Queeres Leben in Nigeria, ein Leben unter Repressionen

Die Sammlung She Called Me Woman: Nigeria’s Queer Women speak, herausgegeben von Azeenarh Mohammed, Chitra Nagarajan und Rafeeat Aliyu im Jahr 2018, umfasst autobiografische Geschichten von Frauen zwischen 20 und 42 aus unterschiedlichen Regionen Nigerias mit diversen Bildungshintergründen sowie religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten. Gemeinsam ist all diesen Frauen ihre queere Identität, es werden die Erlebnisse von Frauen mit nicht-heterosexuellen sexuellen Orientierungen und Ausdrucksarten sowie unterschiedlichen geschlechtlichen Identitäten porträtiert.

Die mutige Veröffentlichung trifft auf einen aktuellen Diskurs in der nigerianischen Gesellschaft: In Nigeria wurde Homosexualität 2014 nach einer vorherigen Abkehr von den kolonialen Gesetzen rekriminalisiert. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist verboten, die Strafe für homosexuelle Aktivitäten und Treffen unter Homosexuellen in Nigeria liegt in einigen Landesteilen bei einer Gefängnisstrafe von 14 Jahren, in den Landesteilen im Norden des Landes, in denen die Schari‘a angewendet wird, kann sogar die Todesstrafe durch Steinigung verhängt werden. LGBT-Organisationen arbeiten im Geheimen und Homosexualität erfährt in der breiten Bevölkerung weiterhin starke Ablehnung. Auf der anderen Seite gibt es geschätzt mehr queere Personen in Nigeria als Einwohner*innen in Lagos und Homosexualität ist – wie überall – schon immer Teil der nigerianischen Geschichte, Kultur und Tradition gewesen.

Bewusst legen die Herausgeberinnen den Fokus in ihrem Sammelband auf lesbische oder transsexuelle Frauen – eine noch unsichtbarere Gruppe innerhalb der queeren Community. Sie geben diesen wortwörtlich eine Stimme, sodass nicht mehr nur über sie gesprochen wird. Es wurden Frauen aus verschiedenen Landesteilen interviewt, die Audiodateien wurden transkribiert, zum Schutz der Erzähler*innen anonymisiert und unkorrigiert als Sammlung von Erzähler*innenstimmen wiedergegeben. Die Protagonist*innen haben ihre sexuelle Identität in verschiedenen Altersstufen und auf unterschiedliche Arten erfahren und entdeckt, einige kannten die Kategorie „gay“ für ihre Empfindungen nicht und „verstanden“ sich selbst so erst in ihren späten Zwanzigern. Einige Themen tauchen dabei bei allen auf: ein „Problem“ mit ihrer Sexualität beschreibt keine der Protagonist*innen, die meisten erfahren auch große Unterstützung durch Freund*innen außerhalb der Familie. Es ist die abweisende und kriminalisierende Reaktion der Familie, der Gesellschaft, der Politik und der Religion die es ihnen schwermacht und sie ihre Liebe im Geheimen ausleben lässt – „Love is not wrong“, so ist etwa ein Kurztext betitelt.

Die Lebensrealitäten der Erzähler*innen und damit auch die Risiken, die ihre Sexualität mit sich bringt, unterscheiden sich dabei massiv: Im Kurztext „I only admire girls” erzählt eine 20-jährigen junge Frau aus der Volksgruppe der Hausa von ihrer Kindheit und Jugend. Sie war schon als Kind körperlicher Gewalt durch den Vater und sexuellen Übergriffen durch Männer ausgesetzt. Nachdem bekannt wird, dass sie sich als Junge fühlt und nicht heiraten möchte, wird sie – wie es das normale Schicksal eines Mädchens in ihrer Gegend ist – mit 14 Jahren an einen ihr vorher unbekannten Mann verheiratet. In der Ehe erfährt sie Gewalt, wird eingesperrt und flieht schließlich. Heute lebt sie mit anderen Frauen mit ähnlicher Erfahrung an einem sicheren Ort, ohne Kontakt zu ihrer Familie.

In „My sexuality is just the icing on the cake” erzählt eine 25-jährige aus Ondo im Südwesten Nigerias, Tochter eines Pastors und einer Evangelistin, ihre Lebensgeschichte. Sie berichtet von vielen glücklichen Kindheitserinnerungen, aber auch von dem seitens ihrer Familie geleugneten sexuellen Missbrauch durch ihren Onkel. Schon früh weiß sie, dass sie lesbisch ist und berichtet der Leserschaft von ihren verschiedenen Beziehungserfahrungen. Als ihre Familie später zufällig von ihrem Geheimnis erfährt, muss sie für acht Monate zuhause bleiben. Berührend ist es, wie die gebildete junge Frau die Konzeptualisierung von Gender-Rollen reflektiert. Sie lehnt die Aufteilung in „männliche und weibliche Rolle“ in einer lesbischen Beziehung ab, dies brächte das ganze heterosexuelle Konzept in eine homosexuelle Beziehung. „I like to be free of gender…I tell people that my sexuality is just the icing on the cake…My sexuality doesn´t define who I am.”

Die Qualität der Texte ist dabei abhängig vom unterschiedlichen Bildungshintergrund der Protagonist*innen, was sich in der Wahl und Differenziertheit der Sprache erkennbar macht. Eine sehr starke Erzählerinnenstimme wird etwa im essayistisch geschriebenen Kurztext „Focusing on Joy“ laut. Die 29-jährige Erzählerin, Tochter eines nigerianischen Vaters in Chicago, USA geboren, schreibt Kurzgeschichten seit ihrer Kindheit. Die Pubertät wird für sie aus doppeltem Grunde zu einem verstörenden Moment: vorher war in ihrer aufgeklärten Familie ihr Leben als „tomboy“ nie thematisiert worden, nun reagiert die Außenwelt nicht nur auf ihre neue Weiblichkeit, sondern ihr wird auch der weitverbreitete Rassismus gegenüber schwarzen Frauen in den USA entgegengebracht. Ihr Coming-Out-Prozess als bisexuelle Frau ist ein langer Prozess, an dem sie die Leserschaft teilhaben lässt. Insgesamt sind es aber weniger die Fragen der sexuellen Identität als ihre allgemeine Identitätsfindung -als schwarze, Nigerianisch-Jamaikanische Frau – die sie beschäftigen.

Der Sammelband erzählt in erster Linie die Lebens- und Diskriminierungserfahrungen von queeren Menschen in der stark patriarchal aufgebauten und homophoben Gesellschaft Nigerias. Der Band kann aber auch anders gelesen werden; etwa als Sammlung von Coming-of-Age-Geschichten, in der erste Beziehungserfahrungen von Jugendlichen porträtiert werden. Oder als Kaleidoskop verschiedener Perspektiven, Religionen und Völker innerhalb Nigerias und damit als zeitgenössisches Zeugnis des Nord-Süd-Unterschiedes in Nigeria. Der Sammelband ist zwar hauptsächlich adressiert an die allgemeine Bevölkerung Nigerias und an die queere Community im Speziellen, er ist aber auch interessant für internationale Leser*innen, die am Thema Gender interessiert sind und auch für solche, die eine gute Einführungsliteratur zu Nigeria suchen.

Dabei muss der interessierten Leserschaft bewusst sein, dass es sich weder um ein literarisches Buch noch um ein Sachbuch zum Thema handelt, sondern um eine Zusammenstellung transkribierter, nicht korrigierter Audiodateien. Eine akademische Diskussion zu Queerness würde dabei zu dem persönlichen Stil des Buches sicherlich nicht passen, eine fundiertere fachliche Einführung zum politischen Hintergrund, zu Homosexualität in Nigeria oder den Konzepten von LGBT hätte den Einzelerzählungen aber einen stimmigeren Rahmen gegeben. Zudem hätte eine textliche Überarbeitung im Stile des Erzählten der Lesbarkeit mancher Kurztexte genützt. Trotzdem bleibt She called me woman für die am Thema interessierte Leserschaft ein politisch und gesellschaftlich wichtiges und vielfach berührendes Buch.

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