemacht werden können.

Christopher Mlalazi hat mit seinem Roman einen wertvollen politischen und historischen Beitrag in der Welt der afrikanischen Literatur, insbesondere der simbabwischen Literatur und Geschichte geschaffen. Das Buch ist die Stimme einer Nation, einer Bevölkerungsgruppe und eines Zeitzeugen für alle Zeitzeugen und nachfolgenden Generationen. In seinem Schmerz schafft es das Werk das verschüttete Trauma eines Landes zu befreien und gibt all denen Kraft, die bis heute nicht wagen darüber zu sprechen.

So wie es bei den Charakteren im Buch zu sehen ist, zeigt Mlalazi, dass aus Schmerz heraus Wachstum möglich ist. Hoffnung ist dabei das zentralste Gefühl, das der Roman vermittelt, denn obwohl er keine Lösung und kein „Happy End“ bietet, blickt die 14 Jährige Rudo mit der Hoffnung in die Zukunft, wenn nicht in diesem Leben, ihren Vater in einem anderen wieder zu sehen.

Dieser dynamische, leise, abwartende und realistische Roman, macht das Vergessen schwer. Leser*innen sollten sich dessen bewusst sein, wenn sie sich für ihn entscheiden. Jene, die die Beschreibung von gnadenloser Gewalt und tiefem Trauma zwischen den Zeilen nicht aushalten können, sollten das Buch jedoch besser gar nicht, oder nur Stück für Stück und nicht in einem lesen. Sich Abstand erlauben. Insbesondere, wenn Sie als Leser*in einen persönlichen Bezug haben sollten, kann dieses Werk eine emotionale und historische Herausforderung für sie darstellen. Diejenigen, die allerdings nach Spannung oder der Vervollständigung ihres Wissens der simbabwischen Geschichte suchen, dürfen dieses Buch nicht missen. Da ein weiterer besonderer Aspekt ist, dass es von einem als Ndebele sozialisierten Zeitzeugen geschrieben wurde und somit Geschichte aus der Sicht eines Betroffenen erzählt.

Starke Frauen* und mutige Worte

Außergewöhnlich, fast schon unglaublich ist das Werk, welches Bernadine Evaristo mit ihrem fiktiven Gesellschafts-Roman Girl, Woman, Other geschaffen hat. 12 starke und inspirierende Stimmen von Frauen*, die ihren Weg noch suchen, finden und immer hinterfragen, erzählen ihre Geschichte. Wobei sie sich nicht nur auf die guten Seiten beschränken und Leser*innen grundsätzlich das eine oder anderen Mal vor den Kopf stoßen.

„she saw their future and hers, as baby-mothers pushing prams

pushing fatherless timebombs

forever scrambling down the side of sofas for change to feed the meter, like Mum (…)

not me, not me, not me, she told herself, I shall fly above and beyond” (S.128, Carol in Girl, Woman, Other)

Evaristo ist eine britisch-nigerianische Schriftstellerin und Professorin, welche sich thematisch von ihrem Interesse für die afrikanische Diaspora inspirieren lässt. Ihr Roman Girl, Woman, Other wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Das Werk beeindruckt durch seine nicht zu enden scheinende Vielfalt von Geschichten, die den unterschiedlichsten Lebenswegen und –entwürfen als (queere) Frauen* of Colour folgen. Sie alle leben in Großbritannien und sind Teil der Diaspora. Es sind Geschichten aus den verschiedensten Teilen der Gesellschaft, mit individuellen Perspektiven und Möglichkeiten, doch was sie verbindet, sie leben alle im gleichen System und sehen sich mit den täglichen Kämpfen um ihre Stimmen und Gleichberechtigung konfrontiert. Sie geben nicht auf, machen weiter und finden oder suchen den Weg der ihr persönliches Glück bedeutet, trotz aller Ungerechtigkeiten und traumatischen Erfahrungen. Es ist ein ehrlicher Roman, denn die Charaktere die Evaristo geschaffen hat, sind keinesfalls perfekt, sie haben ihre Fehler, stoßen Leser*innen mit ihren Ansichten, Gedanken, Entscheidungen und sogar Handlungen vor den Kopf. Nicht alle sind sie so tolerant und reflektiert, wie man es sich wünschen würde. Sie brechen mit den Strukturen, die die Gesellschaft als Norm vorgibt und lassen Leser*innen schonungslos daran teilhaben.

Selbst an biografischem und historischem Kontext fehlt es nicht, durch Rückblenden und dem Einbinden mehrerer Familienmitglieder oder Freund*innen, von bereits vorgestellten Figuren, in ihre Auswahl an Charakteren, verliert sich das Lesepublikum nicht im 500 Seiten langen Werk. Die Autorin beschreibt gekonnt die Diversität, welche im Leben von Beziehungen möglich ist, wie auch deren Entwicklung, Auflösung und Erleben.

Trotz der vielen Charaktere ist es doch erstaunlich einfach den Überblick zu behalten, neue Abschnitte im Buch werden mit den Namen der Frauen* begonnen, aus deren Perspektive erzählt wird. Das zurückgehen dieser in ihren Erinnerungen und die regelmäßigen Rückblicke, die die Autorin einbaut, dienen teils dazu in der Geschichte ihres Landes oder Biographie zurückzugehen. Sie bewirken zudem, dass man die Beweggründe der Frauen, die sie zu Entscheidungen und Handlungen veranlasst haben, am Ende ihres Abschnitts nachvollziehen kann. Darüber hinaus werden auch die persönlichen Privilegien jeder einzelnen der Frauen* beleuchtet, wie sie mit diesen umgehen und sich in der Gesellschaft bewegen. Denn alle Charaktere unabhängig welchen Alters, teilen, dass sie spätestens außerhalb ihres persönlichen Umfeldes mit Rassismus und verschiedensten Formen von Diskriminierung zu kämpfen haben, sich behaupten müssen.

Die individuelle gefundene oder auch auferlegte Identität der Frauen* ist der rote Faden, durch den sich alle Geschichten immer wieder miteinander in Verbindung bringen lassen. Männer* erscheinen im Roman Girl, Woman, Other ebenfalls, sie sind Partner, Familie, Freunde und je nach Roman-Figur mal mehr, mal weniger präsent. Die Beziehungen zu ihnen sind so vielfältig, wie die Hauptcharaktere selber.

Es gibt zum Beispiel Amma eine Mutter, die ihr Leben in der Welt des Theaters beschreibt und auf ihre Jugend und Kindheit zurückblickend ihre Teenager-Tochter Yazz betrachtet. Amma und Yazz sind zwei starke, selbstbewusste Frauen, die wissen, was sie wollen. Die eine früher als die Andere. Yazz wächst mit ihrer, sich in einer lesbischen polyamourösen-Beziehung, befindenden Mutter auf, während ihr Vater ein wohlhabender homosexueller Freund dieser ist. So prägen die Tochter mit dem Tag ihrer Geburt, die Fragen nach Privileg, Identität und Politisierung.

Dies ist nur ein kleiner oberflächlicher und beispielhafter Einblick in das komplexe Leben von Amma und Yazz, sowie in die unerschöpfliche mögliche Diversität der Beziehungen und Einflüsse, die die Charaktere im Roman prägen. Dies macht es umso wichtiger, trotz der Aufteilung in klare personenbezogene Abschnitte, diese nicht abweichend von der vorgegebenen Reihenfolge zu lesen. Dadurch würden die geschickt gesponnenen Verflechtungen der einzelnen Leben, welche teils nur durch einen Nebensatz ins Bild treten, verloren gehen. Personen aus den Kreisen in denen sich Amma und Yazz bewegen finden sich beispielsweise im späteren Verlauf des Romans als Haupt- oder Nebencharaktere wieder und bilden aus vielen kleinen eine zusammenhängende Generationen und Grenzen überschreitende Geschichte.

Evaristo ist mutig, denn dieses Buch scheint nicht geschrieben worden zu sein, um gemocht zu werden, es füllt selbstbewusst eine Lücke in der afrikanischen (diasporischen) Literatur. Queerness, Frau*-Sein, geschichtlich-britisch-diasporische, geschichtlich-britisch- koloniale, individuell biographische Elemente, sowie Strukturen von Rassismus und Diskriminierung in einem einzigen Werk, welches nicht die Absicht hat anzuprangern, sondern zu erzählen und Leser*innen erleben und nachfühlen zu lassen, ist eine außergewöhnlich neue Art der Literatur. Eine Bereicherung für jedes Bücherregal und so komplex, dass es sich lohnt es mehrere Male und mit Zeit zu lesen. Es werden globale Themen diskutiert und reflektiert, so intensiv, dass es unangenehm werden kann, wenn man nicht offen dafür ist. Jedoch umso mehr lernt, weint und lacht, wenn man die teilweise fast schon in Versform geschriebenen Worte auf sich wirken lässt, zulässt, dass sie die eigene Sicht auf die Welt verändern.

Girl, Woman, Other ist ein Roman voller Schwere und Schmerz, der Leser*innen trotzdem mit dem Gefühl von Zuversicht zurücklässt.

Das Leben aus Kinderaugen – ein Roman aus Simbabwe und USA

„Wir brauchen neue Namen“ – nämlich Doktorennamen, das beschließen die zehnjährige Darling, die als Ich-Erzählerin durch den auf Englisch gleichnamigen Roman von NoViolet Bulawayo führt, und ihre Freunde in einem eigentlich traurigen Moment: die 11-jährigen Freundin Chipo ist nach einer Vergewaltigung durch ihren Großvater schwanger geworden, ihre Freunde wollen eine Abtreibung durchführen. Das ist nur einer der Momente im Roman, der vor allem durch die kindliche Perspektive der eigentlichen Schwere der Situation entflieht und durch eine freche, kindliche, manchmal derbe und immer sehr nahbare Sprache glänzt.

Darling und ihre Freunde leben in Paradise, dem Ort, der ihr Leben darstellt, aber alles andere ist als ein Paradies: Paradise ist der ironische Name für die Blechhüttensiedlung an einem armen Ort in Simbabwe. Hier wird der AIDS-kranke Vater der Protagonistin vor den Freunden versteckt, hier entdecken die Kinder eine Leiche, hier machen sich die Kinder über Weiße aus NGO´s lustig. Von hier aus strömen die Kinder in reichere Viertel (namens „Budapest“) um zu klauen, denn auch Verzicht und Hunger bestimmen ihr Leben. Ihre Kindheitserlebnisse aber zeigen – trotz all der widrigen Umständen – auch ein Bild der Normalität, der Kindheit und des Lebens, das sie nun mal haben. Darling ist sich zwar ihrer Armut bewusst – vor allem, da sie erst in ihr Leben getreten ist, als ihr richtiges Haus, in dem die Familie gewohnt hat und sich gut versorgen konnte, zerstört wurde; Armutsklischees oder Mitleidserzeugung sind aber weder Themen noch Stilmittel des Romans.

Als Darling 13 Jahre alt ist, wird sie von ihrer Tante Fostalina in die USA mitgenommen. Die Migration in die USA sollte Darling ein besseres Leben ermöglichen, sie entzieht ihr aber nicht nur ihren Lebensraum, sondern auch ihren Verständnisraum. Amerika ist nicht die versprochene Verheißung, in der Ferne vermisst sie die Heimat, findet aber auch keinen Zugang zu ihren alten Freunden. Entfremdung, Ausgrenzungserfahrungen und das Vergessen von Traditionen über Generationen sind migrationsspezifische Themen des zweiten Teils des Romans. Der Teil, der in Amerika spielt, ist aber ebenso eine klassische Teenagergeschichte – mit den Problemen, die das Teenagersein, mit sich bringt – wie der erste Teil des Romans, der in Simbabwe spielt, eine Kindheitsgeschichte ist, in der Themen wie Freunde, Streiche, erste Kriminalität und Auseinandersetzungen mit den Eltern eine Rolle spielen.

Es ist besonders die sympathische Erzählperspektive, die den Roman interessant macht. Kleinigkeiten wie etwa, dass ihr alle Amerikaner über Afrika erzählen, irritieren Darling und andere Erlebnisse, wie die beobachtete Vergewaltigung als Kind, versteht sie erst später, als sie im Keller ihres amerikanischen Hauses mit ihren Freunden verstörende Pornos schaut. Anders als etwa in Americanah werden die Themen Rassismus und Identität hier nicht akademisch aufgearbeitet, sondern im alltäglichen Erleben von Darling gezeigt. Besonders an dem Buch ist auch, dass es nicht in der afrikanischen Mittel- und Oberschicht spielt, sondern das Leben von armen Menschen beleuchtet. Der Blick durch die kindlichen Augen mag auch hilfreich dafür sein, dass Bulawayo niemals in die „Othering“-Falle tappt.

Die Autorin NoViolet Bulawayo ist 1981 in Simbabwe geboren, ihr leiblicher Name ist Elizabeth Zandile Tshele. Den Titel „Wir brauchen neue Namen“ hat sich die Autorin auch als Motto für sich zu eigen gemacht; sie schreibt unter einem Pseudonym mit einer besonderen Bedeutung: Violet hieß ihre Mutter, die starb als die Autorin 18 Monate alt war, und „No“ bedeutet „mit“, Bulawayo ist die zweitgrößte Stadt Simbabwes, in der sie geboren ist. Die Autorin zog zwar mit 18 Jahren zum Studium zu ihrer Tante nach Detroit/ USA, autobiografische Bezüge im Buch gibt die Autorin als nicht sehr stark an; sie sei in einem Simbabwe vor der Krise und nicht in einem diktatorischen Willkürregime und einer Zeit des politischen Verfalls wie ihre Protagonistin Darling aufgewachsen.

NoViolet´s Debütroman „We need new names“ wurde in 17 Sprachen übersetzt, sie stand damit als erste Schwarzafrikanerin und erste Autorin aus Simbabwe auf der Shortlist des Man Booker Preises. Der erste Teil des Buches, der in Simbabwe spielt, liest sich erfrischend und spannend. Der zweite Teil des Romans befasst sich mit dem Thema des gescheiterten Glücksrittertum durch Migration und erzählt damit eine konventionellere, weil häufiger bereits erzählte, Geschichte. Das ist ein Roman für eine neugierige Leserschaft, für junge Leser*innen, die gerne Coming-of-Age–Geschichten lesen, für Leser*innen, die sich für das Thema Migration interessieren oder für alle, die einfach mal ein ungewöhnlicheres Buch lesen wollen.

Ja, Americanah – ein wahrlich großer Roman!

Americanah ist der Roman, mit dem die nigerianisch-stämmige Autorin Chimamanda Ngozi Adichie 2013 internationale Begeisterung erlangte und zu eine der großen Stimmen der Weltliteratur wurde. Und das ganz zurecht: Americanah ist als große Liebesgeschichte anrührend und dabei gleichzeitig spannend wie ein Kriminalroman und erkenntnisreich wie ein Sachbuch – eine absolute Leseempfehlung!

Americanah erzählt auf berührende Weise einerseits eine Migrationsgeschichte, die Geschichte einer Ankunft in den USA. Andererseits erzählt Americanah die Geschichte einer Rückkehr nach Nigeria, was schon der Titel verrät – Americanah ist nämlich die in Nigeria übliche Bezeichnung für Rückkehrer aus den USA.

Americanah ist aus der Sicht der beiden Liebenden Ifemelu und Obinze, die sich in den 1990er Jahren in Nigeria noch zu Schulzeiten kennenlernen, geschrieben. Die beiden entstammen der nigerianischen Mittel – und Oberschicht und verlassen das Land als junge Erwachsene, um bessere Lebenschancen zu haben. Ifemelu studiert mit Stipendium in Princeton, aber auch die Hilfe ihrer Tante Uju, die als Ärztin in den USA arbeitet, kann ihr nicht über die Startschwierigkeiten und finanzielle Nöte hinweghelfen. Der bezahlte „Gefallen“, den sie einem älteren weißen Mann tut, wirft sie endgültig aus der Bahn: Ifemelu verfällt in eine Depression und antwortet ihrem geliebten Obinze nicht mehr. Über ein Jahrzehnt lang verlieren sich die beiden aus den Augen, auch wenn ihr Band – wie bei jeder großen Liebesgeschichte – bis zu ihrem Wiedersehen in Lagos nie zerbricht. Parallel zu Ifemelu´s Geschichte wird die Geschichte von Obinze als illegaler Einwanderer in London erzählt, der sich mit falschem Ausweis und einer geplanten Scheinehe über Wasser zu halten versucht. Sein Plan scheitert und er wird nach Nigeria abgeschoben, wie um ausgleichende Gerechtigkeit herzustellen, erlangt er als Makler dort mit dem Handel von illegalem Baugrund und Immobilien Erfolg und Reichtum.

Ifemelu macht zwar zwei wichtige Beziehungserfahrungen in den USA – sie trägt aber stets eine Schwere und eine Sehnsucht in sich – nach Nigeria und nach ihrer Jugendliebe Obinze. Der weiße Amerikaner Curt verkörpert – ein bisschen schablonenhaft dargestellt – den wohlhabenden, optimistischen Ostküstentyp, der Ifemelu ein Aufsteigerleben mit Wochenendkurztrips nach Europa bietet und ihr letztendlich eine green card, verschafft, sodass sie endlich legal arbeiten kann. Sie verlässt ihn ebenso wie seinen Nachfolger Blaine – der als Typ intellektueller Afroamerikaner, Yale-Dozent (natürlich links, progressiv und Vegetarier) gezeichnet wird. Ihre beiden Beziehungen vergleicht Ifemelu mit „einem Haus, mit dem sie zufrieden war, in dem sie jedoch immer am Fenster saß und hinausschaute“. Ifemelus Entschluss, Blaine und die USA zu verlassen und nach Nigeria zurückzukehren, wird der Leserschaft in den ersten Seiten des Buches mitgeteilt, aber erst der siebte und letzte Teil des 477 Seiten dicken Romans spielt schließlich durchgehend in Lagos. Die Aussicht auf ein Wiedersehen hält die Spannung in Americanah über den langen Erzählzeitraum von 15 Jahren aufrecht; als Leser*in will man wissen, ob Ifemelu und Obinze sich wieder begegnen werden und ob der alte Zauber noch da sein wird. Die Lösung für das Dilemma, dass die alte Jugendliebe nun mal in einer gefühllosen Ehe steckt und ein Kind hat, ist dabei durch und durch ehrlich und nicht verkitscht. Mehr sei hier nicht verraten, mehr verrät nur die Lektüre des Romans selbst.

Ein cleveres Stillmittel in Americanah sind die beiden Blogs, die die Protagonistin schreibt und die wie kurze Essays in den Roman eingestreut sind. Ihr Blog „Raceteenth – oder Ein paar Beobachtungen über schwarze Amerikaner (früher als Neger bekannt) von einer nicht-amerikanischen Schwarzen“ macht Ifemelu erfolgreich, wer ihn liest, wird in die Sicht einer Afrikanerin, die erst in Amerika zur Schwarzen wurde, eingeführt. Der Blog sensibilisiert die weiße Leserschaft für viele Themen, denen SchwarzeMenschen im Alltag ausgesetzt sind und die aufgrund der hinter Rassismus stehenden Machstrukturen nicht durch eigene, andere Diskriminierungserfahrungen bagatellisiert werden können. Im Blog geht es um Rassismus, Vorurteile und Polizeigewalt im modernen Amerika; Diskriminierungen, die subtiler daherkommen als zur Zeit der Rassentrennung, sich aber in fast allen Alltagserfahrungen zeigen. Auch scheinbare Oberflächlichkeiten wie Frisuren spielen im Blog eine große Rolle, wie etwa die Frage: Welche Schwarzen Frauen glätten ihr Haar, welche lassen es als Afro stehen, welche lassen es zu Zöpfen flechten und wo können sie letzteres tun? Die Antwort ist, dass die Schwarze Frau sich die Haare glätten muss, wenn sie erfolgreich sein will (etwa Michelle Obama), der Afro in Amerika nur als politisches Signal stehen darf und frau sich Zöpfe nur noch in der armen Vorstadt flechten lassen kann.

Americanah lebt von der Intelligenz, dem kritischen Auge und der Phantasie seiner Protagonistin. Ihre Erfahrungen werden immer auch auf einer Metaebene reflektiert, ihr persönliches Leben wird politisiert, Zeitgenössisches soziologisch reflektiert. Gewissermaßen ist Americanah auch ein Zeitbericht über die erste Präsidentschaft von Barack Obama, die kollektive Euphorie (nicht nur) unter Afroamerikaner*innen ausgelöst hat. Die Charaktere werden warmherzig und sympathisch beschrieben, wenn auch die amerikanischen Charaktere ein wenig stereotyp und weniger facettenreich dargelegt werden als die nigerianischen. Die Sprache ist pointiert und witzig und zugleich voller erfrischender Bilder; so gut, dass man sich viele Sätze des Romans gerne herausschrieben würde.

Americanah ist für alle empfehlenswert, die ein echtes Leseabenteuer zum Abtauchen suchen und sich zugleich mit den Themen Identität, Migration und Rassismus in Romanform auseinandersetzen wollen.

Dystopien und Utopien zehn afrikanischer Autor*innen

Die Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel „Imagine Africa 2060 – Geschichten zur Zukunft eines Kontinents“ wurde zum 10-jährigen Jubiläum der Veranstaltungs-, Literatur- und Bildungsreihe stimmen afrikas herausgegeben. Das Projekt stimmen afrikas umfasst Lesungen, Vorträge und Diskussionen von Autor*innen aus dem afrikanischen Kontinent und der afrikanischen Diasporamit dem Ziel afrikanische Literatur in Deutschland sichtbarer zu machen und über Politik, Kultur und Lebensbedingungen in den Ländern zu informieren. Die Herausgeberinnen des Sammelbandes sind Christa Morgenrath als Gründerin und Leiterin der stimmen afrikas des Allerweltshauses Köln e.V. sowie die Projektassistentin Eva Wernecke.

Kurzgeschichten von fünf Männer und fünf Frauen aus zehn afrikanischen Ländern, viele davon mit Diaspora-Bezug, finden sich in der Anthologie; es sind etablierte Schriftseller*innen wie Ken Bugul aus dem Senegal und José Eduardo Agualusa aus Angola unter den Autor*innen, aber auch weniger bekannte Autor*innen. Alle Geschichten außer der von Agualusa (hier handelt es sich um einen Teil eines Romans) sind extra für den Band geschrieben worden.

Manche der Geschichten arbeiten mit märchenhaften oder Science-Fiction-Elementen, andere versuchen eher eine realistische Zukunftsvision des afrikanischen Kontinents zu zeichnen, weitere handeln Familiengeschichten aus einer Zukunftsperspektive ab. In vielen Geschichten treten die Probleme von heute verschärft auf: der Klimawandel ist vorangeschritten („Als die Welt untergegangen war …“ von José Eduardo Agualusa), der immer größer werdender Rassismus in Europa treibt einst ausgewanderte Afrikaner*innen zur Rückkehr („Die Rückkehr“ von Aya Cissoko), die Digitalisierung nimmt absurdere Ausmaße an („Data Farming“ von Tendai Huchu). Tendai Huchu aus Simbabwe hat einen Protagonisten erschaffen, der mit einem mit einem PC-Programm zusammen ist – diese Digitalisierungsvision von einer romantischen Verbindung zwischen Mensch und Maschine ist längst auch in der Filmwelt, in Filmen wie „Her“, angekommen.

Sehr deutlich spürbar ist der Qualitätsunterschied innerhalb der Anthologie: so finden sich neben einigen wenigen richtig guten Kurzgeschichten auch belanglose, konstruierte oder wenig inspiriert erzählte Geschichten. Es entsteht der Eindruck, dass einige der Autor*innen von der recht eng gefassten vorgegebenen Thematik überfordert waren.

Zwei der besten Geschichten aus dem Band handeln von erfolgreichen Frauen und der Gleichstellung in Politik und Gesellschaft, die im Jahr 2060 erreicht sein soll – also einer positiven Zukunftsvision. Ellen Bandu-Aaku, geboren in Großbritannien und aufgewachsen in Sambia, erzählt in ihrer berührenden Kurzgeschichte „Froschaugen“ von der geschäftsführenden Leiterin der New League of Africa. In der Erinnerung an und Auseinandersetzung mit ihrer Großmutter Gogo und ihrer Vergangenheit gewinnt die Protagonistin Stärke und thematisiert in ihren Reden auch kritische Themen wie religiös motivierte Abspaltung und Verfall der afrikanischen Staaten durch Interventionen aus dem Ausland.

In „Amara For President“ der Nigerianerin Chika Unigwe möchte Ama Nwobi Präsidentin werden – und sich gleichzeitig von ihrem Mann scheiden lassen; eine politische und eine persönliche Entscheidung, die sich auch im Afrika 2060 schwer verbinden lassen. Wie die Protagonistin sich von gesellschaftlichen Ansprüchen emanzipiert und schließlich Präsidentin wird, wird als einer der größten Umbrüche der Weltgeschichte beschrieben, „seit jener gescheiterte Geschäftsmann, der die Welt beinahe in einen dritten Weltkrieg gestürzt hätte (…) – 2016 die US-amerikanischen Wahlen zur Präsidentschaft gewonnen hatte…“. Diese Rückblende aus der Zukunft auf die Welt von heute stellt das Ende der bewegenden Geschichte dar.

Die Kurzgeschichte „Die Wahrheit“ von Sonwabiso Ngcowas aus Südafrika ist im Slang geschrieben und leider ist die Übersetzung ein bisschen sperrig geraten. Dennoch ist die Geschichte eine der fesselndsten, traurigsten und berührendsten Geschichten des Bandes. Die 16-jährige Liwe schreibt 14 Tage lang ihrer verstorbenen Mutter von ihrem leidvollen Leben. Nachdem der Vater an einer Asbestlunge gestorben ist, verliert sie auch noch ihre Schwester Zuzu, die 21-jährige stirbt an einer illegalen Organentnahme im Krankenhaus. Beschrieben wird eine sehr düstere Zukunftsvision, in der sich nichts auf der Welt zum Guten entwickelt hat.

Geschichten über Utopien und Dystopien des aktuell ärmsten Kontinents der Erde sind immer auch eine Vision unserer gesamten Welt in 2060. Diese Vorstellung macht die Idee des Geschichtsbandes attraktiv, leider sind aber nicht alle Geschichten so gut gelungen, dass sie diese Idee mittragen können. Positiv hervorzuheben ist die schöne und übersichtliche Gestaltung des Bandes. Neben einem Editorial und einem Nachwort findet sich auch ein ausführlicher Anhang mit der Veranstaltungschronik der stimmen afrikas. Zudem folgt auf jede Kurzgeschichte ein ausführliches biografisches Autor*innenportät mit Foto. Der Bildungsauftrag, den die Herausgeberinnen mit dem Band erreichen wollten, zeigt sich hier sehr deutlich. Die Anthologie „Imagine Africa 2060 – Geschichten zur Zukunft eines Kontinents“ ist als Einführungswerk für afrikanische Literaturen mit hohem didaktischen Charakter und damit speziell auch für Jugendliche und junge Erwachsene geeignet.

So gar nicht im Stillen killen

My sister, the serial killer erzählt die Geschichte zweier ungleicher Schwestern aus der Mittelschicht in Lagos. Ayoola ist eine extrem attraktive Modedesignerin und Instagrammerin – und eine egozentrische und empathielose Psychopathin, die ihre Liebhaber zunächst unter Einsatz ihrer Schönheit offensiv anflirtet und sie schließlich umbringt. Ihre zwei Jahre ältere Schwester Korede, aus deren Sicht das Buch erzählt wird, ist eine optisch unauffälligere Krankenschwester. Sie ist so ordentlich und pflichtbewusst, dass sie die perfekte Tatortreinigerin ist und zudem so solidarisch, dass sie immer die Mordreste ihrer Schwester beseitigen wird. Im Gegensatz zu Ayoola treibt Korede ihr schlechtes Gewissen um, sodass sie einem von ihr betreuten Komapatienten von den Taten ihrer Schwester erzählt. Schwierig nur, dass dieser wieder aufwacht und nicht mal seine Erinnerung verloren hat. Noch größer wird Koredes Dilemma, als sich ihr Angebeteter, der Arzt Tate, ausgerechnet in Ayoola verknallt. Wie kann sie ihn retten, ohne ihre Schwester zu verraten?

Antworten gibt der Roman der Autorin Oyinkan Braithwaite, die 1988 in Lagos geboren ist, in Großbritannien und in Jamaika Jura und Kreatives Schreiben studiert hat und seit 2012 wieder in Lagos lebt. Ihr 2018 veröffentlichtes Romandebüt My sister, the serial killer wurde für den Booker Prize und den Women´s Prize for Fiction nominiert und 2019 von der Los Angeles Times als bester Krimi des Jahres ausgezeichnet. Seitdem wird der kurze Roman von 226 Seiten international vermarktet und feiert Erfolge, sicherlich auch wegen seiner knalligen äußeren Aufmachung, ohne die das Buch wohl nicht so erfolgreich wäre; auf dem schwarzen Cover prangt in grellem Grün der reißerische Titel, aus dem Wort „killer“ tropft das Blut… Zu allem Überfluss ist die männermordende Femme fatale auch noch plakativ abgebildet – in ihrer Sonnenbrille spiegelt sich das Messer ihres Vaters, mit dem sie ihre Morde begeht. Diese dramatisch-übertriebene Gestaltung des Buches weist schon auf den Erzählstil hin: oberflächlich, schnell, die kurzen Kapitel sind mit einzelnen Schlagworten („Red“, „Father“, „Roses“) betitelt. Wer große Literatur sucht ist hier nicht richtig, wer eine schräge Unterhaltung für eine rasante Lesenacht sucht, schon.

Warum mordet Ayoola überhaupt? Während die Ergründung der Mordmotive in vielen Kriminalromanen eine große Bedeutung hat, bekommt die Leserschaft hier nur eine kurze Hintergrundtheorie geliefert. Ayoola war wie ihre Mutter und ihre Schwester der väterlichen Gewalt ausgesetzt. Der Vater ist schließlich auf mysteriöse Art und Weise verschwunden, vielleicht hatten die Schwestern auch hier ihre Hände im Spiel. Ayoola wurde zudem perfide den Geschäftspartnern des Vaters angeboten und weder durch Mutter und Tante geschützt. Das Motiv des Kindheitstraumas und der Reproduktion der erlebten Gewalt wirkt hier jedoch ein wenig konstruiert, vielleicht auch weil das Buch durch seine Oberflächlichkeit keinen Raum für eine tiefere Beschreibung der Charaktere bietet.

So spielt die Autorin zwar charmant mit dem Klischee der männermordenden Vamp, ohne derselben aber eine Tiefe zu geben. Schade eigentlich, da der Roman durchaus relevante Themen anreißt. Er ist nicht nur ein Krimi, sondern vor allem ein Roman über Solidarität unter Schwestern, die hier immer größer ist als die auch bestehende Konkurrenz. Besonders an dem Roman sind die vielfältigen und starken Frauenrollen, die keinen klassischen Rollenbildern entsprechen. My sister, the serial killer ist ein spannendes und kurzweiliges Buch, dass aber durch die oberflächliche Erzählweise und Aufmachung verliert. So bleibt der Roman ein Buch für Leser*innen, die schnelle Unterhaltung oder einfach einen originelleren Krimi suchen.

Vergessene Erinnerung

Gewalt. Tod. Trauer.

Diese drei Worte beschrieben die Erfahrungen Alfa Ndiayes, eines sogenannten Senegalschützen, im Ersten Weltkrieg an französischer Front, sehr genau. Ein junger Mann, der seinen „Seelenbruder“, Mademba Diop, in diesem Krieg verliert. Der sehr kurze, aber von der französischen Kritik dennoch gefeierte Roman, Nachts ist unser Blut schwarz, von David Diop, soll einen vergessenen Teil der europäischen Kriegsgeschichte aufarbeiten. Größtenteils fiktiv, wird fast schon wie aus einem poetischen Tagebucheintrag oder Brief, aus der Sicht eines schwarzen westafrikanischen Soldaten erzählt. Diop selbst hat franko-senegalesischen Wurzeln und arbeitet als Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Auch im literaturwissenschaftlichen Bereich setzte er bereits Schwerpunkte auf die europäische Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents.

Der in der deutschen Übersetzung, für manche, vielleicht etwas ungewohnte Rhythmus, unterstreicht, das Berichten des Hauptcharakters, auf einer anderen Sprache. Diop füllt hiermit eine literarische, wenn nicht sogar historische Lücke, da oftmals nur Perspektiven von weißen europäischen Soldaten bekannt sind. Hierbei legt er den Fokus sehr bewusst auf die damals gezielte Darstellung von schwarzen Männern, als „angsteinflößende Wilde mit Machete“. Nach dem Tod Madembas, durch eine deutsche Kugel, gerät Alfa in einen sehr brutal geschilderten Vergeltungsrausch. In diesem wird er sich der ihm auferlegten Rolle bewusst und nutzt sie zu seinem Vorteil, welcher ihn jedoch nach und nach unter den eigenen Kameraden zum Gefürchteten werden lässt. Das Sammeln abgetrennter Feindeshände, führt schließlich zu seiner Versetzung, in ein Rehabilitationslager. Diop verspinnt diese physische Reise und Entwicklung Alfas, geschickt mit der zunehmenden Reflexion von seiner Gegenwart, bis in die eigene Vergangenheit. Spiritualität, Freundschaft, Liebe und die Frage nach Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit, welche die rudimentärsten Züge einer jeden Person zum Vorschein bringt, sind weitere zentrale Themen. Während tödliche Kugeln schwarze, so wie weiße Leben, auf dem Schlachtfeld, letztendlich wieder gleichwertig machen. Lesenden wird ein Einblick in bisher viel zu selten besprochene Lebenswelten der Vergangenheit ermöglicht. Einen Blick auf den Ersten Weltkrieg, aus einer neuen Perspektive.

Auf Grundlage der deutschen Übersetzung, jedoch ohne das französische Original zu kennen, ist Kritik an ausformulierter und ohne Erläuterung stehen gelassener, rassistischer Sprache zu üben. Zum N-Wort, so, wie Weiteren in der deutschen Sprache beleidigenden Begriffen, gibt es keinen zusätzlichen Vermerk im Buch, welcher ihre Nutzung in der deutschen Ausgabe begründet oder wenigstens erklärt. Insbesondere nach der Debatte zu rassistischer Sprache in der deutschen Kinderliteratur von 2013, sollten Verlage inzwischen sensibilisierter, zumindest aufgeklärter sein.

Trotzdem ist dieser Roman, für alle, die einen fiktiv-historischen Roman mit einer sich ständig wandelnden Hauptfigur wollen, sehr zu empfehlen. Sowie für ein Publikum, das nicht vor intensiven und gewaltvollen Bildern, Geschichten in Geschichten und unerwarteten Wendungen zurückschreckt.

Mit Nachts ist unser Blut schwarz, lässt David Diop fast vergessene Erinnerungen wieder aufleben. Seine Worte führen uns vor Augen, wie einseitig Geschichte geschrieben wurde und wird.

Träume von Widerstand

„Wenn Träume nach dem Aufwachen noch Sinn ergeben, dann ist man in Wirklichkeit noch nicht wach.“ (S.63, Schneeflocke in Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer)

Es ist erstaunlich, wie der angolanische Autor und Journalist José Eduardo Agualusa gekonnt anhand verschiedener Generationen und einer Gruppe von Bekannten, Verwandten und Freunden einen Einblick und ein Einfühlen in die Geschichte Angolas schafft. Mit seinem kritischen Blick und der Fähigkeit die verschiedenen Stimmen der Bevölkerung widerzuspiegeln, wird er als einer der bedeutendsten Gegenwartsautoren für afrikanische und portugiesischsprachige Literatur bezeichnet.

Auf das Symbol des Traums und der Welten der Träume zurückgreifend, gelingt es ihm, in Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer, politischen Ereignissen und dem Trauma einer ganzen Nation eine mythische Dimension zu verschaffen. Gelesen in der deutschen Übersetzung, war der Gebrauch eines zum Teil lyrischen Schreibstils in einem Roman zu Beginn sehr ungewohnt. Agualusa schafft es jedoch das lesende Publikum schon nach wenigen Kapiteln durch anhaltende Spannung in seinen Bann zu ziehen. Wechsel von Erzählerperspektiven und den sich immer wieder wandelnden Informationen zu bereits vermeintlich beantworteten Fragen, geben dem Buch insgesamt die Dynamik und Rastlosigkeit, die auch die erzählenden Charaktere durchleben. Tagebucheinträge durchbrechen den Lesefluss und geben direkten Einblick in Erlebnisse und Vergangenheit der Figuren. So wird dem Publikum auch ein Einblick in die Zeit des Bürgerkriegs Angolas und seiner traumatischen Folgen für die Bevölkerung gewährt. Das Wandeln verschiedener Protagonist*innen durch Träume, geteilte Träume und der Traum einer Revolution, der durch das Aufbrechen durch die aktivistische Tochter der Hauptfigur des Romans gelebt wird, lassen Realität und Traumwelt zwar verschwimmen, schwächen jedoch nicht die Aussage der Erzählung ab. Um Träume, auch als Wünsche, Visionen oder Utopien zu sehen, sind mithin Willenskraft und Ausdauer essenziell, um Veränderung bewirken zu können. Ein wortwörtlich kollektiv geträumter Traum führt im Roman, wie aber auch in jeder Revolution zur Mobilisierung. Die gemeinsame Vision verbindet, auch wenn die Vergangenheit jeder Person und ihre Motivation im Leben unterschiedlich sein mögen. Der Roman schafft Einblick in die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und politischen Seiten des Angola vorm fiktiven Sturz des Präsidenten. Ein kritischer Journalist hat mit einer durch ihren Vater in der Politik klar konservativ positionierten Frau ein Kind. Die Tochter entwickelt sich zu einer Aktivistin, welche mit anderen jungen Leuten zum Sturz des Präsidenten führt und einmal mehr symbolisch für die politischen Spannungen steht. Dies ist eine grobe Beschreibung des roten Fadens, welcher sich insbesondere entlang der Wahrnehmung des geschiedenen Vaters zieht und selber die Funktion erfüllt im Verlauf der Geschichte diverse Nebenakteure in die Handlung einzuführen. Hinzugefügt werden muss an diesem Punkt, dass der Roman nicht historisch, sondern fiktional vorgeht. Somit sind nicht alle historisch anmutenden Informationen auf Angola übertragbar.

Trotz der teilweise schwierig nachzuvollziehenden und teils verwirrenden Handlungen, wird ein sehr deutliches und nachspürbares Bild davon kreiert, welche Auswirkungen politische Spannungen und Willkür auf Individuen, wie auch die gesamte Bevölkerung haben können. Die immer wieder in die Geschichte eingebauten Träume, ermöglichen Lesenden kurze Pausen von den Wirren und der Unruhe der Handlung.

Die Sprache der deutschen Übersetzung betreffend, gibt es jedoch anzumerken, dass der Begriff „Mulatte“/ „Mulattin“ im Roman ausgeschrieben und weder kursiv, noch in Anführungszeichen, noch mit Anmerkung des Übersetzers, unkommentiert, stehen gelassen wurde. Problematisch ist dies, da der Begriff im Portugiesischen durchaus zur Alltagssprache gehört, im Deutschen jedoch im historischen Kontext und im Hinblick auf seine Bedeutung ein beleidigender Begriff ist. Aufklärung über Verwendung und Bedeutung von kritischen Begriffen insbesondere bei Übersetzungen aus anderen Sprachen, sollten bei aktuellen und neuen Romanen inzwischen selbstverständlich sein.

Zu empfehlen ist der Roman dennoch. Gelesen werden kann er auch von Menschen ohne Vorkenntnisse zur angolanischen Geschichte, da das Buch eine Übersicht politischer Ereignisse und Begriffe enthält, sowie eine Karte Angolas mit den genannten Städten/Orten. Ebenso ist dieses Werk Leser*innen zu empfehlen, die für ungewohnte Schreibstile offen und an politischer Literatur interessiert sind.

José Eduardo Agualusa hat mit seinem neusten Werk wundervolle Arbeit geleistet, er verschafft dem Träumen wieder einen Platz und Wichtigkeit in einer Welt, in der es viel zu oft vergessen wird.

Bewegende Zeilen

„ (…) i rarely cry but every time i write
i shed streams. this is not just poetry.
this is a prayer. (…)“

(S.51, this is not just, Refuge)

Diese Worte beschreiben die Kollektion von Poesie in JJ Bolas Sammelband Refuge sehr treffend. Auch wenn zunächst der Witz und teils umgangssprachliche Zeilen, in den anfangs inhaltlich noch leichten Texten von der Ernsthaftigkeit der Themen Bolas ablenken, wird die Tiefe und der oft sehr politische Ansatz, von Text zu Text, immer deutlicher. Den Auftakt macht er mit the key (S.9in Refuge), hier wird von dem erst verletzten und jetzt verschlossenen Herzen einer Frau gesprochen, teils auch aus ihrer Perspektive, ihr Schmerz beschrieben. Formuliert mit Verständnis, für das sich emotionale Verschließen nach erlebter Verletzung, jedoch bleibende Hoffnung vermittelnd, dass Liebe irgendwann auch wieder zugelassen werden kann.

Die über dreißig Gedichte wirken sehr bewusst angeordnet. Zwischen ihnen wird ein fließender Übergang deutlich, auf von Leichtigkeit geprägte Werke folgen nach und nach von immer mehr Schwere geprägte Gedichte. Von lang bis sehr kurz, ist fast alles dabei, welches jedoch nicht die Aussagekraft der Texte schwächt. Cops and Robbers (S.77 in Refuge) ein Gedicht aus lediglich drei Zeilen bestehend, ist, wenn der lesenden Person der Kontext bekannt ist, ein sehr ergreifendes Werk. Beinahe einer der intensivsten Texte der Sammlung. Bei Cops and Robbers handelt es sich um ein US-amerikanisches Kinderspiel, welches Ähnlichkeiten mit dem deutschen Spiel „Räuber und Gendarm“ hat. Bola lässt es in seinen drei Zeilen präzise Polizeigewalt gegen Schwarze Menschen anprangern, welche häufig tödlich endet und selbst vor Kindern keinen Halt macht. Dieser Inhalt ist unter anderem ein Beispiel dafür, dass der Autor neben Texten über Liebe und Verlust auch politisch aktivistisch schreibt. Darüber hinaus lässt er häufig gekonnt persönliche Erlebnisse einfließen, wodurch das Publikum auch ohne eigenen Bezug, eine ganz besondere Beziehung zu den Texten aufbauen kann.

Dies ist einer von vielen Inhalten, der den Hintergrund von Schriftsteller, Aktivist und Poet JJ Bola deutlich werden lässt. Als Schwarzer und aktivistischer Mann mit eigener Fluchtgeschichte, thematisiert er Rassismus, Flucht und Männlichkeit auf einer, trotz der Tiefe der Inhalte, sehr verständlichen Ebene. Dies macht den Titel Refuge (Zuflucht) umso passender für den Sammelband. Er besteht unter anderem aus Gedichten, in denen er direkte Bezüge zu seiner eigenen Geschichte herstellt. Diese sehr persönliche Ebene, ermöglicht es auch Leser*innen, welche erst wenige oder gar keine Berührungspunkte mit dieser Thematik hatten, Anschluss zu finden. Dies macht den Band umso empfehlenswerter für alle, die sich nicht vor direkten Worten und offen dargelegten Gefühlen scheuen.

Je weiter man im Gedichtband mit dem Lesen fortschreitet, desto mehr lässt sich nachvollziehen, weshalb Bola seine eigene Poesie, im zu Beginn aufgeführten Zitat, als Gebet beschreibt. In vielen Gedichten gibt er jenen, an die sie gerichtet sind, stärkende, Hoffnung bringende oder tröstende Worte mit. Gibt seinen Werken, somit eine ähnliche Wirkung, wie sie ein Gebet haben kann. Refuge-ein Band der Leser*innen eine Zuflucht bietet.

Düstere Kapitel

Ein Spaziergang durch Lagos, Spannung und angehaltener Atem. So lässt sich das Erleben und Lesen der nigerianische Kurz-Krimis in Lagos Noir beschreiben. Sie sind teils nichts für schwache Nerven und lassen Lesende ein Wechselbad der Gefühle durchleben. Kreative Wendungen, die überraschen können und Spannung bei der manch eine Person am liebsten schon im Voraus das Ende lesen würde. Kurz, düster, durchdacht und intensiv ist Chris Abanis Auswahl an Kurzgeschichten in seinem 2018 veröffentlichten Sammelband. Der preisgekrönte Diaspora-Schriftsteller, versammelt kritische, sowie kreativ schreibende Stimmen nigerianischer Autor*innen, in dieser Fortsetzung der „Noir-Reihe“ des US-amerikanischen Verlags „Akashic Books“. Kennzeichen des „Noir-Genres“ sind Verbrechen, Spannung und ein Ermittler.

„Yet something troubled Sergant Gorewa. In fact, many things troubled him. How could a man escape the bullets from the war in his own country only to be killed by a knife in a strange land?” (S.188, The Walking Stick, Lagos Noir)

Menschen die an offenen oder nicht vorhersehbaren Enden Gefallen finden, sollten sich mit diesem Band der Serie vertraut machen. Er bringt Leser*innen im Laufe der Geschichten oft in Versuchung selber zu ermitteln. Rätsel zu lösen, bevor die Handlung sich dem Ende neigt. Nicht alle Geschichten, entsprechen allerdings den klassischen „Noir-Merkmalen“, was sie jedoch nicht weniger fesselnd werden lässt. Das Wenden der Seiten kann dem Lesepublikum oft nicht schnell genug gehen.

Nnedi Okorafors Werk Showlogo mangelt es, mit seiner allen Gefahren und Mächten trotzenden Hauptfigur, nicht an Spannung. Hierbei erinnert es jedoch mehr an eine Science-Fiction-Story, als an eine Kriminalgeschichte. Killer Ape von Chris Abani hingegen, sticht nicht nur durch den typischen Aufbau und die Verweise auf Sherlock Holmes hervor, sondern auch dadurch, dass der Beitrag zum Band, im Gegensatz zu den mehrheitlich in der Gegenwart situierten Geschichten, in Kolonialzeiten spielt. Im Vergleich, ist es Abanis Kurzgeschichte, welche den Merkmalen einer „Noir-Kriminalgeschichte“ am ehesten entspricht.

Was die Werke teilen ist politisch und gesellschaftskritisch. Sie bringen Lesende nahe an die Geschehen des Lebens in einer der bevölkerungsreichsten Metropolen des afrikanischen Kontinentes.

„His brother would be able to stay in school. His widowed mother would soon be able to retire from her petty trading. Things were on the up. “I did not come to Lagos to admire flyovers,” he told his mother.

“I mean business!”

(S.44, Heavens Gate, Lagos Noir)

Gelesen wird mit allen Sinnen und die ruhelose Atmosphäre der Stadt, wie sie Abani im Vorwort beschreibt, scheint zum Greifen nahe. Dieser Sammelband ist für all jene, die nicht vor etwas ungewöhnlicheren Krimis und starken Bildern zurückschrecken. Für Leser*innen, die gerne (kurz) ihrem eigenen Alltag entfliehen wollen, wird es ein ganz besonderes Geschenk sein, nach diesem Band gegriffen zu haben, denn getragen von Lagos Noirs Worten, können sie sich mühelos in den Straßen der Metropole verlieren. Im Hinterkopf sollte dabei trotz Allem behalten werden, dass es sich bei dem Band um eine Fortführung der kommerziell erfolgreichen „Noir-Reihe“ handelt und demnach mit hoher Wahrscheinlichkeit Geschichten gewählt wurden, um zu gefallen. Inhalte sind unter Umständen mit dem Anspruch ausgewählt worden, für ein weltweites, insbesondere westlich geprägtes Publikum ansprechend zu sein. Die verschiedenen Texte sind durchaus gesellschaftskritisch, doch bleibt die Frage offen, ob nicht nur an der Oberfläche von vielfältigen Wahrheiten geschürft wurde.

Hätte es Geschichten mit noch kritischeren Stimmen gegeben, die nicht nur unter die Haut, sondern bis in die Knochen gehen? Wenn ja, wäre dieser Band vielleicht nicht nur gesellschaftskritisch und unterhaltsam, sondern auch ein Weckruf geworden.

Und trotzdem hat es Abanis Kollektion von Werken verschiedenster Autor*innen geschafft, dass die Bilder und Geschichten von Lagos Lesenden noch eine Weile im Gedächtnis bleiben.

Anger, Love and Hope

Refuge ist ein Sammelband von JJ Bola’s besten Gedichten aus seinen vorherigen Gedichtbändern: Elevate (2012), Daughter of the Sun (2014) und Word (2015). Word war sein erfolgreichstes und reichhaltigstes Buch, das direkt ausverkauft war. Das Buch erschien zur Refugee Week 2015 und war direkt vergriffen. Aus dem Band Refuge wurde nach seinem erstmaligen Erfolg, während der Flüchtlingswoche 2018 (Refugee Week London) im britischen Unterhaus vorgelesen. Der Roman No Place To Call Home (2017) ist eine Geschichte von Zugehörigkeit, Identität und Einwanderung. Geprägt von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, von Verlust – nicht durch den Tod, sondern durch Distanz – und keineswegs durch Liebe.

JJ Bola kommt ursprünglich aus der Demokratischen Republik Kongo. Im Alter von sechs Jahren flüchtete er mit seinen Eltern nach London. Bis heute wohnt er dort und schwärmt im aktuellen Band von London, trotz der Schwierigkeiten mit denen er dort zurecht kommen muss: „-..the city lights sparkle, like a beautiful woman’s eyes, London always leaves me breathless.(‚london‘). JJ Bola ist heutzutage ein anerkannter und beliebter Autor und Dichter. Ebenso ist er aktiv für die Menschenrechte unterwegs und als Workshop-Leiter und Pädagoge tätig. Er tritt weltweit in vielen verschiedenen Shows und Festivals sowie auch in Universitäten auf (Tongue Fu, Vocals & Verses, University of Birmingham etc.). Ebenso kann man ihn in ausgewählten Radiosendungen hören und sieht ihn ab und zu im TV. JJ Bola’s Arbeit fokussiert sich auf poetische Erzählungen von Ermächtigung, Humanisierung, Heilung von Traumata sowie der Entdeckung des Ich’s durch Kunst, Literatur und Poesie. Er kreiert den immer beliebter werdenden Satz hype your writers like you do you rappers, und glaubt, dass der wahre Zweck der Poesie (Kunst) darin besteht, die Realität dieser Welt aufzudecken und dabei zu helfen, in dieser Welt zu überleben. Bola hatte es besonders am Anfang schwer in England als schwarzer Flüchtling anerkannt zu werden. In I found hip hop findet sich der Schmerz des Autoren wieder:…and excuse me that i still feel the pain if someone calls me and says that’s my n… because on the ships they used to call me n…. Er taucht mit diesem Zitat zurück in die dunkle Vergangenheit der Sklaverei und der Kolonisation. Diese Zeit ist vorüber, wir sind im 21. Jahrhundert, er fordert die Lesenden auf, ändert euch, ändert eure Sicht: think quicker. history is bigger than slavery and colonisation.. Er betont häufig das Problem des Rassismus in seinem Land. Die Rede ist vom systematischen Rassismus. In politics 101 wendet er sich direkt an die Politik,…our state of mind is poor…,…living like savages in an environment so primitive a knowledge…, …wage war. strategy four. reward those who conform to their system…, …the cataclysm’s got our tongue so, we stay silent…, …don’t trust what you read in the news or what you see on TV. Diese Zitate habe ich herausgepickt, da sie alle etwas darüber aussagen, warum das Problem von Rassismus und Ungerechtigkeit immer noch herrscht. JJ Bola stellt sich sehr kritisch gegen das politische System und will seinen Lesern mit diesem Gedicht die Augen öffnen. Versprochene Veränderungen werden nicht umgesetzt, die Probleme bleiben die gleichen,…to you, ‚change‘ is just a political sound bite to win you votes. to them, it was a symbol of hope, …lawlessness creates lawlessness, …if you cut we all bleed.. In if you cut (we all bleed)London, 2011, ärgert er sich über den Egoismus des Staates und dessen Gesetzlosigkeit und richtet sich mit seinen Aussagen direkt an das politische System.

Was mich positiv überrascht hat, war JJ Bola’s Hang zum Feminismus, der mir in einzelnen Gedichten auffiel. Er nimmt die Frauen in Schutz und entschuldigt sich für respektlose Taten. …I’m sorry for the deogatory epiphets and the slanderous names because we are not brave enough to rise up with you., (‚an apology‘). Er unterstreicht in seinen Gedichten die Fehler des Mannes. Dieser verhält sich nicht anständig und wurde/wird falsch erzogen. In real menbittet er die Männer sich zu verändern, Gefühle zuzulassen und ihre Söhne richtig zu erziehen. Die Definition des „echten“ Mannes basiert auf Lügen und Fehlverhalten: so be you. do not be confined by society’s ideals because real men don’t exist, only men who are real.

Gefühle. Ein starkes Wort. Ein Wort das vielseitig ist. Besonders das Gefühl der Liebe ist mächtig. Das zeigt uns Bola mit seinen ‚Liebesgedichten‘. Für ihn ist die Liebe essentiell für ein erfülltes Leben, „let love set us free“ (‚the key‘). Seine starke Verliebtheit spürt man im Gedicht i just wanna love her. Super kitschig, super romantisch, einfach toll zu lesen (als Mädchen). Er erzählt uns von seinem Schwarm. Mit jedem Vers wächst seine Schwärmerei noch mehr,…i just wanna love her like each day is the last and if i come to find, that tomorrow brings the end of my time i hope i’ll die her best friend. another thing i hope for is that i would have met her by then. Er verwendet traumhafte Wörter und schreibt so ein langes Gedicht für ein Mädchen, das er nicht einmal kennt. Melancholisch und charmant.

Obwohl JJ Bola kein einfaches Leben hatte und bis heute mit den gleichen Problemen zu kämpfen hat, ist er ein Optimist. Er fordert die Menschen auf richtig zu leben und nicht in Kummer zu versinken. Sie sollen trotz harter und steiler Wege niemals aufgeben und das Beste aus ihrem Leben machen (‚live‘ und ‚to those with wings for feet who keep running please do not run, fly‘). Beides tolle Gedichte, wenn man gerade in Selbstmitleid versinkt und eine Stärkung braucht.

JJ Bola ist ein einzigartiger Dichter. Alle Dichtungen sind kraftvoll, emotional und klar geschrieben. Sie haben mich tief berührt und zum Lächeln gebracht. Dieser Band ist sehr ausdrucksstark und widmet sich den aktuellen Problemen auf unserer Welt. Wie zuvor erwähnt, Rassismus und Ungerechtigkeit. Es ist schlimm anzuschauen was gerade passiert. Ich bin schockiert und sehr traurig. In this is not just betet Bola für alle Menschen, denen es gerade schlecht geht,…this is a prayer. This is eyes closed bended knees hands together in the air. This is for every struggle in humanity. From the Middle East to east Congo we are not alone. Er deutet klar daraufhin, dass wir Menschen zu einander stehen sollen und unsere gegenseitige Hilfe brauchen. Wir sind alle gleich. Nur zusammen als Team können wir etwas bewegen. Absolut wahr und absolut machbar. Seine Nachrichten an die Gesellschaft übermittelt er anhand seiner Gedichte, das spürt und fühlt man. Er will Probleme beseitigen, die Welt gerechter machen und das wahre schöne Leben leben. Ein toller Mann, ein toller Dichter.

Ich habe das Gedicht refugegewählt, da es zur momentanen schlimmen Situation in Amerika passt. Andersfarbige Menschen die nicht in ihrem Land wohnen, haben es oft sehr schwierig anerkannt und respektiert zu werden. Besonders dramatisch schaut es für die schwarze Bevölkerung aus. JJ Bola schreibt darüber, wie sehr sie versuchen sich an das Land anzupassen und täglich kämpfen endlich akzeptiert zu werden, they called us refugees so, we hid ourselves in their language until we sounded just like them.. Mit dieser Epiphrase macht Bola deutlich, wie stark man seine Kultur ablegen muss um dazuzugehören. Das reicht dennoch nicht. Die dunkelhäutigen Menschen werden bis heute nicht in Ruhe gelassen und bangen um ihre Existenz. Zwei Verse, mit der Verwendung der Repetitio (Wiederholung) unterstreichen die Angst der ‚Schwarzen‘ deutlicher: …and tell stories of monsters that lurked and came only at night to catch the children who sat and listened to stories of monsters that lurked., sowie „..be glad that the monsters never came for you. in their suits and ties. never came for you. in the newspaper with the media lies. never came for you. that you are not despised.. Mit monsters(Antonomasie) meint er vermutlich die Polizei, die immer „auf der Jagd“ nach ihnen ist. Sie fühlen sich nicht sicher und geborgen in ihrer Heimat. Sie fühlen sich ausgestoßen und sind in täglicher Gefahr. Es fühlt sich an wie der erste Tag seiner Ankunft in London: …everything was foreign. unfamiliar. uninviting. (Klimax)even the air in my lungs left me short of breath (Hyperbel). In Schwierigkeiten mit der Polizei zu geraten ist einer der größten Ängste der ‚Dunkelhäutigen‘. Denn das geht leider schnell.

Dieses Gedicht ist kraftvoll und hat mich verärgert. Es erschüttert mich immer wieder zu lesen, wie die Ausländer (insbesondere afrikanische Menschen) behandelt werden. Es kann nicht sein, dass wir heutzutage immer noch Rassismus so tief in unserer Gesellschaft verankert haben. Das muss sich ändern. Sofort. Man muss dieses Problem zusammen anpacken und ein für alle Mal beseitigen.

Am Samstag war ich auf der Anti-Rassismus Demo in Berlin und habe das Gefühl der Stärke von Zusammengehörigkeit gespürt. Das Wichtigste an dieser ganzen Sache ist, dass wir Menschen endlich zusammenhalten müssen. Nur zusammen als Team kann man funktionieren und etwas verändern. Nur zusammen kann man es schaffen. Egal welche Hautfarbe. Wir sind alle Menschen und verdienen es zu leben. Es muss Gerechtigkeit her und zwar jetzt.

Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden. Black Lives Matter.

Welcome to Houston

Bryan Washington, geboren 1993, ist ein amerikanischer Autor und kommt aus Houston, Texas. Seine Aufsätze und Fiktion Texte erschienen in vielen Zeitschriften, sei es The New York Times Magazine, The Paris Review, American Short Fiction oder Sender die über seine Werke berichteten wie BBC oder BuzzFeed. Man könnte noch eine Menge weiterer aufzählen. Seine ersten Romane Memorial und Lot erschienen 2020. Für sein Werk Memorial heimste er sich viel gute Kritik ein. The New York Times bezeichnete den Roman als ‚Notable Book of 2020‘ und TIME hat das Buch als „Ihr Roman des Jahres“ benannt. Noch mehr positives Feedback bekam er von Entertainment Weekly, Vanity Fair, etc.

Nachdem Memorial so gut bei der Gesellschaft ankam, brachte er direkt mit dem Verlag ‚Atlantic Fiction‘ seinen zweiten Roman Lot heraus.

Eine Story, die das alltägliche Leben der Houston’s Black und Latin Arbeiter zeigt, Ihnen eine Stimme gibt. Dreizehn unterschiedliche Geschichten über Erfahrungen mit Liebe, Eifersucht, Hass, Familie, Freundschaft…Erzählungen, die einen in das Leben der einzelnen Figuren eintauchen lassen. Der Junge der uns all die Geschichten erzählt, ist selbst Bewohner von Houston und all die Leute über die wir etwas erfahren, sind seine Nachbarn. Wir Leser*innen sind nun, sozusagen, auch Nachbarn.

Bryan Washington’s Hauptfigur ist ein Afro-Latino Junge der homosexuell ist und mit den Schwierigkeiten von Akzeptanz, Rassismus und Armut im Alltag konfrontiert wird.

Die erste Geschichte fängt damit an, wie der Junge seine Sexualität kennenlernt, nachdem er frisch mit seiner Familie nach Houston umgezogen ist, Roberto kennenlernt und die beiden sich direkt anfreunden.

Als homosexueller, Afro-Latino Junge hat man es schwer jemanden zu finden, so lässt er uns wissen:

to dark for the blancos, to latin for the blacks. Anhand dieser Aussage sieht man, dass der Rassismus tagtäglich eine Rolle spielt, selbst beim Sexleben.

Ein weiteres Thema, betrifft seine Familie. Seine Brüder und er munkeln darüber, wo deren Vater stecken könnte und wieso er so spät nach Haus kommt. Ihnen allen ist klar, er betrügt die Mutter. Sie fragen sich wieso und suchen nach ausschlaggebenden Gründen: „She’s gotta be white, said Javi. He’s already got a nigga. Otherwise there’s no fucking point. She could be Chinese, I said. Or mixed. She could be like us. Why the fuck would he leave home to go back home. Doesn’t matter what she looks like, said Jan. The point is that he’s gone.“

Übliche Familienprobleme, die manch einen auch betreffen. Washington gibt uns Einblick in das Heim von Menschen. Mit all seinen schönen und nicht so schönen Seiten.

Geschwister die spekulieren, zusammenhalten, ihren Vater nicht verstehen und zu ihrer Mutter halten. Unsere Hauptfigur lernt viele unterschiedliche und auch interessante Leute aus ihrer Nachbarschaft kennen. Wie Gloria, eine Frau, die gerne verreist, die Welt entdecken möchte und Literatur von alten, toten Männern liest: „It’s just another way to talk to the dead, she said. It’s another way to make a way, she said.“

Ich finde das Buch ansprechend und auch herzig geschrieben. In einem originellen Slang, mit Charakter und Persönlichkeit verpackt. Herzzerreißende Geschichten, stark und mutig präsentiert. „Audacious…Profound“, ‚New York Times‘, „Enthralling…Subtle but bruising“, ‚Guardian‘. Ein tolles Band voller Leben. Absolut lesenswert!

Neues Leben, neues Glück?

Helon Habila wurde 1967 in Nigeria geboren und arbeitet heute als Professor für kreatives Schreiben an der George Mason Universität. Mit seiner Frau und seinen drei Kindern wohnt er in Virginia. Er studierte Literatur an der Universität von Jos, in Nigeria. Später, 1999, ging er zurück nach Lagos, um dort als Journalist tätig zu werden. Er begann Kurzgeschichten sowie Gedichte zu schreiben und war ebenso als Literaturredakteur tätig. Für seine Arbeit erhielt er mehrere Preise, unter anderem den nationalen Lyrikpreis für das Gedicht Another Age. Im Jahr 2000 erschien sein erstes Kurzgeschichten-Band: Prison Stories. Direkt danach folgten mehr und mehr Werke des renommierten Autors. Love Poems erregte internationale Aufmerksamkeit und gewann den Caine-Preis für afrikanische Literatur. Weiter folgte ein Roman, der von Love Poems abgeleitet wurde: Waiting for an Angel, ein Roman über politische und soziale Strukturen während der Diktatur in Nigeria. Dieses Buch wurde mit dem Commonwealth Writer’s Best First Book (Africa Region) ausgezeichnet. Auch in Deutschland ist Habila ein Bestseller-Autor. Mit seinem Kriminalroman Oil on Water belegte er Platz zwei in der Kategorie für Internationale Krimis beim Deutschen Krimi Preis. Er hat noch viele andere tolle Werke geschrieben, bei denen es sich lohnt, vorbei zu schauen. Wie wir wissen, ist Habila Experte für Kurzgeschichten und gewann sogar wichtige Schreibwettbewerbe. Das Buch, dass ich Euch heute vorstellen möchte heißt ‚Travellers‘. Dieser Roman erschien zuerst 2019 in den USA (W.W. Norton and Company Verlag), dann auch in Großbritannien (Hamish Hamilton Verlag) und 2020 publizierte der Penguin Books Verlag diesen Roman als Taschenbuch.

Die Originalsprache dieses Romans ist englisch und er wurde von mir auch auf englisch gelesen, wie auch alle weiteren Romane.

Mit dem Roman ‚Travellers‘ eröffnet uns Habila eine eindrucksvolle Tür mit so vielen unterschiedlichen Facetten und Farben, die uns das Leben von Migranten anhand verschiedener Kurzgeschichten mitteilt.

Sei es das Leben der Transgender-Person, die in Deutschland hofft, endlich anerkannt und frei leben zu können. Oder das nigerianische-amerikanische Paar, dass zusammen versucht mit ihrem Kunststipendium in Berlin ein neues und besseres Leben zu beginnen. Auch vom  Doktor und Vater aus Libyen, der seine Frau und sein Kind während der Reise nach Deutschland verloren hat, wird erzählt. Sowie vom Vater und Ladenbesitzer aus Somalia, der alles versucht um seine Tochter vor der Zwangsehe zu schützen. Geschichten von emigrierenden Seelen, die alle auf der Suche nach einem erfüllteren Leben sind.

Im Roman werde auch typische Stereotype dargestellt, Stereotype, die Menschen aus anderen Ländern mit anderer Kultur, Religion und Hautfarbe gleich in eine Schublade stecken wollen und ihnen keine wirkliche Chance geben. Why,.do white people always assume every black person traveling is a refugee?. Ein Zitat aus der Geschichte des Studenten namens Mark aus Malawi. Es wird auch erzählt wie es in den Flüchtlingslagern

aussieht und was dort vor sich geht. Erschreckende Worte die einen schmerzen.

A week ago a man hanged himself in one of the bathrooms. Another woman went crazy and started screaming for no reason around the camp, she was subdued, but that night she stopped herself to death. Another man managed to scale this fence and threw himself into the waves, he drowned immediately.. Erzählt wird das vom Direktor des Flüchtlingslagers. Meiner Meinung nach ist es wichtig auch Textstellen wie diese zu zeigen, um zu verdeutlichen, dass es Migranten ganz und gar nicht einfach haben ein neues Leben, einfach mal so, zu starten. Habila verschafft uns mit dem Roman Einblicke in die Höhen und Tiefen der Reise von Migranten. Am meisten mitgenommen haben mich Erzählungen darüber, wie schwer es für Ausländer ist, in einem anderen Land ein Leben beginnen zu dürfen. Der Roman hat mich emotional mitgenommen und bleibt unbedingt in meinem Gedächtnis. Es ist gut und schön geschrieben und entwickelt direkt Empathie mit den einzelnen Personen im Roman.

Ich empfehle jedem das Buch. Diesen Roman sollte jeder gelesen haben, da dieses Thema jeden betrifft. Ein Roman, den man nicht so schnell vergisst.

Ada’s Schatten

Akwaeke Emezi ist halb Igbo und halb Tamil. Sie wurde 1987 in der Hauptstadt des nigerianischen Bundesstaates Abia, im südlich liegenden Umuahia geboren und wuchs ebenfalls in Nigeria auf. Von 2010 bis 2012 studierte Sie in New York, an der Universität für Internationale Politik und Nonprofit Management. Ab 2014 bis 2016 nahm Sie an der New Yorker Syracuse Universität an einem Kurs für kreatives Schreiben teil. Emezi schrieb zunächst für Einzelne Magazine, wo sie ihre Kurzprosa rausbrachte. Schon dort gewann Sie den Preis „Best Culture Writing of 2015“, für Ihren Text über die Herkunft (Who Will Claim You) in der Zeitschrift The Fader’s mit Who Is Like God

(https://granta.com/who-is-like-god/) erhielt sie 2017 den Commonwealth Short Story Prize für Afrika. Heute schreibe ich über Ihren ersten Roman Fresh Water, der 2018 bei Faber & Faber Limited, London erschien. Meine gelesene Ausgabe wurde 2019 herausgebracht. 

„Freshwater“ erzählt die Geschichte von Ada, einem etwas ungewöhnlichem Kind einer nigerianischen Familie. Ein ‚Problemkind‘ mit aggressivem Verhalten. Sie reist für ihr Studium nach New York und realisiert dort, warum sie sich anders fühlt als die anderen, sie entdeckt ihre verborgene, innere Kraft. Das Unterbewusste wird ihr bewusst. Das ‚neue Leben‘, dass seit ihrer Geburt in ihr schlummert und endlich ‚raus‘ darf, richtet ziemlichen Tumult in Ada’s Leben an. I started to come out more and more. On the porch of Lukas house, , I discovered that i could put out a cigar on Adas palm and a blister would rise.. Das Versteckte Etwas, das liebt Unheil anzurichten und Ada’s Leben an sich zu reißen. Auch eine Romanze im Roman kommt hier nicht zu kurz. Ada ist so sehr in Ewan verliebt, dass sie fürchtet, ihn zu verlieren. Um keinen Preis will sie, dass er über das ‚zweite Gesicht‘ erfährt. 

Der nächste Textausschnitt ist Ada’s Tagebucheintrag an Ewan, den ich sehr schön finde und mit euch teilen will: I will never forget how it felt to be overwhelmed by your beauty. You made me feel so alive so right, and I know that in the real world, I will feel nothing for you and I will move on, and well follow these rules because when it comes down to survival, we have to. I envy your girl, the one who holds your heart. If you ever need a break from this world, call me. I will come to you in a heartbeat and we will steal time.

Leider ist es nicht einfach so zu leben wie man möchte, wenn man etwas in sich hat, dass über dein Leben regieren will und alles in einer sehr hedonistischen Art und Weise. I remembered not being myself, just being a piece of a cloud. I was careless with her body, sha, not thinking about the responsibilities of having flesh. Consequences were a thing that happened to humans, not me..

Emezi’s Schreibstil ist sehr gut und sehr schön verpackt worden. Alles ist verständlich und übersichtlich geschrieben. Ich finde die Geschichte so toll und genial. Dieser Roman ist echt einer meiner Lieblinge geworden. Wie das i-D magazine sagt: An extraordinary debut noveloriginal an affecting.. „Fresh Water“ hat mich echt weggeblasen und ich lese es gerne ein zweites, drittes, viertes Mal. Eine eindrucksvolle, surreale Geschichte die es in sich hat. Bitte lesen!

„Korede, I Killed Him“

My Sister, the Serial Killer von Oyinkan Braithwaite, 2019 als Taschenbuch (Atlantic Books Verlag) herausgebracht, ist ein Kriminalroman mit einem Touch von Humor. Die Autorin wurde 1988 in Lagos/Nigeria geboren, wuchs dort auf und verbrachte ebenfalls einen Teil Ihrer Kindheit in Großbritannien. Sie studierte Jura und Kreatives Schreiben an der Kingston Universität in Jamaica sowie an der Surrey Universität in England und schloss erfolgreich Ihr Studium ab. Zuerst begann Sie Kurzgeschichten zu schreiben und brachte 2010 ein Band mit dem Titel The Driver heraus. Im Jahr 2018 startete Sie mit Ihrem ersten Roman My Sister, the Serial Killer durch. Und das, erfolgreich: „Leaves you torn between laughing and crying“-VOGUE, „A Literary Sensation“-GUARDIAN, „Fiendishly talented“-THE TIMES. Kommentare von weltberühmten Magazinen, die die Newcomer-Autorin strahlen lassen. Sie gewann 2019, als bester Kriminalroman, den LA Times Award, ein Jahr später dann auch noch den British Book Award. Sie wurde mehrmals nominiert und erhielt weitere Preise.

In dem Kriminalroman geht es um zwei Schwestern die unterschiedlicher nicht sein können. Korede und Ayoola. Korede ist die Hauptfigur, sie leitet uns durch die Geschichten, durch ihr Leben. Sie ist Krankenschwester, introvertiert und wünscht sich Liebe. Ihre Schwester Ayoola jedoch ist komplett anders. Sie ist extrovertiert, selbstbewusst und unberechenbar. Ayoola ist eine Serienmörderin. Korede ist die Einzige die davon weiß, sie ist Ayoola’s zweite Hand: First, the gather supplies()Second, they clean up the blood()Third, they turn him into a mummy()Fourth, they move the body.. Es sind nicht irgendwelche die Ayoola umbringt, es sind ihre Boyfriends. Femi ist nun schon der dritte. Während Korede ihr schlechtes Gewissen plagt, interessiert sich Ayoola weiterhin für Männer und geht mit der ganzen Sache unbekümmert um. Als Korede dann noch erfährt, dass ihre Schwester es auf ihren Schwarm Tade abgesehen hat, dreht sie innerlich durch. Der Einzige dem Korede vertraut und alles erzählt ist ihr Patient Muhtar, der im Koma liegt: Everyone is obsessed with her looks, MuhtarHe tells me he isnt, and I laugh. Youve never even seen her.

Korede glaubt, dass ihre Schwester das Böse von deren Vater geerbt hat. Da Blut dicker als Wasser ist, traut Korede sich bald selbst nicht: Is it in the blood? But his blood is my blood and my blood is hers..

An Femi’s Nachnamen konnte Ayoola sich nicht erinnern, jedoch an sein Gedicht an sie: I dare you to find a flaw, in her beauty; or to bring forth a woman, who can stand beside, her without willing.Warum hat sie Femi, nach so einer Liebeserklärung, umgebracht?

Dieser Krimiroman ist ein klasse Werk mit viel Charme und humorvoller Stimmung ab und an. Man möchte weinen oder lachen. Die Charaktere dieses Buches sind einzigartig. Besonders Ayoola’s Figur fand ich spannend und amüsant. Der Schreibstil ist einfach und sehr verständlich. Den Krimi hat man schnell, anhand der kurzen Kapitel, durchgelesen aber will eigentlich gar nicht, dass diese schwarze Komödie aufhört. Über eine Fortsetzung vom bitterbösen Roman würde ich mich freuen. 

Gerne auch neue Werke der jungen Autorin. Weiter so Oyinkan!

Ludo’s Vier Wände

José Eduardo Agualusa, ein genialer Schriftsteller, mein absoluter Lieblingsautor. Er wurde 1960 in Angola geboren und lebt als freier Schriftsteller und Journalist zwischen Portugal, Angola und Brasilien. Er hat seinen eigenen Verlag „Lingua Geral“ (seit 2006) und ist bekannt geworden durch seine Bänder mit Kurzgeschichten und seinem Lyrikband. Einer seiner bekanntesten Werke ist „Das Lachen des Geckos“, dieser Roman gewann 2007 den Independent Foreign Fiction Prize. Zuvor hatte ich schon eine Rezension über eins seiner Werke verfasst. „Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer“ ein spitzen Science-Fiction Roman mit schöner Poesie. Das nächste Buch das ich euch empfehlen möchte ist „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“. Zuerst erschienen 2016 in Vintage, des Penguin Random House UK Verlag. Aus dem angolanischen – Portugiesisch von Daniel Hahn ins Englische übersetzt worden (2015). Eine wahre Geschichte die verblüffend ist.

Als die angolanische Revolution beginnt, versteckt sich Ludovica mit einer Leiche in ihren eigenen vier Wänden, für dreißig Jahre. Sie wohnt in einem gewöhnlichen Hochhaus, mit noch anderen Leuten, in Luanda. Sie versorgt sich ganz allein und schottet sich komplett von der Außenwelt ab. Sie baut selber Gemüse auf ihrer Terrasse an und fängt Tauben um ihren Hunger zu stillen. Jeden Tag schreibt sie etwas in ihr Tagebuch und dichtet. Nicht nur auf Papier findet man ihre Schreibereien, auch an den Wänden wird geschrieben und gedichtet. Da Ludo absolut gar nicht mitbekommt, was gerade auf der Welt vor sich geht, findet sie ihre eigenen Wege um an Informationen gelangen. Sei es durch das Radio, durch Zeitungsschnipsel oder das einfache Belauschen ihrer Nachbarn. Diese flüchtigen Eindrücke helfen ihr sich ein Bild vom Zustand ihres Landes zu machen. Wir Leser*innen schauen selbst in das Land und lernen Opfer, Täter, Feinde, Revolutionäre sowie Profiteure dieser Zeit kennen, der Zeit von, Angola’s Kampf um Unabhängigkeit. Sei es der Musiker mit seinem weißen Lächeln, der nach Luanda geht nachdem Angola als unabhängig betitelt wurde und dort musizieren kann um sein Brot zu verdienen oder Jeremias, der eine zweite Chance erhält. Als Jeremias aus seinem langen Koma erwacht sieht er eine große fette Frau die ihn mit großen Augen anschaut aber mit klaren Worten sagt: „Yesterday they announced your death in the newspapers. They published a photograph – it was quite an old one, I almost didn’t recognise you. They said you were the devil. You died, you were reborn and you have another chance, Make the most of it.“

Wird Jeremias seine zweite Chance nutzen oder bleibt er der Teufel des Landes?

Unsere Hauptfigur Ludo verbringt keinen einzigen Tag draußen, dennoch findet sie Lust am Schreiben und somit entstehen wahre Kunstwerke in ihrer Wohnung. Überall findet man Geschriebenes, Dichtungen. Die dreißig Jahre ihres Eingeschlossenseins verfasst auf Blättern und Wänden. Ihr erster Tagebuch Eintrag wurde am 23. Februar 1976 geschrieben: „Nothing happened today. I slept. While asleep I dreamed that I was sleeping. Trees, little animals, a multitude of insects were sharing their dreams with me. (…) I awoke and was alone. If, while we are asleep, we can dream of sleeping, can we then, when awake, awaken within a more lucid reality?“ Man spürt die Einsamkeit und die Nachdenklichkeit bei Ludo. Sie sammelt durch ihre Texte ihre Gedanken und ersetzt dadurch die Kommunikation mit dem Mitmenschen.

Besonders toll finde ich Agualusas Arbeit mit der Poesie die mir immer wieder auffällt.

I carve out short as prayers, words are legions of demons expelled, I cut adverbs pronouns, I spare my wrists“. Ein kurzes Gedicht, das alles sagt, Ludo’s innere Welt veranschaulicht. Agualusa schafft es erneut uns mit diesem Roman zu überraschen. Eine geniale, wahre Geschichte, die man nicht aufhören will zu lesen. Bei Agualusa habe ich immer das Verlangen weiterzulesen, ohne Pause. Er kann die Leser mit in seine Welt hineinziehen. Und das ist, ganz große Kunst. Die verschiedenen Perspektiven der Figuren sowie die Tagebucheinträge und Gedichte so miteinander zu verbinden, ist interessant und toll. Geschichte, Spannungsfaktor, Schreibstil, top. Ein Roman und Autor zum Weiterempfehlen. Agualusa weiß einfach echt was ein guter Roman mit sich bringen soll. Fantastisch!

„Es ist unser Traum!“

José Eduardo Agualusa  ist ein weltweit bekannter und gefeierter Autor. Als Schriftsteller und freier Journalist wohnt er abwechselnd in Portugal, Angola und Brasilien. Der gebürtige Angolaner wurde 1960 in der Stadt Huambo geboren. Er studierte später Agrarwissenschaft und Forstwirtschaft in Lissabon, Portugal. Seine Werke umfassen Romane, Kurzgeschichten und Lyrikbände. Diese wurden mittlerweile in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Er gewann mehrere Literaturpreise, unter anderem, für sein Werk O Vendedor de Passados [dt. Titel Das Lachen des Geckos, übers.: Michael Kegler, A1 Verlag, München, 2008]. Dieser Roman (den er sogar in Berlin schrieb) erhielt 2007 von der britischen Zeitung ‚The Independent‘ den Preis für das beste ausländische Werk.

Der Fokus von Agualusa’s Werken liegt auf den Eigenarten afrikanischer Merkmale, wie diese in Europa und Brasilien auftreten und in der Gesellschaft gesehen werden.

Auch, wie afrikanischer Merkmale in Europa und Brasilien auftreten und in der Gesellschaft gesehen werden. Geschichte und Fantasie bestimmen seine Bücher. Er erzählt historisch und teils realistisch mit einem Touch von Fantasie. Er stellt das Groteske in die Gesellschaft und deutet auf die Naivität dieser hin. Denn die Figuren der Geschichte nehmen das Absurde an, ohne es wirklich wahrzunehmen.

Kommen wir nun zum Roman ‚Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer‘, ein Text, der die Ängste, Hoffnungen und Vorahnungen eines Menschen widerspiegelt. Ein Mensch auf der Suche nach etwas Bestimmten. Diese Suche ist dennoch tiefer verankert als die Wirklichkeit es zulässt, nämlich in den Träumen.

Der Roman spielt in den Jahren 2015/16 Angolas mit Erinnerungen an den Bürgerkrieg. Er bezieht sich auf die Ereignisse von 2015 und fiktionalisiert diese. Seien es die Regierungskritischen Jugendlichen hinter Gittern oder die langen Schatten der Partei nach dem Bürgerkrieg.

Gleich zu Beginn des Romans lernt Daniel Benchimol den ehemaligen Soldaten Hossi kennen. Hossi hat viel Erfahrung mit Träumen gesammelt und erzählt über die damalige Verbindung von Träumen, Kontrolle und Spionage:Die Leute träumten von mir, wenn ich in der Nähe war…Träume genau wie das Leben sei, nur ohne die große Lügen des Lebens.“ Daniel träumt viel und ist verwirrt, dennoch glaubt er daran, dass die Träume eine größere Bedeutung haben. Er findet Anhänger dieses Glaubens, Moira und Helío. Zusammen planen sie Großes, ein Traumlabor: Wir müssen dem Traum seinen praktischen Nutzen zurückgeben., denn, Viele Erinnerungen, die wir vergessen glaubten, kehren im Traum zurück. Das sind Aussagen, die diese Gruppe verbindet und zu selbständigen ‚Traumforschern‘ macht.

Agualusa kritisiert die Politik und die Gesellschaft zu der Zeit. Er macht Andeutungen über Rassismus und beschwert sich über das repressive staatliche System mit Sätzen wie: Dass man in einem Drittweltland geboren ist, merkt man daran, dass man mehr Angst vor der Polizei hat als vor Verbrechern.

Von den 17 Aktivisten im Roman ist eine Daniel’s Tochter Karinguiri. Sie kämpft mit den anderen für ein freieres, gerechteres und demokratischeres Land, jedoch mit den dramatischen Folgen der Internierung, die in einen Hungerstreik münden. Das Regime wird im Roman als ein schwaches dargestellt, was Karinguiri’s Worte unterstreichen: Wieso also fürchtet ihr Euch vor einem Regime, das schon zittert, wenn sieben Jugendliche, die absolut keine Macht haben, ihre Stimme erheben? Mit „Euch“ meint sie die Bevölkerung und will diese dazu auffordern „mitzukämpfen“, ohne Angst.

Die Geschichte wechselt oft zwischen Gegenwart und Vergangenheit, sowie zwischen der Perspektive von Daniel und Hossi. Die Textanteile des Letzteren sind poetisch gestaltet worden und grandios zu lesen. Ebenso gefallen mir die einzelnen Theorien über die Träume, die erwähnt werden. Ich selber bin interessiert an der Traumwelt und fand es spannend die Träume auf verschiedenen Ebenen zu betrachten. Träume aus der Vergangenheit und Zukunft sowie Träume im Zusammenhang mit Gefühlen und Erinnerungen. Die Geschichte ist wie ein Puzzle, das man zusammensetzen muss. Außerdem blieben bestimmte Zitate von den Figuren des Romans bei mir hängen, die ich gerne mitnahm. Ein Buch voller Emotionen und Lebensweisheiten. Ein Roman voller Unterhaltung, der im Gedächtnis bleibt und den man gerne ein zweites Mal liest.

Unberechenbar, gefährlich, Lagos.

Lagos. Die größte Stadt Nigerias mit über 22 Millionen Einwohnern. Der Band ‚Lagos noir‘ gibt uns einen Einblick in die dunklen Seitengassen dieser Stadt, überschwemmt von Chaos und Kriminalität. Auf den Inseln Ikoyi und Victoria Island sieht man eine positive Veränderung. Dort dennoch, hat sich nun die Elite angesiedelt. Für sie sieht es sonniger aus als für manch andere in Lagos. Die ärmere Bevölkerung hat immer noch mit denselben Problemen zu kämpfen. Ohne Geld wird man von Lagos gefressen. Geld ist Sicherheit. Sicherheit gibt einem die Polizei. Hat man dennoch kein Geld, erhält man auch keinen Schutz.

Dass Polizisten sich bestechen lassen, ist in den Geschichten aus Lagos noir Alltag. Eine Hand wäscht die andere. Bereist die erste Kurzgeschichte erzählt von der verbreiteten Korruption im Polizeisystem Nigerias. What They Did That Night handelt davon, wie der Unteroffizier Gabriel eine Bande auf frischer Tat ertappen will. Doch er ahnt er nicht, was für schwere Steine ihm in den Weg gelegt werden. Erstklassig von dem nigerianischen Schriftsteller Jude Dibia, der in Lagos geboren wurde, geschrieben. Dibia ist einer der populären Autoren in Afrika. Er wurde bekannt durch seine speziellen und in Afrika überragenden Themen. Sein in 2007 veröffentlichter Roman Walking with Shadows erzählt von der Homosexualität unter verheirateten Männern in Afrika.

In Lagos noir schreibt der Herausgeber Chris Abani über Homosexualität in Nigeria als Mordmotiv und gesellschaftlichem Tabu. Dies ist ein schwieriges und noch nicht anerkanntest Thema im Land. Wenn ein Autor über diese Problematik schreibt, zeigt er wahren Mut. In Killer Ape ist die Hauptfigur ein homosexueller Polizeiermittler namens Okoro, dessen Vorbild Sherlock Holmes ist. Er beschließt seinen Fall zu fälschen. In Schwierigkeiten geraten will er nicht. „This was one of those moments when he was grateful there was a line to toe.“, der finale Satz der Erzählung und somit die finale Entscheidung von Okoro. Abani ist ein weltbekannter und geliebter nigerianischer Diaspora Autor, der für sein Werk schon mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. In einer seiner populärsten Fiktionen The Secret History of Las Vegas soll Detektiv Salazar Mordtaten ermitteln und trifft dadurch auf viele dunkle Geheimnisse der Stadt. Als Herausgeber von Lagos noir bringt Abani Autoren zusammen, die großartig schreiben und alle Lagos selbst erfahren haben. Nicht nur prominente Autoren wie A. Igoni Barrett durften zum Band Lagos Noirbeitragen, auch „Neulinge“ haben ihren Platz in diesem Sammelband, der afrikanischen Kriminal- und Stadtliteratur in sich vereint.

A. Igoni Barrett ist ein junger Autor und Kurzgeschichten sind sein Ding. Für Lagos noir schrieb er eine kurze Story über eine große, fette Ratte die einen Mann verfolgt.

Alle Kurzgeschichten des Bandes zeigen uns andere, persönliche Schwierigkeiten, mit denen die Einwohner Lagos’ konfrontiert werden. Die Probleme erstrecken sich von Korruption im Polizeisystem bis hin zum Post-Kolonialismus. Die Geschichten spiegeln die Ängste und Sorgen der Bevölkerung wider und hinterlassen unweigerlich Spuren bei den Lesenden.

Lagos noir veranschaulicht tiefergehende Probleme, zusammengebracht in einzelnen Erzählungen von Autoren mit diversem Hintergrund. Viele der Stories implizieren eigentlich genau das, was man als westliche Person über Afrika denken würde. Chaos, Betrug, Korruption. Und die Bevölkerung von Furcht erdrückt. Einzelne Geschichten lassen einen buchstäblich kurz den Atem anhalten. So in Heavens Gateverfasst von der nigerianisch-belgischen Schriftstellerin Chika Unigwe. Zu Beginn der Geschichte wird die „Gesetzeslage“ in Lagos wie folgt zusammengefasst: “Lagos police and commercial drivers had an unwritten agreement: the latter were fair in the amounts of bribes they gave and the former never assaulted them.”.

Es ist erschreckend wie dort alles geregelt wird. Was wir im Westen als ’normal‘ betrachten, wird in Lagos bewusst abgelehnt. Dort herrschen andere Regeln. Dort geht es um das eigene Überleben. Hier wird nicht unbedingt nach dem Gesetz gelebt. Das Gesetz wird jedes Mal betrogen. Zugunsten des eigenen sicheren Lebens. Schuldige sind ‚unschuldig‘ und man versichert sein Leben indem man Polizisten bezahlt. Geld regelt in Lagos den Status. Wer mehr hat, der ist auch mehr wert. Die Kluft zwischen arm und reich ist groß. Der Hass der ärmeren Bevölkerung auf die Elite ist enorm, wie besonders in Dibias Geschichte gelungen dargestellt wird. Die Oberschicht hat viel Geld und somit weniger Probleme. Wie groß der Einfluss der Elite ist, beschreibt Abani in Killer Ape.

Das Genre Fiktion ’noir‚ (Roman ‚noir‘) schließt in diesem Band Kriminal- sowie Stadtliteratur ein. Die Kriminalliteratur ist eine postkoloniale Literatur, adaptiert aus der westlichen Welt und gehört dennoch mittlerweile zu den attraktivsten Unterhaltungsgenres Afrikas, in denen die jeweiligen lokalen Realitäten widergespiegelt werden. Fiktion ‚noir‘ gibt es schon länger auf dem Markt, erreichte jedoch seit dem Jahr 2000 einen besonderen Aufschwung. Lagos noir stellt mit seinen Kurzgeschichten die Justiz sowie Gesellschaftsordnung Nigerias in Frage.

Auch als Stadtliteratur ist Lagos noir ein attraktiver Band. Die Autoren lassen uns in jeder Ecke von Lagos, Mäuschen spielen, sei es in Randgebieten oder mittendrin in der lebendigen Stadt. Alle Figuren sind von der Stadt geprägt und alle Geschichten spielen sich nie außerhalb des ausgewählten geographischen Raumes ab. Nnedi Okorafor, eine nigerianische-amerikanische Schriftstellerin, hat für den Band eine Geschichte über einen außergewöhnlich interessanten Charakter geschrieben und seine Umgebung gut rübergebracht. Dieser heißt Showlogo und er arbeitet auf einer Farm in der Stadt. Ich fand den Mann mit den Superkräften auf Anhieb sympathisch. Okorafor besitzt das kostbare Talent, als Autorin die Figuren einer Story, dem Lesenden nahe zu bringen.

Genau das macht dieses Buch so effektvoll. Als Lesende erhält man einen gekonnten Überblick über die Stadt. Man lernt die einzelnen Stadtviertel kennen, deren Eigenschaften und deren Leute. Man erfährt, wo die Elite wohnt und wo Armut herrscht. Wir lernen die Einwohner Lagos kennen. Jedes Mal aus einem anderen Blickwinkel. Durch den Stil der verschiedenen Autoren ist jede Kurzgeschichte auf ihre spezielle Art und Weise immer wieder eine unerwartete Überraschung. Es ist auch interessant zu sehen worüber die einzelnen Autoren schreiben. Wer sieht wo Probleme in der Gesellschaft von Lagos und wo Gefahr? Es gibt Überschneidungen bei den Autoren, ebenso Unterschiede. Als Leserin möchte ich direkt eine Kurzgeschichte nach der anderen lesen. Die Kurzgeschichten sind an eine Leserschaft gerichtet, die nicht 300 Seiten mit ein und derselben Geschichte verbringen wollen, sondern die Abwechslung lieben. Dieser Sammelband ist für die Lesenden unter uns, die unerwartete Wendungen mit dunklem Touch interessant finden. Die jedes Mal erneut die Neugier antreibt, was diesmal Unglaubliches in Lagos passiert ist. Das Buch bleibt durchgehend spannend und aufregend. Die Vielfalt der Kurzgeschichten von unterschiedlich erfinderischen Autoren, schaffen es jedes Mal, leuchtende Augen zu erzeugen und bleiben tief im Gedächtnis haften. So eine bunte Palette an eindrucksvollen Krimi-Kurzgeschichten über Lagos finden wir wirklich nur in diesem Taschenbuch.

Lagos noir ist Teil der weltbekannten City noir Buchserie von ‚Akashik Books‚. Diese Krimireihe hat insgesamt großen Erfolg erlangt und sogar einen Award erhalten. Crime Fiction erzählt aus aller Welt, von Berlin bis nach Lagos. Die Geschichten sind in erstklassigem Stil geschrieben und strahlen pure Lebendigkeit aus. Die Lesenden werden zum Teil der Stadt und ihrer Schattenseiten. Lagos noir ist spannend zu lesen, da der Ansatz von Problemlösung gegen die Kriminalität sehr speziell ist und man jedes Mal über den Ausgang der Geschichte verblüfft wird. Lagos ist eine einprägsame, gefährlich schöne Stadt. Der Band Lagos noir ist für ein Publikum interessant, das etwas Neues lesen will, das anders ist als die gewöhnlichen, bekannten Krimi-Stories. Auf jeden Fall ein Muss für alles Crime Fiction Fans unter uns.

Respekt!

Ein kleiner Junge. Irgendwo in Kinshasa. Barfuß. In einem weißen Hemd und blauen Denimshorts. Hält einen Mikro. Er schaut dich an. Sein Blick ist selbstbewusst. Ein wenig traurig. Mit einem Vorwurf in den Augen:

„[…] we lose our humanity. every time we stare at television. every time we eat in McDonalds. sat by the window seat of a Starbucks with a cappucino reading the latest pop book. every time we download an app on our iPhone. iPad. I am alone.“
– This Is Not Just (S. 51)

Etwa so trifft uns JJ Bola mit seiner Gedichtsammlung Refuge und heißt uns willkommen in seiner Welt. In einer Welt voller Liebe, Schmerz, Empörung und Imperativ. Der Sammelband besteht aus ausgewählten Gedichten, die bereits früher publiziert wurden, sowie neuen Material.

Der Sammelband ist sehr konsequent aufgebaut, was die Entwicklung des Autors betrifft. Ob dieser Aufbau bewusst gewählt wurde oder eine Chronologie als Basis diente, ist unbekannt. Tatsache ist, dass der Entwicklungsweg von JJ Bola als Dichter nicht nur lang, sondern auch steinig und schwer war.

In der ersten Hälfte des Bandes wird so wild mit Klischees gestempelt, dass man sich fast in der Quizsendung „Erkennen Sie die Melodie?“ wiederfindet, wo die Hauptunterhaltung daraus besteht sich an das Lied oder an zahlreiche Lieder zu erinnern, wo der vorgespielte Ausdruck bereits vorkam. Die erste Zeile des ersten Gedichtes „she wears a cage around her heart“ lässt nichts Gutes ahnen und bestätigt es auch der Schluss „but you‘re the one who holds the key“.

Die nächste Entwicklungsstufe innerhalb des Bandes ist der Hip-Hop. Die Ausbreitung des Einflusses findet in „I Found Hip Hop“ seinе Apotheose. Der Dichter ist noch auf der Suche nach der Tiefe für seine Texte und bedient sich erstmal mit den oberflächlichen Referenzen zur Antike, zu großen Königreichen in Afrika und Michael Jackson.

„[…] hip is the knowledge. Like the construction of the pyramids.“
– I Found Hip Hop (S. 45)

Parallel dazu kommt bei JJ Bola der Prediger-Imperativ immer wieder zum Ausdruck. Er spricht von einem schrecklichen Wir in Politics 101 und endet darin mit einem ausgelutschten Mantra der Verschwörungstheoretiker „[.. ] dont‘t trust what you read in the news or what you see on TV“

Das Gute an dem Sammelband ist der positive Entwicklungsweg, der da ist. Irgendwann zum Ende des Bandes fängt man an neue Versionen der früheren Inhalte wiederzuerkennen bzw. man erkennt diese auf den ersten Blick gar nicht wieder, weil sie jetzt sprachlich viel besser geworden sind. Ein gutes Beispiel dafür ist real man (S. 29)vs. man, listen (S.67):Hip-Hop-Möchtegern vs. Dichter. So kommt die Freude beim Lesen der letzten Gedichte um so mehr „like the sunshine after the rain“ oder so ähnlich.

Wer sollte sich diesen kompakten Sammelband von weniger als ein hundert kleinen Seiten zu Herzen nehmen? Die ersten fünfzig Seiten sind für Teenager und junge Erwachsene mit einem Instagram-Account zu empfehlen. So findet man viele schöne Zitate zum Reposten. Die zweite Hälfte des Sammelbandes ist uneingeschränkt empfehlenswert, man findet in den Texten eine starke Schulter in schweren Zeiten sowie eine gute Motivation zu fliegen anstatt zu rennen und zu leben anstatt zu sterben. Eine andere Zielgruppe für den gesamten Sammelband sind die (Hip-Hop)Dichter, die sich ein Beispiel an dem Entwicklungsweg von JJ Bola nehmen könnten und einen Respekt an ihn twittern.

„Er hat gesagt er ist zugleich der Tod und das Leben“

David Diop, geboren am 24. Februar 1966 in Paris und im Senegal aufgewachsen, ist Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und unterrichtet französische Literatur an der Universität Pau in Frankreich. Nachts ist unser Blut schwarz ist sein zweites Buch und gewann in Frankreich den ‚Prix Gouncourt des Lycéens 2018′. Der Roman wurde schnell beliebt und wurde als faszinierende Literatur gefeiert. Im Roman erörtert Diop die Humanität in inhumanen Zeiten und zieht die Leser ins tiefste Innere der dunklen und grausamen Tage des Krieges. Seine Inspiration für den Roman, entstand aus einer Lektüre persönlicher Briefe (gesammelt von Historiker Jean-Pierre Guéno) aus dem ersten Weltkrieg von französischen Soldaten, die ihre Gefühle und Gedanken während des Kampfes zwischen 1914 und 1920 auf Papier niederschrieben. Briefe von Senegalschützen (Soldaten aus dem Kolonialreich Frankreichs in West- und Zentralafrika), die für die französische Armee kämpften waren die Inspiration. Diop verfasste einen fiktiven Text, der die Gefühle und Gedanken eines afrikanischen Soldaten wiedergibt. Durch das literarische Mittel der „erzählenden Gedanken“ entsteht eine innigere und persönlichere Ebene, die die Zeit des Grauens umso mehr verdeutlicht und den Lesenden zur Empathie zieht.

Im Roman schauen wir in Alfa Ndiaye’s Gedanken hinein. Ndiaye ist ein schöner afrikanischer Soldat aus dem Senegal, Sohn eines alten Mannes, und ein echter Kämpfer.

Das Buch fängt damit an, dass Ndiaye seinen besten Freund, seinen Seelenverwandten Mademba Diop beim Kampf gegen die deutsche Armee verliert. Er fühlt sich schuldig und will sich ändern, für Mademba. Ndiaye wird brutal und unberechenbar. Aus Rache am Tod von Mademba tötet Ndiaye die Feinde barbarisch und sammelt feindliche Hände wie Trophäen. „Für alle, schwarzen und weißen Soldaten, wurde ich der Tod., alle nennen ihn den Seelenfresser (dëmm), einen Hexenmeister. Selbst vor seinem Blick haben sie alle Angst. Verwirrung: „Bis zur dritten Hand war ich ein Kriegsheld mit der vierten wurde ich ein gefährlicher Wahnsinniger, ein blutrünstiger Wilder. Bei der Wahrheit Gottes, so sind die Dinge, so ist die Welt: Alles hat zwei Seiten..

Der Einzige, der zu ihm hält ist sein französischer Kriegskamerad Jean-Baptiste, dieser stirbt leider seinerseits einen hässlichen Tod auf dem Schlachtfeld. Ndiaye war nun komplett alleine und hörte mit seinem grausamen Rachezug nicht auf:Bei der Wahrheit Gottes, ich habe gewusst, ich habe verstanden, was ich zu tun hatte.. Obwohl viele Ndiaye fürchten, hatte er ebenso viele Verehrerinnen und Verehrer. Ohne Worte kann er ‚alle‘ von sich beeindrucken: Ich lächle die anderen an, und sie lächeln zurück., „Bei der Wahrheit Gottes, ich weiß, dass ich schön bin, alle Augen sagen es mir.

Ndiaye, ein 20jähriger junger Mann, der von Tag zu Tag erwachsener wird und sich selber kennenlernt: Wo bin ich? Mir ist, als kehrte ich von weither zurück. Wer bin ich? Das weiß ich noch nicht.. Er ist überfordert mit der Gesamtsituation und handelt so, wie er es für richtig hält. Ndiayeachtet auf keine andere Meinung und verarbeitet seinen Schock wie er das möchte. Durch all diese Erfahrungen im Krieg und außerhalb des Schlachtfeldes erfindet sichNdiayeneu, er wird erwachsen und wächst. Ganz besonders liegt der Fokus für ihn auf seinem Körper: Mein Körper sagt mir, dass ich ein Ringkämpfer bin, und das genügt mir. …Mir genügt es von nun an völlig, die Kraft meines neuen Körpers zu entdecken..  Der Roman veranschaulicht die Entwicklung des jungen Soldaten, physisch sowie psychisch. Alfa Ndiaye lebt seit dem Tod von Mademba Diop für beide: Bei der Wahrheit Gottes, ich schwöre dir, so wie ich uns denke, ist er ich, und ich bin er..

Wie zuvor erwähnt, istNdiaye ein Junge, der seinen Schock und die Erfahrungen des ersten Weltkrieges auf eigene Weise verarbeitet und zum Mann heranwächst.

Trotz seiner Barbarei macht Ndiaye einen sympathischen Eindruck beim Leser. Die Gedankenzüge des jungen Soldaten erscheinen einem mal naiv, mal klug, mal gegensätzlich und mal verständnisvoll. Er denkt oft an Gott und spricht innerlich zu ihm. Er spricht nie seine Gedanken laut aus und lässt seine Offenheit von Gefühlen im Zaum. 

Ndiaye liebt (schöne) Frauen und sieht sogar im Kriegsgraben das Merkmal einer Frau: …als ich ganz nah am gegnerischen Graben ankam, der wie unserer offen dalag wie das Geschlecht einer riesigen Frau, einer Frau so groß wie die Erde.. Er erzählt uns von seiner Liebesnacht und weiß, dass nur ein Blick der Frau auf die Mitte seines Körpers nach Lust ruft: Ich weiß ich habe verstanden, mir wurde klar, dass sie mit mir schlafen wollte.

Im Roman bemerkt man, dassDiopmit Wiederholungen gearbeitet hat. Bestimmte Aussagen und kleinere Absätze wurden direkt auf der nächsten Seite nochmal wiedergegeben. Dies dient dazu, den Lesern das Gedankenspiel realistischer darzustellen. Denn, die Gedanken sind bei einem Menschen nie strukturiert und geordnet. Die Gedanken wechseln, wiederholen und ändern sich. Ich finde dies kreativ gestaltet und interessant zu lesen. Diese Repetitio stört keinesfalls, sie gibt dem Roman einen realistischen Touch. Immer wieder kehrende Satzanfänge die mir persönlich aufgefallen sind, gefallen haben und den Roman bis zum Schluss ausgezeichnet haben: Ich weiß, ich habe verstanden…, „Bei der Wahrheit Gottes…. Satzanfänge, wahrhaft und passend zur Persönlichkeit des Soldaten gewählt: Ndiaye’s Verbindung zu Gott, seine Ehrlichkeit und sein Selbstbewusstsein.  

Das einzig Negative, das mir auffiel, waren manche Begriffe, dieDiopverwendete, wie ‚Schokosoldaten‘, ‚Schokomohren‘. Wahrscheinlich sollen diese Bezeichnungen darauf hindeuten, wie die Afrikaner früher von der westlichen Welt genannt und behandelt wurden.

Zum Schluss jedoch, möchte ich diesen Roman weiterempfehlen. Er ist lesenswert und speziell geschrieben. Ich finde das fiktive Erzählen toll gewählt und sehr passend. Dieser Roman liest sich wie ein Tagebuch, das man aus alter Kriegszeit gefunden hat. Intim und persönlich. Der Roman ist für Leser*innen, die sich für Geschichte interessieren und denen Bücher im Stil eines Diariums gefallen. Also, wenn ihr wissen wollt, warum Ndiaye mit seinen Zeichnungen sogar den Doktor verblüfft und was es mit den Löwen-Hexer auf sich hat, holt euch diesen Roman.

Ein Fehlkauf wird dies ganz sicher nicht.

Der Mut der afrikanischen „Queer“ Frau

Queer ein heutzutage aktueller Begriff. Einige Menschen auf der Welt bezeichnen sich als genderqueer. Sie ordnen sich keiner geschlechtlichen Rolle zu. Sie sind das „dritte Geschlecht“ der nicht-binären Geschlechtsidentität. Das Geschlecht wird bei ihnen nicht nur in männlich und weiblich, Sexualität nicht nur in hetero und homo eingeteilt, sondern sie sehen eine riesige Fülle an Geschlechtern und sexuellen Identitäten (LGBTQ). LGBTQ-Personen haben es nicht leicht und kämpfen noch bis heute für ihre Anerkennung und Rechte. Die LGBTQ Rechtsgrundlage ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. In Deutschland, beispielsweise, hat die Bundesregierung, seit Sommer 2017, den Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus beschlossen und lehnt Feindlichkeiten gegen Queer“-Menschen ab. Seit 2001 gibt es in Deutschland die eingetragene Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Ein Fortschritt, der Deutschland stolz machen kann. Südafrika hat die gleichgeschlechtliche Ehe sogar schon 1994 erlaubt. Leider schaut es mit den Rechten für LGBTQ-Personen nicht überall in Afrika so sonnig aus.

In dem hier besprochenen Buch, She Called Me Woman: Nigeria’s Queer Women Speak“, herausgebracht von drei nigerianischen Autoren namens Azeenarh Mohammed, Chitra Nagarajan, und Rafeeat Aliyu, die sich für die Rechte von Frauen einsetzen und mit dem Buch ein Statement setzen wollen. Die drei Herausgeberinnen setzen sich für die Legalisierung der Rechte von Queer People ein und geben uns mit dem Buch einen Einblick in das alltägliche Leben afrikanischer Queer-Frauen. Die Erzählungen sind zusammengefasste Interviews von 25 betroffenen Frauen, im Alter von 20 bis 42 Jahren, aus Nigeria. Sie berichten über ihre Erfahrungen und erzählen uns über die Probleme, mit denen sie als queere Personen konfrontiert sind. Die Namen der Interviewten (oder: der Erzählerinnen) wurden aus Sicherheitsgründen geändert.

Als deutsche Leserin wird man schnell feststellen, dass die politische Lage in Afrika gegenüber LGBTQ-Menschen gewiss kritisch und problematisch ist. Eine Akzeptanz ist zwar vorhanden, dennoch werden sie immer noch aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Homophobie und Heterosexismus ist in den afrikanischen Staaten noch weit verbreitet. Die Legalität von Queer“ Menschen ist gering ausgeprägt im Kontinent. In den meisten Staaten Afrikas, gelten homosexuelle Handlungen als Straftat, als illegal. Äußert man sich über sein „drittes“ Geschlecht kommt es zu starken Konsequenzen. Angefangen mit Bußgeldern bis hin zur Todesstrafe (Bsp.: Liberia, Nigeria). Nicht nur der Staat ist dagegen, auch die eigene Familie zeigt kein Verständnis. The biggest problem my sexuality has caused me is with my family. Family.Family.Family. My brother is very homophobic.In ‚What I Have Been Missing‘ erfahren wir über IX unbeschwerte Kindheit in Kaduna, Nigeria, dank ihrer Eltern. Sie sieht die öffentliche Abneigung gegen ihre Sexualität und versteht, dass die Beziehung zwischen ihrer Familie und ihr, nie mehr so sein wird wie sie es mal war.

Nigeria ist ein sehr religiöses Land. 50% der Bevölkerung sind Muslime und 45% Christen. Die strenge Religion im Land bereitet den QueerMenschen das größte Problem. Sie werden von der Gesellschaft nicht akzeptiert. In ‚I Pray That Everyone Has Forgotten“ redet TQ über ihre Sorge, von ihrer sehr streng christlich gläubigen, Familie ausgestoßen zu werden. Die Familie ist, für alle erzählenden Frauen in diesem Buch, das Wichtigste und sie wollen diese nicht verlieren. QM beschreibt „I Only Admire Girls“, wie sie wegen ihrer sexuellen Orientierung ihre Familie verloren hat. Sie ist eine Schande für die Familie geworden. Der Hass auf „Queer“ Leute ist groß im muslimischen Zamfara. Ein anderes Leben zu leben ist tabu. Die Frauen haben dort nichts zu sagen. Sie müssen heiraten und eine Familie gründen.If you go to school, they will say your parents are not good people. You have to get married, because that is where your life ends.“ Erschreckende Aussagen, die das Leben dieser Frauen nicht einfacher machen.

Viele der „nicht-binären“ Frauen sind religiös, bezeichnen sich aber als spirituell. Sie glauben nicht daran, dass Liebe zu einem gleichgeschlechtlichen Menschen eine Sünde ist. O.F. in ‚Love Is Not Wrong‘, plädiert für eine grenzenlose Liebe die nicht von der Religion abhängig ist: I believe in God but not religion.. Die religiöse Bevölkerung demonstriert jedoch homophobes Verhalten gegenüber der genderqueer“ Gesellschaft. Sie reden schlecht hinter dem Rücken und verbreiten Gerüchte. Es werden so schlimme Dinge gesagt, dass wenn man zuhören würde, die Kraft nicht mehr reichen würde alles zu ertragen: They see it as something demonic, something devilish.

I don´t have any business with whatever they say. If I listened to them, i wouldnt´t be alive..

Eine Aussage von der selbstbewussten L.N. in ‚I Am Proud To Be A Lesbian‘, einer der jüngsten Queer“ Frauen, mit 22 Jahren, in diesem Buch.

Es ist interessant zu sehen wie die Frauen ihre sexuellen Interessen entdeckt haben und damit umgegangen sind. Manche waren sich schon früh sicher und manche haben es erst nach langjährigen Versuchen, der Norm zu entsprechen herausgefunden. Religion und Familie stellt für jede ein großes Problem dar. Man sieht, dass die ein oder andere furchtloser mit der Situation umgeht und versucht das Beste aus ihrem Leben zu machen (s. LN, I Am Proud To Be A Lesbian).

Anderen wiederum ist die Akzeptanz von Leuten sehr wichtig. Ohne diese, kann sie, kein normales Leben führen. QM, aus Zamfara versteckt sich bis heute. Es ist offensichtlich, dass viel auf dem Spiel steht, wenn man sich über seine „nicht-binäre“ Geschlechtsidentität äußert. Man könnte die Familie, die Freunde und die Arbeit verlieren. Sogar das Ansehen und den Respekt der Bevölkerung. All diese echten Erzählungen zeigen den Mut jeder einzelnen „Queer“ Frau. Ich bin beeindruckt, wie sie trotz der ganzen Erschwernisse und dem Hass von außen, sich selbst treu bleiben. Keine der Frauen hat sich ergeben und sich an die Gesellschaft angepasst. Sie leben ihr Leben weiter, in der Hoffnung, dass sich etwas ändert. Natürlich ist es traurig zu lesen, dass sich eine Frau verstecken muss um nicht gesteinigt zu werden für ihre ‚Sünde‘ (‚I Only Admire Girls‘). Denn, auch L.N., die einfach ihr Leben als Queer“ weiterlebt, muss über ihre sexuelle Orientierung in der Öffentlichkeit schweigen und darf diese nicht „hundertprozentig“ ausleben.

Dieses Buch ist einfach geschrieben und leicht zu lesen. Es gibt uns, trotz dunkler Einblicke in die Realität dieser jungen Frauen, auch unterhaltsame Wendungen mit. Alle Frauen kommen sympathisch rüber und als Lesender habe ich den Eindruck ein ‚Tagebuch‘ lesen zu dürfen, da die Texte formlos und voller Gefühl geschrieben sind. Mir persönlich gefällt dieser leichte Schreibstil, wobei ich sagen muss, dass mir bei der einen oder anderen Geschichte der rote Faden gefehlt hat und die Erzählung ziemlich durcheinander schien. Alles in allem möchte ich dieses Buch weiterempfehlen. Es trägt viel Herz und Mut in sich und ist ideal geeignet um einen ersten Einblick in das LGBTQ Leben nigerianischer nicht-binär Frauen zu erlangen. Den europäischen Lesern lege ich das Buch auch ans Herz. Besonders für die Lesenden unter uns die sich mit den LGBTQ Thema auseinandersetzen, ist dieses Werk ein Muss. Auf der ganzen Welt gibt es QueerMenschen. Aber nicht überall wird das akzeptiert. Ein gefühlvolles und echtes Buch.

Ja ist denn das die Möglichkeit?

Stellen sie sich ein Hochhaus vor. Im Zeitraffer. In einer Stadt – irgendeiner Stadt. Es ist kein besonderes Hochhaus und auch nicht besonders hoch, also kein Wolkenkratzer. Ein Zeitraffer der normalen Sorte erstreckt sich über ein paar Stunden, um besonderes Licht oder Wolken, Sterne, die Bewegung von Pflanzen „einzufangen“, vielleicht ist die Frequenz des Zeitraffers auch niedriger, ein Bild pro Tag, um den Bau eines besonderen Gebäudes abzubilden. Was José Eduardo Agualusa in seinem Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ gelingt, ist ein Zeitraffer über mehrere Jahrzehnte hinweg. Er begleitet das Leben von Ludovica. Ludovica hat sich eingemauert. Sie hat sich in ihrer Wohnung beziehungsweise der Ihres Mannes eingemauert. Und diese Wohnung befand sich in eben jenem Hochhaus. Das ist der Plot.

Das Unglaubliche ist: Es handelt sich um eine Geschichte, die zwar pure Fiktion ist, sich aber an einer wahren Begebenheit orientiert. José Eduardo Agualusa hat den Roman mit dem originalen Titel „Teoria Geral do Esquecimento“ im Jahr 2012 veröffentlicht, die deutsche Ausgabe erschien 2017 bei C. H. Beck. Der Autor zählt inzwischen unbestritten zu den bedeutendsten afrikanischen Autoren im lusophonen Sprachraum, also in Ländern, wo Portugiesisch gesprochen wird. Er wurde in Angola geboren, wohin er nach dem Studium in Lissabon zurückkehrte, das Land wegen der politischen Lage aber wieder verlassen hat. Die politischen Ereignisse der letzten Jahrzehnte in Angola halten nicht nur in das hier portraitierte Buch Einzug. Ludovica kann von ihrer Wohnung aus den politischen und strukturellen Wandel um sie herum wie in einem Kaleidoskop betrachten und muss sich dabei auf das verlassen, was sie hört und mit eigenen Augen sieht, denn einen Fernseher oder ein Radio besitzt sie nicht oder nicht mehr. Ihre Bücher, die riesige Bibliothek verbrennt sie nach und nach, um sich Essen kochen zu können… die Nachbarn sind wegen der Revolution verzogen und bis sich der Bau wieder mit Menschen füllt, vergehen die Jahre.

Agualusa ist ein Meister im Verflechten von Handlungssträngen und bringt sie immer wieder unerwartet zusammen. So kommt überraschend dazu, dass sich die Charaktere, die wir in so unterschiedlichen Zusammenhängen kennengelernt haben, vor der Wohnungstür von Ludovica begegnen. Der Portier des Hauses, Nasser Evangelista, der einmal einer anderen Tätigkeit nachging, wird einfach überrumpelt in einem Kapitel, was mit „Das seltsame Ende des Kubango-Flusses“ überschrieben ist – nebenbei erklärt Agualusa „Es gibt Leute, die regelrecht Angst haben vor dem Vergessenwerden. Man nennt dieses Leiden Athazagoraphobie. Bei ihm (Monte) war es umgekehrt: Er litt unter der schrecklichen Vorstellung, dass man ihn niemals vergessen würde.“ So spannt sich der Bogen und nimmt Bezug auf den Titel dieses absolut fantastischen Werks, was auf mich nicht grotesk wirkt, trotz seiner unwirklich anmutenden „Zufälle“.

Es macht unheimlichen Spaß sich auf Agualusas Welten einzulassen, abzutauchen, zu staunen, zu lachen. Ich finde es genial, wie dieser Autor seine Schauplätze wählt und ausgestaltet.

Ein Buch mit Verve, Biss und Überraschung – nicht nur für Angola-Fans

Was uns trennt und was uns zusammenbringt

„Ghana must go“ oder „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ von Taiye Selasi

Der Vater einer 6-köpfigen Familie stirbt. Hier setzt der von Taiye Selasi verfasste Roman an, in dem sie aus den Perspektiven der jeweiligen Familienmitglieder beschreibt, wie er oder sie zur Familie steht. Die deutsche Ausgabe, 2013 in Deutschland bei S. FISCHER erschienen, hat mich mitgerissen, völlig in den Bann gezogen und bis zu den letzten Seiten nicht mehr losgelassen. Die Geschichte hat es in sich.

Was passiert, wenn innerhalb der Familie nicht über traumatische Ereignisse oder schlicht Begebenheiten in der Vergangenheit, gesprochen wird? Ohne allzu offensichtlich oder reißerisch wertend vorzugehen, enthüllt Selasi die Umstände von Kweku Sais Tod. Welche Bedeutung dem beikommt, ist am Anfang des Buches kaum zu ermessen. Dann werden wir in das Familienleben eingeführt, als noch (fast) alles gut war. Alle beieinander: Vater, Mutter, Kinder. Sadie Sai wird geboren, das jüngste der vier Kinder. Eindrücklich beschreibt Selasi den „Clash“ der Weltsichten in Bezug auf den Tod von Neugeborenen, während Kweku Sai, Arzt, einer der besten seines Fachs, sich selbst gerade in der Säuglingsstation befindet: „Wenn ein unglückliches Neugeborenes aller Voraussicht nach das Wochenende nicht überstehen würde, riet man den Eltern davon ab, ihm einen Namen zu geben […]. Viele seiner Jahrgangskollegen fanden diese Praxis befremdlich – als würde man sich zu früh geschlagen geben. Das waren vor allem Amerikaner, mit ihren weißen Zähnen und der Kuhmilch für die Kindersterblichkeit etwas Unvorstellbares ist. Oder besser gesagt, vorstellbar in der Summe, als eine Zahl, eine Statistik, das heißt, x % der in Ghana geborenen Kinder sterben vor der zweiten Woche. Vorstellbar im Plural, aber inakzeptabel im Singular.“

Für Kweku ist das Krankenhaus ein Dreh- und Angelpunkt. Klar, dass es ihn oder sein Leben aus den Angeln hebt, als er seinen Job verliert, in einem der besten. Aber hat er seine Arbeitsstelle nicht selbst als „Maschine“ bezeichnet? „Die Maschine. So hatte er das Krankenhaus genannt, als er am Johns Hopkins Hospital anfing, weil er so beeindruckt davon war, wie gut das alles funktionierte. […] Alles unter Kontrolle […]: die menschliche Schwäche, menschliche Emotionen, alle dazugehörigen Formen von menschlichem Chaos, Schmutz, Krankheit, Komplikationen.“ […] „To dazzle the faithful. Arrogance by association. The machine was in control. And so he was in control who belonged to it.“

Die Literatur vermag Dinge und Ereignisse/Geschehnisse in einen Zusammenhang zu setzen, der anderen (wissenschaftlichen) Disziplinen abgeht. Immer wieder gibt es Rückblenden in Selasis Roman, zu dem Moment in dem Kweku stirbt. Er räsoniert, fasst zusammen, lässt revue passieren. Stellt sich Fragen – die Frage: Warum? Dass auch sein Vater gegangen war, wird uns als Leser*in mitgeteilt, aber kommt Kweku selbst der Gedanke, dass sein Weggang nicht der Erste in seiner Familie war? Dass es vielleicht sogar einen Zusammenhang zwischen seinem eigenen Weggang gibt und dem seines Vaters? Genau diese Verbindung gelingt Selasi so gut: Das Unbeschreibliche anvisieren, andeuten, in einem Nebensatz aufblitzen und uns erkennen lassen: Diese Dinge geschehen [eben] nicht einfach so.

In der Originalausgabe, wie auch in der deutschen Ausgabe, vereinfacht ein Stammbaum die Einordnung der Familienmitglieder. Auch eine Aussprachehilfe ist der Originalausgabe vorangestellt (in der deutschen Ausgabe angehängt). Mir gefallen diese Zusätze, die in vielen Büchern fehlen. Ich kann mich besser einfühlen, wobei Selasi ihre Leser*innen nicht in Unkenntnis lässt bei möglicherweise unbekannten Begriffen. Vieles wird erklärt, wie die Ibeji, das Wort für Zwillinge, mit dem nigerianischen Mythos über Zwillinge. Manchmal ist es mir zu viel des Markennamen-Droppings: „Mi-Del Organic Lemon Snaps, Capri Sun und „Apple & Eve“ Apfelsaft“, was letztlich aber nicht zu sehr in den Vordergrund rückt und daher verkraftbar ist – für mich – für andere möglicherweise die Authentizität verstärkt.

Die Übersetzungsleistung von Adelheid Zöfel verdient hervorgehoben zu werden. Es gelingt ihr den etwas „amerikanisch“ dramatischen Duktus aufzugreifen, Selasis Schreibweise abzubilden, ohne an Intensität einzubüßen und doch etwas von dem Hollywood-Kino abzurücken. Mir hat die deutsche Übersetzung besser gefallen als die originale Fassung des Romans.

Insgesamt: Großartig verwebt Selasi die Erzählstränge, sodass sich ein immer kompletteres Bild ergibt und wir am Ende verstehen. Die Verletzungen der Charaktere verstehen, verstehen, warum wer wie handelt; warum „Ghana must go“ der Titel des Romans ist oder wie im Klappentext der deutschen Ausgabe zusammengefasst wird: „Wir wissen erst, wer wir sind, wenn wir wissen, woher wir kommen.“

Detaillierte moderne Familiengeschichte über Kontinente hinweg

Taiye Selasi „erfand den Begriff „Afropolitan““, welcher auch in der Geschichte der Sais Gestalt annimmt: „neue Generation von Weltbürgern mit afrikanischen Wurzeln“. Die Autorin war unter 40 Jahren, als sie diesen – bisher ihren einzigen – Roman verfasste. Bisher sind 4 Kurzgeschichten von ihr veröffentlicht worden und sie ist in einem TED-Talk zu bewundern in dem sie darüber spricht, eben nicht „multinational“ zu sein, weil man von Eltern abstammt, die aus verschiedenen Ländern kommen und man selbst in einem anderen Kontinent aufgewachsen ist als die eigenen Eltern. Ihr geht es darum die Konzepte und Klischees zu überwinden, die mit einer Nationalität einhergehen und das Menschliche zu sehen in jedem Gegenüber. Statt zu fragen: Woher kommst du? Wäre die Frage nach dem Alltag vielleicht angemessener – welches sind deine Rituale? Mit wem hast du regelmäßig Kontakt, führst Beziehungen? Mit welchen Einschränkungen hast du zu kämpfen? Und es sei von Bedeutung, sich darüber bewusst zu sein, mit welcher Intention die Frage nach der Herkunft gestellt werde. Die Antwort(en) auf diese Frage, sollten zusammenbringen und nicht trennen.

Rezension „Lagos Noir“ Kurzgeschichten aus Nigeria zusammengestellt von Chris Abani

Zwischen genial fantastisch und vorhersehbar changieren die von Chris Abani in 2018 in „Lagos Noir“ zusammengestellten Kurzgeschichten. Was Abani gelingt, ist ein vielfältiges, breitgefächertes Bild einer der größten Metropolen des Kontinents zu zeichnen. Jedes „Verbrechen“ wird in einem anderen Stadtteil begangen, der_die Leser*in empfindet die schwülen Nächte des auf einem Motoradtaxi zum Tatort fahrenden Kommissars mit, fiebert mit Spannung der Auflösung des Falls entgegen. Nicht immer endet die Geschichte wie erhofft, wie erwartet; einige Wendungen muten doch etwas konstruiert an, bedienen Klischees. Und doch tauche ich immer wieder mit Neugier in jeden der Plots ein. Chris Abani, dessen Vater aus Nigeria stammt, beschreibt im Vorwort zu seinem Sammelband wie die Stadt Lagos zunächst nur ein Ort in seiner Vorstellung war, bis er selbst Zeitzeuge der Stadt wurde, die nie schläft und noch wach ist, „wenn New York in einem lang anhaltenden Gähnen verklingt“.

Wie realitätsnah oder –fern die 13 Geschichten sind, bleibt offen, wie es das Genre der Fiktion vorgibt und doch möchte ich erfahren, ist das Alltag? Die Schikane der Polizisten am Straßenrand? Oder: Kann es sein, dass jemand den Sturz aus einem zur Landung ansetzenden Flugzeug überlebt? Der Sammelband ist in drei verschiedene Teile gegliedert und entführt uns in die Welt der Polizisten und Diebe sowie der Tötungsdelikte im Familienkreis. Das dritte Kapitel ist mit „Ankunft und Abflug“ betitelt, wobei die Einteilung in diese drei Kategorien willkürlich erscheint: Was hat ein Killeraffe mit der Ankunft eines schwulen Kommissars zu tun?

Für Liebhaber des Genres und Afrikainteressierte ist dieses Buch eine leichtgängig Lektüre ohne viel Tiefgang, welche doch Einblick in eine Stadt gibt, die als eine der gefährlichsten des Kontinents gilt: Widersprüchlich und schillernd.

Bürgerkrieg aus Kinderperspektive?

Im Jahr 2012 war ich auf einem Konzert von IRMA, die 2020 ein neues Album herausgebracht hat (https://www.irmaofficial.com). Bei dem Konzert damals bei Bordeaux bildete Gaël Faye die „Vorband“. Es ist nicht untertrieben zu behaupten, Gaël Faye sei ein Multitalent. Jahre später – man trifft sich immer 2 Mal im Leben – bringt meine Mitbewohnerin ein Buch aus Frankreich mit: „Petit Pays“ der Titel, auf Deutsch „Kleines Land“. Dieses kleine Taschenbuch mit gut 200 Seiten habe ich damals verschlungen. Nun habe ich mir die deutsche Fassung vorgenommen und die Begeisterung bleibt. Mit dichter, detailreicher Sprache kreiert Faye sehr realistische Szenen und Charaktere und fesselt damit seine Leser*innen.

Aus der Sicht eines Jungen an der Schwelle zur Jugend beschreibt Faye die glücklichen Tage des Kindseins bis der Krieg ausbricht in Bujumbura, Burundi. Bis dahin baut Gabriel mit seinen Freunden Armand, Gino und den Zwillingen Schiffchen aus Bananenblättern, veranstaltet ein Wettpissen oder geht auf Mangojagt bei der Nachbarin, der sie die Mangos später wiederverkaufen. Kleine Szenen werden authentisch geschildert und lassen die Leser*innen in Gabriels (Gedanken-)Welt abtauchen, in der es noch so etwas wie Langeweile gibt und der Nachbar mit seinem Schattenboxen nichts Befremdliches hat, doch „Die Erwachsenen hielten ihn für verrückt mit seinen Katas. Wir Kinder mochten ihn, wir fanden das viel normaler als vieles, was die Erwachsenen machten: Militärparaden organisieren, Deodorant in die Achseln sprühen, in der Hitze Krawatten tragen, die ganze Nacht im Dunkeln sitzen und Bier trinken oder diese endlosen zairischen Rumbastücke hören.“

Ein Höhepunkt und auch Wendepunkt des Buches ist Gabriels elfter Geburtstag, der gebührend gefeiert wird – ich wäre am liebsten dabei gewesen, konnte die aufgeladene Luft beinah riechen, den Regen fast auf der Haut spüren und hätte gern mitgetanzt, begleitet von Freudenschreien, Gitarre, Trompete und den zum Klingen gebrachten Bierflaschen.

Die Stimmung kippt, obwohl das Buch bereits beginnt mit der Frage nach ethnischer Zugehörigkeit beziehungsweise dem Versuch von Gabriels Vater zu erklären, wodurch sich Hutu und Tutsi unterscheiden. „So sehr ich mich auch bemühe, ich kann mich nicht mehr erinnern, wann genau wir eigentlich angefangen haben, anders zu denken. Nämlich, dass es auf der einen Seite nur noch uns gab und auf der anderen lauter Feinde []. Ich frage mich immer noch, wann meine Freunde und ich anfingen, Angst zu haben.“

Gabriels Mutter stammt aus Ruanda Gabriels Vater ist Franzose – damit hat das Buch sicherlich autobiographische Züge.

Es folgen die Drangsalierungen und Entsagungen, die Flucht und die Konsequenzen des Krieges. Faye verschont seine Leser*innen nicht. Was Faye beschreibt sind Grausamkeiten, für die es keine Worte gibt. Und das in einem Buch für eine junge Leserschaft. Wie geht das zusammen? Gaël Fayes Roman war sogar so erfolgreich, dass er mit dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet wurde.

Ich meine, das hängt mit der Authentizität zusammen, die Faye ausstrahlt. Hört auch seine Musik. Diese Kunst wird auch in seiner Literatur offenbar.

Bewegend. Großartig – ein Buch, nicht nur für eine junge Leserschaft

Harold and Maude in anderen Räumen?

Kurzweilig, bei immerhin 350 Seiten, erzählt Abubakar Adam Ibrahim die Geschichte von Hajiya Binta Zubairu und Hassan „Reza“ Babale – in zwei Teilen. Es ist eine ungewöhnliche Geschichte, wenn auch die Thematik nicht neu ist: Eine Frau und ein Mann verlieben sich, die Frau ist wesentlich älter als er – in diesem Fall sind es 30 Jahre Altersunterschied.

Eine gewisse Komik begleitet den gesamten Roman, er liest sich einfach und doch dürfen wir in Abgründe sehen, diese werden nicht ausgeschmückt. Einer dieser kurzen Momente ist der, wo Hajiya Binta sich erinnert, wie sie nicht einschritt, als ihr Mann ihren ältesten Sohn versohlt, bis das Blut fließt und erst die Nachbarin Einhalt gebietet. Sie selbst stampft Guineakorn im Mörser. Dies ist eine der Rückblenden, die der Autor immer wieder einstreut, um uns an der Vergangenheit von Hajiya Binta und ihrer Gedankenwelt teilhaben zu lassen.

Wie haben sich die beiden Hauptpersonen kennengelernt? Wie haben sie sich gefunden? Das erfahren Sie, liebe*r Leser*in, schon auf der allerersten Seite dieses Romans. Hajiya Binta geht ihrem Putzfimmel nach, weil sie „schlecht geträumt“ hat, einem unguten Gefühl nachhängt, was ihr schon mehrfach angekündigt hat, wenn dramatische Wendungen in ihr Leben getreten sind, wie der Tod ihres Erstgeborenen, die Hochzeit mit ihrem Exmann, oder die Rückkehr ihrer Tochter nach gescheiterter Ehe. Im Folgenden werden wir mitgenommen in den jeweiligen Alltag von Hajiya Binta und Reza, der kaum Berührungspunkte aufweist: Er, Drogendealer, Sie, Hausfrau und Witwe. Hajiya Binta wohnt gemeinsam mit ihrer Nichte Fa’iza und Ummi, ihrer Enkelin, um die sie sich beide kümmert. Warum, wird im Verlauf der Lektüre verständlich. Reza haust mit seinen Kumpanen in San Siro, einem Treffpunkt seiner Clique, um die nächsten Aktionen zu planen.

Jetzt könnte man meinen es folgen stereotype Szenen, wie in Liebesromanen üblich, aber nichts dergleichen ist der Fall. Ich finde Abubakar Adam Ibrahim gelingt es, ein präzises Bild zu zeichnen von seinen Charakteren und deren Leben, mit Beten, Koranschule, Kochen, Putzen, Freizeit oder illegalen Coups. Es ist nicht dieses übliche um Aufsehen Heischende, was in westlichen Medien oft mitschwingt, wenn es darum geht über Gesellschaften mit muslimischem Glauben zu berichten. Hier entsteht ein differenziertes Portrait, das Spannungen aufzeigt, ohne zu dramatisieren. Unauffällig eingeflochten werden Andeutungen über Unruhen in Nordnigeria. Der Autor stammt aus Jos, einer Stadt, welche zum Norden Nigerias zählt.

In einem Youtube-Interview ( https://www.youtube.com/watch?v=EvgMZG-4iWE ) gibt der Schriftsteller preis, dass er die Literatur aus dem Norden Nigerias bekannter machen möchte, weil sie die Möglichkeit bietet Klischees, die innerhalb Nigerias zwischen verschiedenen Regionen vorhanden sind, zu entschärfen und so zu einem besseren Miteinander beizutragen. Im mehrseitigen Glossar werden Haussa-Begriffe erklärt, das können kurze Ausrufe, Sätze oder Wörter sein, die dem Werk noch mehr Originalität verleihen.

Jedes Kapitel ist mit einer sprichwortartigen Überschrift versehen. Hier ein paar Kostproben: „Mit der Suche nach einer schwarzen Ziege sollte man lange vor Einbruch der Dunkelheit beginnen“ – „Nur ein Weiser sieht das Grau im Schafspelz“ – „Nur weil die Wehklage süß klingt, ist der Verlust nicht weniger herb“ – und schon recht zu Anfang des Buches „Sieh nicht dorthin, wo du gefallen, sondern dorthin, wo du gestolpert bist“ – der Verweis auf den deutschen Titel des Buches „Wo wir stolpern und wo wir fallen“ von 2019. Das Original entstand 2015 und ist unter dem Titel „Season of Crimson Blossoms“ beim Verlag Cassava Republic Press, Abuja und London, erschienen.

Wie geht diese Geschichte aus? Kommen Reza und Binta öffentlich zueinander? Sie halten ihre Beziehung eine ganze Weile geheim. Immerhin möchten die eigenen Kinder Binta an der Seite eines Mannes wissen. Hat diese Liebe eine Chance? Lasst euch überraschen, ihr werdet belohnt mit spannendem, außergewöhnlichem Lesestoff.

Liebesgeschichte mit Tücken. Der Autor bricht Tabus in Bezug auf das Frauenbild in der Region seiner Herkunft.

„Abubakar Adam Ibrahim lebt als Journalist und Autor in Abuja“ und wurde für seine Veröffentlichungen bereits vielfach ausgezeichnet. Mit „Season of Crimson Blossoms“ ist sein erster Roman erschienen, für den er 2016 mit dem Nigerianischen Literaturpreis ausgezeichnet worden ist. Am 7.12.2020 ist bei Masobe Book ein weiterer Band mit Kurzgeschichten von Abubakar Adam Ibrahim erschienen und sicherlich bin nicht nur ich neugierig auf den hier angekündigten neuen Roman: https://africainwords.com/2020/12/01/qa-uchechukwu-peter-umezurike-interviews-abubakar-adam-ibrahim-about-his-latest-collection-dreams-and-assorted-nightmares-2020/

Nein zum Krieg – denn wir wissen, was wir tun

Eindringlich schildert Alpha Ndiaye wie er mit seinem Kameraden und „Seelenbruder“ – so der französische Buchtitel frei ins Deutsche übersetzt – die Schlachten in den Gräben des Ersten Weltkriegs erlebt. Die Grausamkeiten, Perfiditäten, Abscheulichkeiten, der Widersinn des Krieges – als solcher – werden in dem kurzen Roman Nachts ist unser Blut schwarz (so der deutsche Titel) des franko-senegalesischen Autors David Diop offenbar.

Mit wirkmächtiger Sprache im Erzählton lässt Diop uns teilhaben am Schicksal der beiden „Senegalschützen“, die für Frankreich, das „Mutterland“ in den Krieg ziehen. Etwa Hundertachzigtausend der sogenannten Senegalschützen (Tirailleurs sénégalais) dienten der Kolonialmacht Frankreich im Ersten Weltkrieg; etwa jeder Sechste von ihnen ließ sein Leben. Alpha Ndiaye verliert seinen Kameraden und man könnte meinen es ist Rache, die ihn antreibt Vergeltung zu üben. Trotz der Gräuel die Alpha Ndiaye verübt, die er detailliert beschreibt, haarklein, bin ich mit ihm, ich meine ihn verstehen zu können, ich fühle mit. Hauptmann Armand pfeift zum Angriff und seit Mademba Diop, Alphas Freund und Seelenbruder, umgekommen ist, kehrt Alpha Ndiaye nicht ohne Trophäen zum Lager zurück. Was erst als Heldentum, Wagemut und Kühnheit gefeiert wird, gerät dem Erzähler bald zum Verhängnis, wird ihm als unmenschlich, toll und übertrieben ausgelegt.

Auflockernd, doch nichts an Eindrücklichkeit verlierend, sind die Passagen in denen Ndiayes Gedanken abschweifen in die Zeit vor seiner Rekrutierung, bevor er in den Krieg gezogen ist. Die*der Leser*in erfährt mehr über Ndiayes Herkunft, seine Eltern und wie die Freundschaft zwischen den beiden Kameraden entstand. Assoziativ reiht Diop die Gedanken seines Helden aneinander. Geschickt verwebt er die Erlebnisse aus der Kindheit und beim Fronturlaub. Die Liebe zu Fary Thiam, der Tochter des Dorfältesten in Gandiol, stand von Anfang an unter keinem guten Stern und doch findet sie Erfüllung, wenn auch nur.

David Diop gelingt es auf 175 Seiten ein Portrait zu zeichnen, das nachwirkt. Seine Sprache ist eingängig und verschafft Klarheit über die Unmoral von Krieg und Verbrechen im Zusammenspiel mit Macht. Großartig finde ich die Szene, in der Ndiayes Vater dem Dorfältesten vorführt, dass es Werte gibt, dass Geld nicht alles ist und uns nicht durch Krisen führt. In einer Hungersnot wird man sich nicht nur von Erdnüssen ernähren können. Weitergesponnen, kann dies als Parabel für Lebensmittel-Souveränität gelten und gewinnt nicht nur dadurch einen Bezug zur Gegenwart.

Das Buch hat nichts Belehrendes und lehrt uns doch: Krieg ist nicht zu rechtfertigen und hinterlässt Spuren, die unauslöschlich sind.

Den Verriss von Wolfgang Schneider vom 2.2.2020 in der FAZ kann ich nicht nachvollziehen (oder: Der Verriss … ist nicht nachvollziehbar). Sich im Krieg menschlich verhalten, ist ein Ding der Unmöglichkeit und natürlich hat ein solches Buch immer eine konstruierte Komponente. Dennoch, gerade durch die Perspektive des Erzählers teilte ich den Eindruck zu keiner Zeit, dass das Geschehene an den Haaren herbeigezogen sei. Auch habe ich die angebliche Überzeichnung Ndiayes als „Schokosoldat“ an keiner Stelle so empfunden. Im Gegenteil: durch sein Reflektieren und den gesamten Kontext erscheint Diop als Mensch und seinem Verhalten haftet nichts Übertriebenes an. Unmenschlich und paradox muten die Reaktionen des Hauptmanns und des Arztes in der Genesungseinrichtung an.

Ganz erschließt sich mir die letzte Szene nicht. Dort scheint es als wenn sich der Geist Madembas zeigt und damit ein Perspektivwechsel vollzogen wird. Zurecht hat David Diop in Frankreich für seinen Roman mehrere Preise gewonnen.

Feel the inner spirit and follow your heart – oder wie auch im scheinbar Einfachen Tiefe verborgen liegt

Ich gebe zu: zeitgenössische Dichtung lese ich kaum – außer vielleicht die von Bjarne Mädel (und die auch nur, weil ich sie geschenkt bekommen habe). Die von Bjarne Mädel hat mich nicht umgehauen, aber er schreibt auch selbstironisch im Klappentext: „Es ist wirklich wie ein Fluch, jeder Promi schreibt ein Buch. […] Am besten noch in Reimen, da lachen ja die Kälber. Oh Gott… ich mach’s ja selber.“

Und so gestehe ich weiter: unter zeitgenössischen „afrikanischen“ Gedichten habe ich mir etwas sehr modernes vorgestellt, Texte, die kaum zu verstehen sind, Aneinanderreihungen von Wörtern, die ohne Vorwissen kaum zu erschließen sind – so wie einige zeitgenössische Plastiken auch nicht unbedingt leicht zugänglich sind. Ich war mal auf einem Science Slam, aber der hat nichts mit Poetry zu tun und ich habe bei „Poetry“ nicht an Slam gedacht. So war ich bei den folgenden Zeilen doch ziemlich enttäuscht: „I just wanna love her like the moon loves the sea, […] like the sun to the trees, and just like the trees to the sun i should reach up to wherever she was so we could touch and be one.“ Sie erinnerten mich an die 8. Klasse, in der Liebesgedichte das Thema waren und jede*r Schüler*in selbst auch Gedichte verfassen musste.

Diese Zeilen entstammen dem Gedicht „I wanna love her“ von JJ Bola aus der Zusammenstellung seiner Gedichte in Refuge – the collected poetry of JJ Bola. Es ist eines der ersten von 35 Gedichten, die 2018 bei OWN IT! Entertainment Ltd erschienen sind. Je mehr ich gelesen habe, desto mehr habe ich verstanden und desto weniger plump erschienen mir Bolas Verse. Mit jedem weiteren Gedicht, alle zwischen ein bis drei Seiten lang, wird das Bild kompletter, wird die Botschaft klarer und: ich beginne den Flow zu spüren. Ich verstehe: es sind keine klassischen Gedichte, es sind meist Raps, welche erfolgreich versuchen abzubilden, was kaum abbildbar ist: die Botschaft des Lebens, den Lebenssinn, Gesellschaftskritik, Machtstrukturen, dein Gegenüber Mitmensch, Schwester und Bruder werden lassen, Liebe leben über den Tod hinaus, Schmerz und Leid überwinden und transformieren. Für diese Themen Worte finden, ist eine Kunst und ich gebe zu: JJ Bola beherrscht sie! In einem Dreizeiler bringt er auf den Punkt, was manche Vorträge über Ungleichbehandlung und Diskriminierung nicht vermögen klar zu machen, die aber nach dem Tod von George Floyd medial in ein ganz anderes Licht gerückt werden: „Cops and robbers – „our kids cannot play this game, when lying dead on the floor is practice“.

Bola arbeitet mit Oxymora und bringt zur Sprache, was uns alle beschäftigt, die universellen Lebensthemen kommen zum Beispiel in „live“ zum Ausdruck, was wir alle wissen, wird durch die Gedichtform unaufdringlich aber direkt formuliert: „people should take days off work more often and spend them watching the clouds and looking up at the sky, wondering how and why we came to be.“

Mir gefällt es, wie Bola die Übergänge zwischen dem Erfassbaren zur unsichtbaren Welt gestaltet, wie er von seiner Großmutter berichtet, die in Lingala zu ihm spricht, was er nicht versteht. Die Oma, die Bola nicht mehr bewusst kennengelernt hat, begleitet ihn, er weiß: Ohne Vergangenheit, keine Zukunft und wie das Unerklärliche uns alle umgibt, uns gedeihen lässt – „something beautiful“.

Einige Gedichte scheinen gezielt an eine bestimmte Leser*innenschaft gerichtet zu sein, wie „real men“. Bola will aufrütteln, das Klischee vom starken Mann nicht nur hinterfragen, sondern verändern, er appelliert an die „weiche Seite“ in jedem Menschen, daran Gefühle zuzulassen, sie auszuleben, aber nicht auf Kosten anderer. Aus meiner Sicht haben diese Appellgedichte einen seltsamen Beigeschmack, sie erscheinen etwas belehrend, als wollten sie rührig machen. Darum geht es ihm wohl auch, ich halte es nicht immer für gelungen, weil sie Klischees bedienen und doch bin ich berührt. Bola hat mich erreicht.

Insgesamt ist Bolas Gedichtband auf jeden Fall lesenswert und sollte viel bekannter gemacht werden.

Gendervielfalt als globales Thema

Über international aktive NGOs wie Amnesty International und Mainstream-Medien wurde mir bisher vermittelt, dass gleichgeschlechtliche Paare in Ländern Afrikas geächtet und verfolgt werden. Ein facettenreiches Bild nicht straighter Frauen in Nigeria, das die verzerrten Blicke aus dem globalen Norden innehalten lässt und seinen Gegenübern auf Augenhöhe begegnet, zeichnen Azeenarh Mohammed, Chitra Nogarahjan und Rafeeat Aliyu in ihrer Zusammenstellung von Interviews mit dem Titel „She called me woman“. In diesem Buch legen Frauen aus verschiedensten Regionen Nigerias Zeugnis ab über ihr Leben als Frauen, die Frauen lieben und das jenseits von Klischees.

Die Themen des Buches berühren, erscheinen authentisch, sind „allzu menschlich“. Doch vor dem Hintergrund, dass Rollenverständnisse und Zuschreibungen viel mehr besprochen, durchbrochen, diskutiert und ausgelotet werden sollten als es aktuell (überall) der Fall ist, macht dieses Buch Mut, ist ein Wegbereiter und ein Zeichen von Empowerment. Es zeigt am Beispiel von Nigeria auf, was (queere) Frauen (weltweit) verbindet, im Schatten von Intersektionalität, aber ohne dies in den Vordergrund zu stellen.

Kaduna, Zamfara und weitere nehmen kein Blatt vor den Mund, manövrieren sich nicht in die Opferrolle, das macht das Buch angenehm zu lesen und lässt die Frauen wie die eigene beste Freundin, Nachbarin oder Klassenkameradin erscheinen, trotz der teils widrigen Erlebnisse der einen oder anderen Protagonistin. Die Themen reichen von sexueller und häuslicher Gewalt über Missbrauch, Rassismus, Zwangsehe bis zum Ausschluss aus der Familie, dominieren aber nicht in den Texten der Frauen.

Indem Bericht „This is what I have been missing“ von IX aus Kaduna erfahren wir, dass sie nicht von Anfang an wusste, dass sie Frauen liebt. Wiederkehrend ist die Familienthematik, dass befürchtet wird, die Konsequenzen eines Outings würden durch die direkte Familie nicht getragen, obwohl Freunde und Cousins und Cousinen es doch eher gelassen sehen. Unbegründet ist diese Angst nicht. So ist für TQ aus Gombe/Plateau, 27 Jahre alt, eine Welt zusammengebrochen, als sie mit ihrer Freundin von ihrem Onkel entdeckt wurde und jeweils die Familien in Kenntnis gesetzt wurden. TQs Freundin wurde geschlagen und erwägt nun einen Mann zu heiraten, um dem Druck zu entgehen. Das trifft TQ sehr, vor allem, weil sie sie im Stich gelassen hat. Dabei würde sie so gern diese Beziehungen weiterführen und eine Familie gründen – eine Scheinehe, eine Beziehung zu einem Mann, kommt für sie nicht in Frage.

OW, 25 aus Ondo wurde von ihrem Onkel als Kind sexuell missbraucht, hat stark religiöse Eltern und spricht trotz allem unverblümt über ihre sexuellen Vorlieben. Durch die Strenge ihrer Eltern, weil diese über Umwege von ihrer sexuellen Orientierung erfahren haben, musste sie sogar ihre Arbeitsstelle aufgeben. Auch OW glaubt an Gott, findet aber den Zugang eher über Spiritualität als über eine Kirche, die gegen Homosexualität wettert. An keiner Stelle hat OWs Bericht etwas Leidendes, sie spricht aus Überzeugung, will sich über ihre Sexualität nicht definieren, lehnt stereotype Rollenverteilungen ab: „My Sexuality is Just the Icing on the Cake“.

Die politische Lage in Nigeria für gleichgeschlechtliche Paare ist denkbar ungünstig. Durch das föderale System ist die Rechtsprechung von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden. Im Norden des Landes wird die Scharia angewandt, was für homosexuelle Männer die Todesstrafe bedeuten kann, wohingegen Beziehungen zwischen Frauen legal sind. Durch den „Same-Sex Marriage Prohibition Act“ von 2014 werden aber jegliche Handlungen kriminalisiert und eine offizielle gleichgeschlechtliche Partnerschaft unmöglich. Kein Land auf dem Kontinent, außer Südafrika, erlaubt gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Das erstaunt, da es in vorkolonialen Zeiten keine Gesetze gegen nicht binäre Beziehungen gab.

Die Herausgeberinnen bedauern, dass sie, obwohl es ihnen gelungen ist regional ganz Nigeria widerzuspiegeln, hauptsächlich nur Frauen zwischen 20 und 30 Jahren interviewen konnten. Gern hätten sie auch ältere Frauen befragt um einen umfangreicheren Eindruck von Queerness in Nigeria auch zeitlich widerzugeben. Obwohl es schon immer eine Vielfalt in der Sexualität gegeben hat, wurde diese nicht unbedingt sichtbar. Nur weil etwas nicht sichtbar ist, bedeutet das nicht, dass etwas nicht existiert. Dieses Buch leistet einen bedeutenden Beitrag dazu, Frauen, die sich nicht im rigiden binären System der Heterosexualität sehen, eine Stimme zu geben und erfahrbar zu machen, was das in unser aller imperialistischen, (post)kolonialen, sexistischen Welt immer noch für Folgen hat.

Träume von Freiheit

Der 1960 in Angola geborene Autor José Eduardo Agualusa hätte dieses Jahr Headliner auf dem African Book Festival in Berlin sein sollen – das Festival wurde wegen der Corona-Pandemie abgesagt. 2019 ist auf Deutsch sein neuer Roman Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer erschienen. Die Erschließung des Romans ist eine Aufgabe, die sich gar nicht so leicht gestaltet; der poetisch-politische Roman erfordert durchaus Konzentration beim Lesen. Obwohl Agalusa als bekanntester Schriftsteller Angolas gilt wurden bisher erst fünf Bücher ins Deutsche übersetzt, was daran liegen mag, dass der in Portugal, Angola und Brasilien lebende Autor fest in seiner Mutter- und Literatursprache Portugiesisch beheimatet ist.

Der Roman rankt sich um verschiedene Kerngeschichten: beim eigentlichen Ich-Erzähler, der alle anderen Figuren miteinander verbindet, handelt es sich um den soeben geschiedenen Journalisten Daniel Benchimol aus Huambo in Angola. Sein in die Machenschaften der Regierung verwickelter Schwiegervater mochte seine regimekritischen Schriften nicht und so wird man direkt eingeführt in das Thema des Romans: die unverarbeitete jüngste Vergangenheit des südwestafrikanischen Staates, der zwar 1975 nach der Nelkenrevolution in Portugal Unabhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht erlangte, dann aber bis 2002 in blutige Bürgerkriege zwischen verschiedenen Befreiungsbewegungen versank. Der Präsident José Eduardo dos Santos regierte von 1979 bis 2017 totalitär, bis er sich schließlich nicht mehr zur Wiederwahl aufstellen ließ. Der politische Hintergrund wird in dem 2015 spielenden Gegenwartsroman direkt und indirekt verarbeitet: der Präsident bleibt zwar namenlos, der Roman ist aber einer realen Gruppe Jugendlicher um den Rapper Luaty Beirão gewidmet, denen die Vorbereitung eines Staatsstreiches zur Last gelegt wurde.

Diese starke Stimme der Jugend übernimmt im Roman Benchimols Tochter Lúcia/ Karinguiri. Sie wächst nach der Scheidung in Portugal im Wohlstand auf, kehrt jedoch als Jugendliche nach Angola zurück und tritt in die Fußstapfen ihres Vaters – auf eine radikalere und weniger versponnene Art und Weise. Nachdem sie mit einer Gruppe Videos gegen die Diktatur ins Netz gestellt und den Präsidentenpalast gestürmt hatte, werden alle rebellierenden jungen Menschen festgenommen. Karinguiri bleibt jedoch – als echte Wiederstandkämpferin gezeichnet – selbst im Gefängnis mutig und konsequent im Glauben an eine neue, nicht korrupte und totalitäre Regierung und begibt sich schließlich mit ihren Mitstreiter*innen in einen lebensbedrohlichen Hungerstreik. Dieser spannendste Erzählstrang löst sich erst auf den letzten Seiten des Romans auf.

Daniel Benchimol selbst fährt regelmäßig in ein Hotel am Meer, der Hotelier Hossi ist sein Freund. In Hossi´s Hotel findet Benchimol am Strand eine Kamera – und folgt der Frau auf dem Film, der in Südafrika lebenden Künstlerin Moira Fernandes, in die er sich verliebt. Erst mit der Zeit erfährt die Leserschaft, dass Hossi Ex-Guerillakämpfer der UNITA (Nationalen Union für die Völlige Unabhängigkeit Angolas) ist und einst grausame Foltermethoden anwendete. Die allumfassende Grausamkeit des Krieges, auch innerhalb der Befreiungsbewegungen, sowie die Traumata der Vergangenheit, die Amnesien hervorrufen und in die Gegenwart hineinwirken, wird durch die Figur des Hossi anschaulich porträtiert.

Reale und politisch-historische Erlebnisse und der Kampf um Freiheit sind jedoch nur eine Handlungsebene und Lesart des Romans, die zweite ist die Ebene der Träume: Moira malt Träume in ihren Werken. Daniel Benchimol träumt von Menschen, die er (noch) nicht kennt. Auch Moira war ihm seit langem in seinen Träumen erschienen. Hossi dagegen kann, seit er zweimal vom Blitz getroffen wurde und Teile seines Gedächtnisses verloren hat, nicht mehr träumen, erscheint aber anderen, die in seiner Nähe sind, in einem lila Jackett in ihren Träumen. Und schließlich taucht noch der Neurowissenschaftler Hélio auf, der mithilfe einer neuentwickelten Maschine Träume während des Schlafs im Labor in Bilder und Filme verwandelt.

Das Motiv des Traums ist das Kernthema des Romans, wie der wörtlich übersetzte Titel schon vermuten lässt. Die Protagonisten sind ihren Träumen ausgeliefert, dabei treten auch irreale und fantastische Elemente in den Vordergrund, am Ende träumen etwa alle Bewohner*innen der Hauptstadt Luanda denselben Traum. Die Träume umfassen alle Erzählebenen des Romans und greifen diese auf unterschiedliche Arten auf. Neben den wechselnden Erzählperspektiven werden Träume in Tagebüchern und Briefen berichtet oder in Gespräche eingestreut. Die Erzählstränge spielen – nicht immer chronologisch erzählt – in verschiedenen Zeitebenen und an verschiedenen Orten (Portugal, Angola, Brasilien, Südafrika). Es ist manchmal schwer, dem bisweilen verschachtelten und verwirrenden Roman zu folgen – auch, weil einzelne Szenen (traumhaft anmutend) abreißen, um später wieder aufgegriffen zu werden.

Beeindruckend ist die poetische Sprache, die fesselt und so über manche Leseanstrengung hinweghilft. Das Glossar zur Orientierung sowie die zwei Karten in der Innenseite des Hardcovers sind ebenfalls hilfreich. Leser*innen, die einen politischen Roman lesen wollen, der nicht schwer, sondern poetisch ist und dabei genug Aufmerksamkeit mitbringen, um sich in einem sprachlich beeindruckenden Erzählstrudel zwischendurch selbst zu orientieren, sei das neue Buch von Agalusa empfohlen.

Perzeption von Migration und Rassismus in Gedichtform

Der Gedichtband Refuge von J.J. Bola aus dem Jahr 2018 ist eine Kollektion, die die besten Gedichte aus seinen vorherigen Gedichtsammlungen Elevate (2012), Daughter of the Sun (2014) und Word (2018) sowie einige neue Gedichte umfasst.

J.J. Bola ist ein in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, geborener Autor, Dichter und Menschenrechtsaktivist – man könne „nicht unpolitisch sein“, so wird er häufig zitiert. Im Alter von 6 Jahren migrierte er dank der diplomatischen Verbindungen seines Großvaters mit seinen Eltern nach London, wo er heute noch lebt. Vor seiner Karriere als Autor und Dichter war er Basketballspieler und arbeitete als Sozialarbeiter mit benachteiligten Jugendlichen. Heute setzt er sich neben seiner Kunst für Geflüchtete ein und arbeitet mit Amnesty International sowie als UNHCR-Botschafter an unterschiedlichen Projekten, besonders zu Menschenrechten in der Demokratischen Republik Kongo.

J. J. Bola möchte ein Künstler sein, der explizit für junge Menschen schreibt. Dabei bringt er das Medium der Dichtung Menschen nahe, die sonst vielleicht wenig damit in Berührung gekommen sind. Dafür nutzt er bewusst alle Kanäle der neuen Medien: er führt einen Blog, rezitiert Gedichte als TED-Talks, befasst sich in Webserien – angelehnt an sein Sachbuch über toxische Männlichkeit und Patriarchat (Mask off: masculinity redefined) – mit dem Thema Maskulinität, und trägt seine Werke auf poetry slam-Veranstaltungen und Musikfestivals vor. Trotz der Nähe zur Rapmusik ist seine Kunstform die Literatur und dabei vor allem die Dichtung.

Die in seiner Kunst bearbeiteten Themen sind dabei allesamt aktuell und wichtig. Die Themen Ungleichheit, Ungerechtigkeit sowie Rassismus werden in vielen seiner Gedichte aufgegriffen. Im berühmte Titelgedicht „refuge“ setzt sich J. J. Bola (wie auch in „tell them“ und „more war“) mit den Kriegserfahrungen von Geflüchteten in ihrem Heimatland sowie dem erlebten Rassismus in Europa auseinander. Auch in „a different violence“ werden die schmerzlichen Erfahrungen mit Ausgrenzung sowie der Assimilationsdruck, dem die Menschen der black community (nicht nur) in Großbritanien ausgesetzt sind, thematisiert. Zudem wird das brandaktuelle Thema der Polizeigewalt, wie auch in dem kürzesten Gedicht des Bandes „cops and robbers“, aufgegriffen:

„our kids cannot play this game,

when lying down on

the floor is practice” – heißt es da.

Weitere Gegenstände der Auseinandersetzung bei J. J. Bola sind toxische Männlichkeit sowie Sexismus. In „an apology“ verbeugt sich das lyrische Ich vor den Frauen, die es als göttlich verehrt und entschuldigt sich stellvertretend für seine Geschlechtsgenossen. Die biographische Entstehung der Abwertung von Frauen hat „real men“ zum Inhalt: schon kleine Jungen würden mit einem toxischen Männlichkeitsideal konfrontiert, indem „real men“ stark, emotionslos und promisk sein sollten; „listen bro, the fact is we were lied to“ wird mehrfach wiederholt. Ebenfalls fast missionarisch wird auch in „man, listen“ an alle Männer und deren zukünftige Söhne appelliert, sexistische Stereotype und Misogynie – die auch in der Hip-Hop-Kultur transportiert werden – zu durchbrechen. J.J. Bolas ambivalente Beziehung zum Hip-Hop, der Subkultur, mit der er in Camden- London aufgewachsen ist, wird auch im sehr explizit betitelten Gedicht – „i found hip hop“ aufgegriffen. In der dichten und starken Verwendung von Sprache einem Rap sehr ähnlich, wird hier auch die Herkunft des Dichters, seine Identität als Afrikaner sowie die Kommerzialisierung des Hip-Hops bearbeitet.

Weitere Themen bei J.J. Bola sind Politik und Medienkritik wie in „politics 101“, das Stadtleben in „london“, eine Auseinandersetzung mit Glauben wie in „faith“ sowie Alltagsphilosophisches. Einige Gedichte (etwa „live“) sind dabei mit einer Menge an Tipps und Ideen einem Lebensratgeber zu ähnlich. Im persönlichsten und fast kitschigen Gedicht „something beautiful“ reflektiert J. J. Bola seine eigene Entwicklung zur Schriftstellerei als Selbstheilung.

Neben all den sozialkritischen Gedichten finden sich in Refuge aber nicht zuletzt auch viele schöne und berührende Liebesgedichte. In „I just wanna love her” und „to her, where she may be” wird eine idealisierte Liebesbeziehung oder der Wunsch nach dieser in einer mythologisch aufgeladenen und metaphorischen Sprache beschrieben. In „moon child” wird der Autor persönlich, eine aus Scheuheit unerfüllt gebliebene Liebe bleibt zumindest in Worten lebendig.

J. J. Bola veröffentlichte mit diesem Sammelband seiner Aussage nach die zunächst letzte Sammlung an Gedichten. Aus fast allen Gedichten spricht die eigene Lebensgeschichte des Autors; die Geschichte eines jungen Mannes, der nach eigener Fluchterfahrung kein professioneller Basketballspieler werden durfte, da er die britische Staatsangehörigkeit nicht trug. Der schließlich durch eigene Erweckungsmomente sowie einen Masterstudiengang in Kreativem Schreiben an der Birkbeck University in London zur Literatur fand und für das Genre ungewöhnlich politische und soziale Gedichte veröffentlichte. Dass der Autor damit nicht nur Kunst machen möchte, sondern eine politische Mission als „Influencer“ verfolgt, kann man kritisch diskutieren. So steht das Werk vielleicht nicht für sich, sondern ist bewusst politisch gehalten – auch um den Wünschen seiner Leser*innen gerecht zu werden. Ohne Frage haben wir es jedoch hier mit einem sehr talentierten jungen Schriftsteller zu tun, der wichtige, mutige und tagesaktuelle Themen in berührenden und schönen Gedichten verarbeitet.

Queeres Leben in Nigeria, ein Leben unter Repressionen

Die Sammlung She Called Me Woman: Nigeria’s Queer Women speak, herausgegeben von Azeenarh Mohammed, Chitra Nagarajan und Rafeeat Aliyu im Jahr 2018, umfasst autobiografische Geschichten von Frauen zwischen 20 und 42 aus unterschiedlichen Regionen Nigerias mit diversen Bildungshintergründen sowie religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten. Gemeinsam ist all diesen Frauen ihre queere Identität, es werden die Erlebnisse von Frauen mit nicht-heterosexuellen sexuellen Orientierungen und Ausdrucksarten sowie unterschiedlichen geschlechtlichen Identitäten porträtiert.

Die mutige Veröffentlichung trifft auf einen aktuellen Diskurs in der nigerianischen Gesellschaft: In Nigeria wurde Homosexualität 2014 nach einer vorherigen Abkehr von den kolonialen Gesetzen rekriminalisiert. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist verboten, die Strafe für homosexuelle Aktivitäten und Treffen unter Homosexuellen in Nigeria liegt in einigen Landesteilen bei einer Gefängnisstrafe von 14 Jahren, in den Landesteilen im Norden des Landes, in denen die Schari‘a angewendet wird, kann sogar die Todesstrafe durch Steinigung verhängt werden. LGBT-Organisationen arbeiten im Geheimen und Homosexualität erfährt in der breiten Bevölkerung weiterhin starke Ablehnung. Auf der anderen Seite gibt es geschätzt mehr queere Personen in Nigeria als Einwohner*innen in Lagos und Homosexualität ist – wie überall – schon immer Teil der nigerianischen Geschichte, Kultur und Tradition gewesen.

Bewusst legen die Herausgeberinnen den Fokus in ihrem Sammelband auf lesbische oder transsexuelle Frauen – eine noch unsichtbarere Gruppe innerhalb der queeren Community. Sie geben diesen wortwörtlich eine Stimme, sodass nicht mehr nur über sie gesprochen wird. Es wurden Frauen aus verschiedenen Landesteilen interviewt, die Audiodateien wurden transkribiert, zum Schutz der Erzähler*innen anonymisiert und unkorrigiert als Sammlung von Erzähler*innenstimmen wiedergegeben. Die Protagonist*innen haben ihre sexuelle Identität in verschiedenen Altersstufen und auf unterschiedliche Arten erfahren und entdeckt, einige kannten die Kategorie „gay“ für ihre Empfindungen nicht und „verstanden“ sich selbst so erst in ihren späten Zwanzigern. Einige Themen tauchen dabei bei allen auf: ein „Problem“ mit ihrer Sexualität beschreibt keine der Protagonist*innen, die meisten erfahren auch große Unterstützung durch Freund*innen außerhalb der Familie. Es ist die abweisende und kriminalisierende Reaktion der Familie, der Gesellschaft, der Politik und der Religion die es ihnen schwermacht und sie ihre Liebe im Geheimen ausleben lässt – „Love is not wrong“, so ist etwa ein Kurztext betitelt.

Die Lebensrealitäten der Erzähler*innen und damit auch die Risiken, die ihre Sexualität mit sich bringt, unterscheiden sich dabei massiv: Im Kurztext „I only admire girls” erzählt eine 20-jährigen junge Frau aus der Volksgruppe der Hausa von ihrer Kindheit und Jugend. Sie war schon als Kind körperlicher Gewalt durch den Vater und sexuellen Übergriffen durch Männer ausgesetzt. Nachdem bekannt wird, dass sie sich als Junge fühlt und nicht heiraten möchte, wird sie – wie es das normale Schicksal eines Mädchens in ihrer Gegend ist – mit 14 Jahren an einen ihr vorher unbekannten Mann verheiratet. In der Ehe erfährt sie Gewalt, wird eingesperrt und flieht schließlich. Heute lebt sie mit anderen Frauen mit ähnlicher Erfahrung an einem sicheren Ort, ohne Kontakt zu ihrer Familie.

In „My sexuality is just the icing on the cake” erzählt eine 25-jährige aus Ondo im Südwesten Nigerias, Tochter eines Pastors und einer Evangelistin, ihre Lebensgeschichte. Sie berichtet von vielen glücklichen Kindheitserinnerungen, aber auch von dem seitens ihrer Familie geleugneten sexuellen Missbrauch durch ihren Onkel. Schon früh weiß sie, dass sie lesbisch ist und berichtet der Leserschaft von ihren verschiedenen Beziehungserfahrungen. Als ihre Familie später zufällig von ihrem Geheimnis erfährt, muss sie für acht Monate zuhause bleiben. Berührend ist es, wie die gebildete junge Frau die Konzeptualisierung von Gender-Rollen reflektiert. Sie lehnt die Aufteilung in „männliche und weibliche Rolle“ in einer lesbischen Beziehung ab, dies brächte das ganze heterosexuelle Konzept in eine homosexuelle Beziehung. „I like to be free of gender…I tell people that my sexuality is just the icing on the cake…My sexuality doesn´t define who I am.”

Die Qualität der Texte ist dabei abhängig vom unterschiedlichen Bildungshintergrund der Protagonist*innen, was sich in der Wahl und Differenziertheit der Sprache erkennbar macht. Eine sehr starke Erzählerinnenstimme wird etwa im essayistisch geschriebenen Kurztext „Focusing on Joy“ laut. Die 29-jährige Erzählerin, Tochter eines nigerianischen Vaters in Chicago, USA geboren, schreibt Kurzgeschichten seit ihrer Kindheit. Die Pubertät wird für sie aus doppeltem Grunde zu einem verstörenden Moment: vorher war in ihrer aufgeklärten Familie ihr Leben als „tomboy“ nie thematisiert worden, nun reagiert die Außenwelt nicht nur auf ihre neue Weiblichkeit, sondern ihr wird auch der weitverbreitete Rassismus gegenüber schwarzen Frauen in den USA entgegengebracht. Ihr Coming-Out-Prozess als bisexuelle Frau ist ein langer Prozess, an dem sie die Leserschaft teilhaben lässt. Insgesamt sind es aber weniger die Fragen der sexuellen Identität als ihre allgemeine Identitätsfindung -als schwarze, Nigerianisch-Jamaikanische Frau – die sie beschäftigen.

Der Sammelband erzählt in erster Linie die Lebens- und Diskriminierungserfahrungen von queeren Menschen in der stark patriarchal aufgebauten und homophoben Gesellschaft Nigerias. Der Band kann aber auch anders gelesen werden; etwa als Sammlung von Coming-of-Age-Geschichten, in der erste Beziehungserfahrungen von Jugendlichen porträtiert werden. Oder als Kaleidoskop verschiedener Perspektiven, Religionen und Völker innerhalb Nigerias und damit als zeitgenössisches Zeugnis des Nord-Süd-Unterschiedes in Nigeria. Der Sammelband ist zwar hauptsächlich adressiert an die allgemeine Bevölkerung Nigerias und an die queere Community im Speziellen, er ist aber auch interessant für internationale Leser*innen, die am Thema Gender interessiert sind und auch für solche, die eine gute Einführungsliteratur zu Nigeria suchen.

Dabei muss der interessierten Leserschaft bewusst sein, dass es sich weder um ein literarisches Buch noch um ein Sachbuch zum Thema handelt, sondern um eine Zusammenstellung transkribierter, nicht korrigierter Audiodateien. Eine akademische Diskussion zu Queerness würde dabei zu dem persönlichen Stil des Buches sicherlich nicht passen, eine fundiertere fachliche Einführung zum politischen Hintergrund, zu Homosexualität in Nigeria oder den Konzepten von LGBT hätte den Einzelerzählungen aber einen stimmigeren Rahmen gegeben. Zudem hätte eine textliche Überarbeitung im Stile des Erzählten der Lesbarkeit mancher Kurztexte genützt. Trotzdem bleibt She called me woman für die am Thema interessierte Leserschaft ein politisch und gesellschaftlich wichtiges und vielfach berührendes Buch.

Literature noir aus Nigeria

Im Sammelband von Kurzgeschichten Lagos noir wird das Stadtgeschehen der nigerianischen Megametropole Lagos, die mit 21 Mio. Einwohnern neben Kairo zu den größten Städten des Kontinents zählt, auf vielfältige Art und Weise porträtiert. Das Lesen des Sammelbandes ist wie eine virtuell-literarische Reise durch die Stadt, jede Geschichte nimmt Bezug auf ein anderes Stadtviertel mit dessen Geschichten und Menschen .

Herausgegeben vom unabhängigen Verlag „Akashic Books“ aus Brooklyn/ New York, war Lagos Noir der erste Band, der sich afrikanischen Stadt in der preisgekrönten ausgezeichneten kommerziellen Serie „Akashic Noir“ widmet. Der Verlag erlangte 2004 mit dem ersten Buch Brooklyn Noir Bekanntheit. Nachdem die Serie zunächst Metropolen im US-amerikanischen Raum porträtierte , expandierte sie in den folgenden Jahren nach Europa, Südamerika, Asien und Afrika. Seitdem wurden Bände aus aller Welt mit Noir-Geschichten aus verschiedenen Hauptstädten und Metropolen zusammengestellt, die Reihe wurde erfolgreich und bei einer internationalen Leserschaft beliebt.

Der Herausgeber des Sammelbandes ist der 1966 in Nigeria geborene preisgekrönte Autor Chris Abani. Vor seiner Emigration, zunächst nach Großbritannien und dann in die USA, wurde er dreimal wegen regierungskritischer Aktivitäten verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Man meint, diese Erfahrungen mit Polizeigewalt und Korruption in der Auswahl der Kurzgeschichten zu spüren.

Die Autor*innen der 13 Geschichten des Sammelbandes sind alle nigerianischer Abstammung, fast alle schreiben aktuell aus der Diaspora. Der Sammelband gliedert sich in die drei Teile „Cops and Robbers“, „In a Family Way“ und „Arrivals and Departures”. Aus der guten und vielfältigen Auswahl von Kurzgeschichten stechen einige nochmal besonders heraus: die Geschichte „Killer Ape“ von Chris Abani selbst, „Heaven´s Gate“ von Chika Unigwe und „Showlogo“ von der bekannten nigerianisch-amerikanischen Autorin Nnedi Okrafor sind Highlights in einem Band von Geschichten, die sich durchweg durch ein hohes Niveau auszeichnen.

„Showlogo“ ist die witzigste und skurrilste Geschichte des Bandes, in einer spannenden und kurzweiligen Art und Weise geschrieben, sprachlich sehr bunt. Ein Mann fällt nahe Chicago vom Himmel. Er heißt Showlogo und der Name ist Programm. Die Autorin porträtiert ihren Protagonisten ausführlich, führt die Leserschaft in seine Lebensgeschichte ein. Wie er den als Fluchtversuch geplanten Langstreckenflug im Landungsgestell des Flugzeuges von Nigeria in die USA überlebt, hat einen irreal-wundersamen Charakter – Showlogo ist unbesiegbar.

„Killer Ape“ – als einzige Kurzgeschichte neben der Einführung vom Herausgeber selbst verfasst – entführt die Leserschaft in die Welt der britischen Expat-Community der 1950er Jahre und behandelt das Thema des Kolonialismus. „Killer Ape“ spielt auf der Insel „Ikoyi“ bei „Lagos Island“, die in der Kolonialzeit von Europäern bewohnt war. Heute finden sich dort die Häuser mit den höchsten Grundstückpreisen Afrikas, der Wohnsitz mehrerer Präsidenten befand sich in dem Stadtteil. In der Kurzgeschichte ermittelt der charismatische Kommissar Okoro nach den Methoden seines Vorbildes Sherlock Holmes. Als heimlicher Homosexueller hat Okoro sofort den richtigen Impuls: er erspürt die Liebesgeschichte eines britischen Hausherren zu seinem schwarzen Angestellten und entlarvt den wohl skurrilsten vorgeführten Tatverdächtigen des Sammelbandes – einen Affen – als unschuldig. Statt jedoch die eifersüchtige Täterin – die Ehefrau – festzunehmen, spielt Okoro das Spiel mit, die bourgeoise und rassistische gesellschaftliche Ordnung bleibt erhalten.

Chika Unigwe, eine belgische Schriftstellerin nigerianischer Abstammung, veröffentlichte mit „Heaven´s Gate“ eine der berührendsten Geschichten des Sammelbandes. Emeka ist ein junger Mann, der ohne Mittel nach Lagos gekommen war und mit Hilfe eines reichen Geschäftsmannes eine Business-Idee verwirklicht. Als Okada-Fahrer (die typischen Motorradtaxis, die es überall in Lagos gibt) macht er nächtliche Zusatzschichten, um der neuen Frau in seinem Leben die Chance auf eine eigene Wohnung zu ermöglichen. Mit den Regeln der korrupten Polizei meint er sich auszukennen, aber eines Nachts gerät er an den falschen Polizisten… Die Polizei von Lagos wird in „Heaven´s Gate“ „die Wölfe“ genannt. Typisch für das Noir-Genre ist die Polizei auch hier wie in den wenigsten Geschichten integer; in den meisten Geschichten verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse, die Polizei fungiert als weitere kriminelle Kraft neben den allgegenwärtigen Verbrecherbanden. In „What they did that night“ von Jude Dibia muss Corporal Gabriel am Ende der Geschichte sogar erfahren, dass er allein auf weiter Flur gegen die Gangstergang ermittelt hat; nicht nur sein Chef und seine Kollegen haben mit der Gangsterbande kollaboriert, sogar seine eigene Ehefrau hat gegen ihn gearbeitet.

Alle Geschichten aus „Lagos Noir“ spielen im Lagos des 21. und vereinzelt des 20. Jahrhunderts und behandeln übergreifende Themen, kondensiert auf wenigen Seiten mit kurzen Einblicken. Die bestimmende Themen des Bandes sind allesamt aktuell und modern: es geht um den gravierenden Kontrast von Arm und Reich in der Stadt, um Aufstieg durch Ölgeschäfte im Nigerdelta, um das Leben im Flüchtlingscamp, um die allumgreifende Korruption und immer auch um Zwischenmenschliches. Die Leserschaft wird an verschiedene Orte und Lebensrealitäten von Lagos entführt. Transportiert wird ein vielschichtiges und dichtes Bild der Stadt in vielen Bildern und Metaphern: Lagos als Stadt der Träume, als Stadt, die niemals schläft, als Stadt der unzerstörbaren Lagos-Ratten… Der Sammelband ist kurzweilig, vielfältig und originell und somit interessant zu lesen nicht nur für Krimiliebhaber*innen und Großstadtfans, sondern auch als Vorbereitung auf eine Reise nach Lagos.

Kraft der Gedanken

Famos, fantastisch, fulminant – so lässt uns Agualusa eintauchen ins Gestern und Heute Angolas. Packend erzählt der Autor vom Journalisten Benchimol, der zufällig die Kamera einer jungen Künstlerin findet, welche ihm helfen wird seine Träume zu entschlüsseln. Doch das ist nur einer der Erzählstränge, die in diesem Roman gekonnt miteinander verwoben werden. Nach und nach drängen die Details über Benchimols Scheidung und seine Tochter aus jener Beziehung ans Licht und wie sein Schwiegervater seine Karriere beeinflusst und welche Ränke geschmiedet werden, mit Macht.

Vielgestaltig sind die Charaktere, die Agualusa zusammenträgt und auf den Plan treten lässt, alle eingebettet in die politischen Begebenheiten Angolas. Den fabulösen Name Karinguiri trägt Benchimols Tochter, die eine entscheidende Rolle spielt. Moira nennt sich die (junge) Künstlerin, mit der schwimmenden Kamera und nicht zu vergessen: Hossi, der ehemalige Guerillakämpfer, der in den Träumen Fremder auftaucht, womit er den Geheimdienst auf seine Spur bringt.

Was kann aus diesem Kuddelmuddel, diesem Puzzle entstehen? Auf verschiedenen Erdteilen gar hausen die Hauptpersonen zeitweilig und doch finden sie zueinander, etwas verbindet sie alle. Sie haben einen Traum, den Traum von Gerechtigkeit, von friedlichem Zusammenleben. Bis zum Ende ist unklar, ob Hossi bewusst ist, was er in den Träumen anderer treibt. Unheimlich, aber die Hirnforschung einbeziehend, sind die Passagen, wo es um die Entschlüsselung der Träume geht – Zukunftsmusik?

Agualusas Erzählstil hat mich gefesselt von der ersten bis zur letzten Zeile. Die Art, wie er schreibt, Fiktion und Ereignisse aus Angolas Geschichte verbindet, ist kunstvoll und lässt den Ruf nach Mehr laut werden. Hier geht es an die ganz großen Themen: Kann jeder einzelne das Weltgeschehen beeinflussen? Dürfen wir auf eine bessere Welt hoffen? Tragen unsere Träume, unsere Vorstellungskraft, zu einer besseren Welt bei? Welches ist der richtige Weg zwischen Machbarkeitswahn und Träumerei? Darf ich auf die Läuterung meiner Taten hoffen? Wo, wenn nicht in der Literatur darf die transzendente Ebene Einzug halten?

Der einzige Wermutstropfen in Agualusas Beschreibungen sind die Darstellungen der Frauen. Neben der Muse – verzaubernd, schillernd, schön – gibt es die verstörend junge Aktivistin à la „Jeanne d’Arc“, den hehren Zielen getreu bis in den Tod. Dann darf natürlich die sexy Nachbarin nicht fehlen, die man nachts ihren beinah doppelt so alten Mann bumsen hört – aber natürlich hält sie nicht nur für ihren Mann her. Ach und unvergessen, die nervige Ex-Frau. Schade, dass hier keine Zwischentöne gefunden werden.

Sehr schön aufgemacht ist das Buch, indem im vorderen und hinteren Umschlag Karten mit den Orten des Geschehens abgebildet sind. Dies erleichtert allen, denen die Geographie Angolas nicht geläufig ist, einen schnellen Einblick, wie auch das Glossar und die geschichtlichen Anmerkungen, anhand derer einige Ereignisse schlüssiger werden.

Insgesamt eindeutig ein Must-Read

Bericht aus dem Innersten des Krieges

Der im französischen Original 2018 unter dem Titel Frère d d’âme erschienene Kurzroman des senegalesisch-französischen Autors David Diop erzählt die Geschichte eines jungen Mannes aus dem Senegal, der im 1. Weltkrieg für Frankreich kämpft. In Frankreich wurde das Romandebüt des Autors zu einem Bestseller, 2019 erschien der Roman in der deutschen Übersetzung unter dem leicht plakativen Titel Nachts ist unser Blut schwarz – passend dazu in einem düster gehaltenen Hardcover, auf dem eine karge Baumlandschaft mit roten (Blut?) – Flecken besprenkelt wird.

Im Nachwort beschreibt Diop die historischen Hintergründe des Romans. 180 000 „Senegalschützen“ – eine Bezeichnung, die sich auf alle Soldaten aus dem Kolonialreich Frankreichs in West- und Zentralafrika bezog – kämpften im ersten Weltkrieg für die Franzosen. Jeder sechste von ihnen verlor sein Leben im Krieg, die meisten in den Grabenkriegen gegen die Deutschen; hier ist auch der Roman angesiedelt. Die rassistisch als „Schokosoldaten“ bezeichneten Männer wurden mit Macheten ausgestattet, um ihren Ruf als „Wilde“ zu unterstreichen und als erste auf den Schlachtfeldern verheizt.

Der Kurzroman geht unter die Haut. Das Buch ist komplett als Monolog aus der Sicht des senegalesischen jungen Mannes Alfa Ndiaye verfasst. Es fühlt sich an, als sei man seiner Innenansicht, seinen Gedanken und Gefühlen in aller Wucht und Grausamkeit ausgeliefert. Der beschriebene Handlungsstrang selbst umfasst nur wenige Wochen und wird in seiner stringenten Erzählweise nur unterbrochen durch Rückblenden in die Kindheit und Jugend des 20-jährigen. Die Rückblenden sind die einzig schön zu lesenden Stellen in dem sonst blutigen Roman. Der Krieg wirkt wie ein Donnerschlag, der über die Harmonie des Bauernjungen hereinbricht, die zuvor erst einmal durch das Verschwinden und die mutmaßliche Entführung seiner Mutter getrübt wurde.

Die Handlung selbst ist schnell erzählt: Mademba Diop, Alfas‘ Kindheitsfreund und „Seelenbruder“, wurde aus dem Hinterhalt durch einen sich schlafend stellenden deutschen Soldaten schwer verletzt und kehrte mit heraushängenden Gedärmen mehr tot als lebendig zurück. Mademba fleht seinen Freund dreimal an, ihn zu erlösen, ihn zu töten. Alfa schafft es nicht, der Bitte seines Freundes zu entsprechen. Der Freund verblutet elendig. Alfa bereut seine Verweigerung und bittet den toten Freund um Verzeihung, doch für sein eigenes Seelenheil ist es zu spät.

In diesem Schlüsselmoment des Buches bricht etwas in Alfa: er möchte seinen Freund rächen, indem er blauäugige Soldaten tötet. Er tötet wie im Rausch im Nahkampf aus dem Hinterhalt, immer nachts, und bringt die abgehackten Hände, an denen noch die Gewehre der Feinde hängen, als Kriegsbeute mit. Dafür erfährt er erst Bewunderung in der Truppe, bald jedoch wenden sich die anderen von ihm ab, sie fürchten ihn und bezeichnen ihn als Hexersoldat. Nach der siebten mitgebrachten „Trophäe“ wird selbst dem blutrünstigen Hauptmann sein Schützling zu unberechenbar, sodass er ihm einen Urlaub von der Front verordnet. In einer psychiatrischen Heilanstalt beginnt Alfa in das Erlebte zu verarbeiten.

Gefühlt ist in jeder Zeile des Buches die Grausamkeit des Krieges zu spüren. Die Verwandlung eines abenteuerlustigen jungen Mannes, der noch kurz vor dem Aufbruch in den Krieg seine erste beglückende sexuelle Erfahrung gemacht hat, zum Mörder auf dem Schlachtfeld, wird eindrücklich beschrieben. Er entscheidet über Leben und Tod, über Recht und Unrecht– so weit ist er abgekommen von der richtigen Einschätzung einer Situation und vom Gefühl für sein Gegenüber. Zum Schluss verliert er sich vollkommen und depersonalisiert aus seinem eigenen Körper. Ebenfalls zweideutig bleibt dabei die Darstellung des Innenlebens des Alfa Ndiaye: war er schon vorher psychisch auffällig und lebt seinen Wahnsinn nun im Krieg aus? Immerhin wurde schon im Senegal über ihn erzählt, er sei ein Seelenfresser und würde Mademba´s Kräfte rauben. Oder lesen wir hier die Verwandlung eines Mannes durch den Krieg, eine frühe Schilderung einer posttraumatischen Belastungsstörung?

Der Fokus des Buches ist das Psychogramm Alfa Ndiayes, nicht der historisch-politische Hintergrund. Der Rassismus gegenüber den Senegalsoldaten wird aufgegriffen, aber in der konsequenten Innenperspektive des Erzählers in keinen Rahmen gesetzt oder problematisiert. Durch die prototypische Überzeichnung des Alfa Ndiayewird die Ideologie des „Wilden“ klischeehaft aufgegriffen. David Diop wollte sie wohl durch diesen Kunstgriff ad absurdum führen, es kann aber auch gefährlich sein, ebendiese Bilder zu bedienen.

Das Buch ist keine angenehme Unterhaltungsliteratur und nichts für empfindliche Gemüter, man braucht starke Nerven, um die detailliert geschilderten Tötungsszenen zu ertragen. Rhythmisch und fast mantraartig werden einzelne Sätze wiederholt: „Ich weiß es, ich habe es verstanden“, „Ich habe verstanden, ich hätte es nicht tun sollen.“ „bei der Wahrheit Gottes“… Diese Sprache verfolgt das Ziel, die Leserschaft in den Bann zu ziehen, wirkt aber beizeiten auch hölzern und phrasenhaft. In der starken Bildersprache mit einigen mystischen Elementen verwendet Diop auch viele sexuelle Konnotationen: der Schützengraben wird beschrieben als übergroßes weibliches Geschlecht, das ihn aufnimmt, der Hauptmann „geht mit dem Krieg ins Bett“. In Verbindung mit den sich immer wiederholenden Sätzen und der Kürze des Buches führt auch die Eingängigkeit der Sprache dazu, dass man das Buch in einem Rutsch durchlesen kann – und verstört zurückbleibt. Leser*innen mit historischem Interesse oder Interesse an (Anti)-Kriegsromanen sei dieser Roman empfohlen.

Ein Tagebuchroman über eine junge Ärztin und Aktivistin in Südafrika

Der Roman Period Pain von Kopano Matlwa erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die als Assistenzärztin in Johannesburg arbeitet. Die in Südafrika viel beachtete Schriftstellerin und Ärztin Kopano Matlwa feierte 2011 mit ihrem Debüt Coconut Erfolge, 2016 wurde mit Period Pain ihr aktuellster Roman veröffentlicht. Die Einblicke in das marode Medizinsystem Südafrikas werden wahrscheinlich von eigenen Erfahrungen gedeckt sein – so authentisch klingen die Schilderungen. Die deutsche Erstveröffentlichung erschien im August 2019 unter dem Titel Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist.

Die Protagonistin des Romans, die junge, engagierte und idealistische Masechaba treibt das korrupte und ungleiche Medizinsystem ebenso um, wie die Schatten in ihrer Seele, die sie seit dem Suizid ihres Bruders verfolgen. Durch die konsequente Erzählperspektive aus Masechabas Sicht, in Tagebuchform und als Ansprache an Gott als Hadern mit seiner Unterstützung in ihrem schweren Schicksal, kann die Leserschaft ganz unmittelbar und nah an Masechabas Gefühlen teilhaben. Unterbrochen wird die Tagebuchperspektive lediglich durch Psalmen und Zitate aus der Bibel, die das Zweifeln an der Kraft und Unterstützung Gottes widerspiegeln.

Neben den Themen Familie, Freundschaft und psychische Erkrankung sind auch gesellschaftspolitische Aspekte Inhalt des Romans. Ungerechtigkeit als prägendes Thema des Romans wird durch das korrupte und ungleiche Medizinsystems ebenso dargestellt wie durch die existierende Fremdenfeindlichkeit im modernen Südafrika als Erbe der Apartheid. Ihre beste Freundin Nyasha aus Simbabwe sorgt dafür, dass sich Masechaba politisch engagiert, sodass sie sich schließlich in einem Alltag voller Gewalt und Gefahr aktivistisch gegen Fremdenfeindlichkeit einsetzt.

Nicht zuletzt ist Period Pain – wie schon der Titel verrät – ein Buch über Frausein: Masechaba leidet seit ihrer Jugend an so starken Menstruationsbeschwerden, dass sie sich sogar einer Operation unterziehen muss. Im letzten verstörenden Teil des Buches ist sexualisierte Gewalt das prägende Thema. Masechaba erfährt eine sog. „korrektive“ Massenvergewaltigung als „Reaktion“ auf ihren Einsatz gegen Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung, von der sie starke psychische und körperliche Verletzungen mit sich trägt. Die Verarbeitung der Vergewaltigung wird auf eine authentische und drastische Art beschrieben, die sich durch das Buch ziehende Auseinandersetzung mit Gott erfährt hier ihren erzählerischen Höhepunkt: „Wo warst Du, als es passiert ist? Hast du zugeschaut? Hat es Dich geschaudert? Hast du geweint? …Wie lange hast du es schon gewusst? Seit vorgestern oder seit vorvorgestern? Seit meinem siebten Geburtstag oder seit dem Tag meiner Geburt?“

Nach den vielen Schicksalsschlägen und dem Martyrium der Gruppenvergewaltigung endet das Buch hoffnungsvoll. Aus der Vergewaltigung ist ihre Tochter Mpho entstanden und statt eines weiteren psychischen Traumas erfährt Masechaba durch die Geburt ihrer Tochter Heilung. Die Mutterschaft wird im Roman als erlösendes und befriedendes Ereignis wie ein Allheilmittel gezeichnet. Der Schluss des Romans wirkt damit unrealistisch bis kitschig, als hätte die Autorin die Leserschaft zum Ende hin nach den verstörenden Schilderungen der brutalen Vergewaltigung doch noch positiv stimmen wollen.

Period Pain ist ein dünnes Buch mit viel Inhalt und einer interessanten Erzählperspektive. Die Vor- und Nachteile der Tagebuchform werden recht deutlich. So erlaubt diese Erzählform zwar starke Innenansichten, für die es ebenso starke Nerven braucht, die Sprache des Buches ist jedoch – einem Tagebucheintrag angemessen – zwar authentisch und jugendlich, aber recht schlicht. Wer darüber hinwegsehen kann und an der Gegenwart Südafrikas interessiert ist, sei der Roman über eine weibliche Protagonistin der jungen Generation im gegenwärtigen Südafrika empfohlen.