Ludo’s Vier Wände

José Eduardo Agualusa, ein genialer Schriftsteller, mein absoluter Lieblingsautor. Er wurde 1960 in Angola geboren und lebt als freier Schriftsteller und Journalist zwischen Portugal, Angola und Brasilien. Er hat seinen eigenen Verlag „Lingua Geral“ (seit 2006) und ist bekannt geworden durch seine Bänder mit Kurzgeschichten und seinem Lyrikband. Einer seiner bekanntesten Werke ist „Das Lachen des Geckos“, dieser Roman gewann 2007 den Independent Foreign Fiction Prize. Zuvor hatte ich schon eine Rezension über eins seiner Werke verfasst. „Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer“ ein spitzen Science-Fiction Roman mit schöner Poesie. Das nächste Buch das ich euch empfehlen möchte ist „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“. Zuerst erschienen 2016 in Vintage, des Penguin Random House UK Verlag. Aus dem angolanischen – Portugiesisch von Daniel Hahn ins Englische übersetzt worden (2015). Eine wahre Geschichte die verblüffend ist.

Als die angolanische Revolution beginnt, versteckt sich Ludovica mit einer Leiche in ihren eigenen vier Wänden, für dreißig Jahre. Sie wohnt in einem gewöhnlichen Hochhaus, mit noch anderen Leuten, in Luanda. Sie versorgt sich ganz allein und schottet sich komplett von der Außenwelt ab. Sie baut selber Gemüse auf ihrer Terrasse an und fängt Tauben um ihren Hunger zu stillen. Jeden Tag schreibt sie etwas in ihr Tagebuch und dichtet. Nicht nur auf Papier findet man ihre Schreibereien, auch an den Wänden wird geschrieben und gedichtet. Da Ludo absolut gar nicht mitbekommt, was gerade auf der Welt vor sich geht, findet sie ihre eigenen Wege um an Informationen gelangen. Sei es durch das Radio, durch Zeitungsschnipsel oder das einfache Belauschen ihrer Nachbarn. Diese flüchtigen Eindrücke helfen ihr sich ein Bild vom Zustand ihres Landes zu machen. Wir Leser*innen schauen selbst in das Land und lernen Opfer, Täter, Feinde, Revolutionäre sowie Profiteure dieser Zeit kennen, der Zeit von, Angola’s Kampf um Unabhängigkeit. Sei es der Musiker mit seinem weißen Lächeln, der nach Luanda geht nachdem Angola als unabhängig betitelt wurde und dort musizieren kann um sein Brot zu verdienen oder Jeremias, der eine zweite Chance erhält. Als Jeremias aus seinem langen Koma erwacht sieht er eine große fette Frau die ihn mit großen Augen anschaut aber mit klaren Worten sagt: „Yesterday they announced your death in the newspapers. They published a photograph – it was quite an old one, I almost didn’t recognise you. They said you were the devil. You died, you were reborn and you have another chance, Make the most of it.“

Wird Jeremias seine zweite Chance nutzen oder bleibt er der Teufel des Landes?

Unsere Hauptfigur Ludo verbringt keinen einzigen Tag draußen, dennoch findet sie Lust am Schreiben und somit entstehen wahre Kunstwerke in ihrer Wohnung. Überall findet man Geschriebenes, Dichtungen. Die dreißig Jahre ihres Eingeschlossenseins verfasst auf Blättern und Wänden. Ihr erster Tagebuch Eintrag wurde am 23. Februar 1976 geschrieben: „Nothing happened today. I slept. While asleep I dreamed that I was sleeping. Trees, little animals, a multitude of insects were sharing their dreams with me. (…) I awoke and was alone. If, while we are asleep, we can dream of sleeping, can we then, when awake, awaken within a more lucid reality?“ Man spürt die Einsamkeit und die Nachdenklichkeit bei Ludo. Sie sammelt durch ihre Texte ihre Gedanken und ersetzt dadurch die Kommunikation mit dem Mitmenschen.

Besonders toll finde ich Agualusas Arbeit mit der Poesie die mir immer wieder auffällt.

I carve out short as prayers, words are legions of demons expelled, I cut adverbs pronouns, I spare my wrists“. Ein kurzes Gedicht, das alles sagt, Ludo’s innere Welt veranschaulicht. Agualusa schafft es erneut uns mit diesem Roman zu überraschen. Eine geniale, wahre Geschichte, die man nicht aufhören will zu lesen. Bei Agualusa habe ich immer das Verlangen weiterzulesen, ohne Pause. Er kann die Leser mit in seine Welt hineinziehen. Und das ist, ganz große Kunst. Die verschiedenen Perspektiven der Figuren sowie die Tagebucheinträge und Gedichte so miteinander zu verbinden, ist interessant und toll. Geschichte, Spannungsfaktor, Schreibstil, top. Ein Roman und Autor zum Weiterempfehlen. Agualusa weiß einfach echt was ein guter Roman mit sich bringen soll. Fantastisch!

Ja ist denn das die Möglichkeit?

Stellen sie sich ein Hochhaus vor. Im Zeitraffer. In einer Stadt – irgendeiner Stadt. Es ist kein besonderes Hochhaus und auch nicht besonders hoch, also kein Wolkenkratzer. Ein Zeitraffer der normalen Sorte erstreckt sich über ein paar Stunden, um besonderes Licht oder Wolken, Sterne, die Bewegung von Pflanzen „einzufangen“, vielleicht ist die Frequenz des Zeitraffers auch niedriger, ein Bild pro Tag, um den Bau eines besonderen Gebäudes abzubilden. Was José Eduardo Agualusa in seinem Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ gelingt, ist ein Zeitraffer über mehrere Jahrzehnte hinweg. Er begleitet das Leben von Ludovica. Ludovica hat sich eingemauert. Sie hat sich in ihrer Wohnung beziehungsweise der Ihres Mannes eingemauert. Und diese Wohnung befand sich in eben jenem Hochhaus. Das ist der Plot.

Das Unglaubliche ist: Es handelt sich um eine Geschichte, die zwar pure Fiktion ist, sich aber an einer wahren Begebenheit orientiert. José Eduardo Agualusa hat den Roman mit dem originalen Titel „Teoria Geral do Esquecimento“ im Jahr 2012 veröffentlicht, die deutsche Ausgabe erschien 2017 bei C. H. Beck. Der Autor zählt inzwischen unbestritten zu den bedeutendsten afrikanischen Autoren im lusophonen Sprachraum, also in Ländern, wo Portugiesisch gesprochen wird. Er wurde in Angola geboren, wohin er nach dem Studium in Lissabon zurückkehrte, das Land wegen der politischen Lage aber wieder verlassen hat. Die politischen Ereignisse der letzten Jahrzehnte in Angola halten nicht nur in das hier portraitierte Buch Einzug. Ludovica kann von ihrer Wohnung aus den politischen und strukturellen Wandel um sie herum wie in einem Kaleidoskop betrachten und muss sich dabei auf das verlassen, was sie hört und mit eigenen Augen sieht, denn einen Fernseher oder ein Radio besitzt sie nicht oder nicht mehr. Ihre Bücher, die riesige Bibliothek verbrennt sie nach und nach, um sich Essen kochen zu können… die Nachbarn sind wegen der Revolution verzogen und bis sich der Bau wieder mit Menschen füllt, vergehen die Jahre.

Agualusa ist ein Meister im Verflechten von Handlungssträngen und bringt sie immer wieder unerwartet zusammen. So kommt überraschend dazu, dass sich die Charaktere, die wir in so unterschiedlichen Zusammenhängen kennengelernt haben, vor der Wohnungstür von Ludovica begegnen. Der Portier des Hauses, Nasser Evangelista, der einmal einer anderen Tätigkeit nachging, wird einfach überrumpelt in einem Kapitel, was mit „Das seltsame Ende des Kubango-Flusses“ überschrieben ist – nebenbei erklärt Agualusa „Es gibt Leute, die regelrecht Angst haben vor dem Vergessenwerden. Man nennt dieses Leiden Athazagoraphobie. Bei ihm (Monte) war es umgekehrt: Er litt unter der schrecklichen Vorstellung, dass man ihn niemals vergessen würde.“ So spannt sich der Bogen und nimmt Bezug auf den Titel dieses absolut fantastischen Werks, was auf mich nicht grotesk wirkt, trotz seiner unwirklich anmutenden „Zufälle“.

Es macht unheimlichen Spaß sich auf Agualusas Welten einzulassen, abzutauchen, zu staunen, zu lachen. Ich finde es genial, wie dieser Autor seine Schauplätze wählt und ausgestaltet.

Ein Buch mit Verve, Biss und Überraschung – nicht nur für Angola-Fans