Dystopien und Utopien zehn afrikanischer Autor*innen

Die Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel „Imagine Africa 2060 – Geschichten zur Zukunft eines Kontinents“ wurde zum 10-jährigen Jubiläum der Veranstaltungs-, Literatur- und Bildungsreihe stimmen afrikas herausgegeben. Das Projekt stimmen afrikas umfasst Lesungen, Vorträge und Diskussionen von Autor*innen aus dem afrikanischen Kontinent und der afrikanischen Diasporamit dem Ziel afrikanische Literatur in Deutschland sichtbarer zu machen und über Politik, Kultur und Lebensbedingungen in den Ländern zu informieren. Die Herausgeberinnen des Sammelbandes sind Christa Morgenrath als Gründerin und Leiterin der stimmen afrikas des Allerweltshauses Köln e.V. sowie die Projektassistentin Eva Wernecke.

Kurzgeschichten von fünf Männer und fünf Frauen aus zehn afrikanischen Ländern, viele davon mit Diaspora-Bezug, finden sich in der Anthologie; es sind etablierte Schriftseller*innen wie Ken Bugul aus dem Senegal und José Eduardo Agualusa aus Angola unter den Autor*innen, aber auch weniger bekannte Autor*innen. Alle Geschichten außer der von Agualusa (hier handelt es sich um einen Teil eines Romans) sind extra für den Band geschrieben worden.

Manche der Geschichten arbeiten mit märchenhaften oder Science-Fiction-Elementen, andere versuchen eher eine realistische Zukunftsvision des afrikanischen Kontinents zu zeichnen, weitere handeln Familiengeschichten aus einer Zukunftsperspektive ab. In vielen Geschichten treten die Probleme von heute verschärft auf: der Klimawandel ist vorangeschritten („Als die Welt untergegangen war …“ von José Eduardo Agualusa), der immer größer werdender Rassismus in Europa treibt einst ausgewanderte Afrikaner*innen zur Rückkehr („Die Rückkehr“ von Aya Cissoko), die Digitalisierung nimmt absurdere Ausmaße an („Data Farming“ von Tendai Huchu). Tendai Huchu aus Simbabwe hat einen Protagonisten erschaffen, der mit einem mit einem PC-Programm zusammen ist – diese Digitalisierungsvision von einer romantischen Verbindung zwischen Mensch und Maschine ist längst auch in der Filmwelt, in Filmen wie „Her“, angekommen.

Sehr deutlich spürbar ist der Qualitätsunterschied innerhalb der Anthologie: so finden sich neben einigen wenigen richtig guten Kurzgeschichten auch belanglose, konstruierte oder wenig inspiriert erzählte Geschichten. Es entsteht der Eindruck, dass einige der Autor*innen von der recht eng gefassten vorgegebenen Thematik überfordert waren.

Zwei der besten Geschichten aus dem Band handeln von erfolgreichen Frauen und der Gleichstellung in Politik und Gesellschaft, die im Jahr 2060 erreicht sein soll – also einer positiven Zukunftsvision. Ellen Bandu-Aaku, geboren in Großbritannien und aufgewachsen in Sambia, erzählt in ihrer berührenden Kurzgeschichte „Froschaugen“ von der geschäftsführenden Leiterin der New League of Africa. In der Erinnerung an und Auseinandersetzung mit ihrer Großmutter Gogo und ihrer Vergangenheit gewinnt die Protagonistin Stärke und thematisiert in ihren Reden auch kritische Themen wie religiös motivierte Abspaltung und Verfall der afrikanischen Staaten durch Interventionen aus dem Ausland.

In „Amara For President“ der Nigerianerin Chika Unigwe möchte Ama Nwobi Präsidentin werden – und sich gleichzeitig von ihrem Mann scheiden lassen; eine politische und eine persönliche Entscheidung, die sich auch im Afrika 2060 schwer verbinden lassen. Wie die Protagonistin sich von gesellschaftlichen Ansprüchen emanzipiert und schließlich Präsidentin wird, wird als einer der größten Umbrüche der Weltgeschichte beschrieben, „seit jener gescheiterte Geschäftsmann, der die Welt beinahe in einen dritten Weltkrieg gestürzt hätte (…) – 2016 die US-amerikanischen Wahlen zur Präsidentschaft gewonnen hatte…“. Diese Rückblende aus der Zukunft auf die Welt von heute stellt das Ende der bewegenden Geschichte dar.

Die Kurzgeschichte „Die Wahrheit“ von Sonwabiso Ngcowas aus Südafrika ist im Slang geschrieben und leider ist die Übersetzung ein bisschen sperrig geraten. Dennoch ist die Geschichte eine der fesselndsten, traurigsten und berührendsten Geschichten des Bandes. Die 16-jährige Liwe schreibt 14 Tage lang ihrer verstorbenen Mutter von ihrem leidvollen Leben. Nachdem der Vater an einer Asbestlunge gestorben ist, verliert sie auch noch ihre Schwester Zuzu, die 21-jährige stirbt an einer illegalen Organentnahme im Krankenhaus. Beschrieben wird eine sehr düstere Zukunftsvision, in der sich nichts auf der Welt zum Guten entwickelt hat.

Geschichten über Utopien und Dystopien des aktuell ärmsten Kontinents der Erde sind immer auch eine Vision unserer gesamten Welt in 2060. Diese Vorstellung macht die Idee des Geschichtsbandes attraktiv, leider sind aber nicht alle Geschichten so gut gelungen, dass sie diese Idee mittragen können. Positiv hervorzuheben ist die schöne und übersichtliche Gestaltung des Bandes. Neben einem Editorial und einem Nachwort findet sich auch ein ausführlicher Anhang mit der Veranstaltungschronik der stimmen afrikas. Zudem folgt auf jede Kurzgeschichte ein ausführliches biografisches Autor*innenportät mit Foto. Der Bildungsauftrag, den die Herausgeberinnen mit dem Band erreichen wollten, zeigt sich hier sehr deutlich. Die Anthologie „Imagine Africa 2060 – Geschichten zur Zukunft eines Kontinents“ ist als Einführungswerk für afrikanische Literaturen mit hohem didaktischen Charakter und damit speziell auch für Jugendliche und junge Erwachsene geeignet.