Das Leben aus Kinderaugen – ein Roman aus Simbabwe und USA

„Wir brauchen neue Namen“ – nämlich Doktorennamen, das beschließen die zehnjährige Darling, die als Ich-Erzählerin durch den auf Englisch gleichnamigen Roman von NoViolet Bulawayo führt, und ihre Freunde in einem eigentlich traurigen Moment: die 11-jährigen Freundin Chipo ist nach einer Vergewaltigung durch ihren Großvater schwanger geworden, ihre Freunde wollen eine Abtreibung durchführen. Das ist nur einer der Momente im Roman, der vor allem durch die kindliche Perspektive der eigentlichen Schwere der Situation entflieht und durch eine freche, kindliche, manchmal derbe und immer sehr nahbare Sprache glänzt.

Darling und ihre Freunde leben in Paradise, dem Ort, der ihr Leben darstellt, aber alles andere ist als ein Paradies: Paradise ist der ironische Name für die Blechhüttensiedlung an einem armen Ort in Simbabwe. Hier wird der AIDS-kranke Vater der Protagonistin vor den Freunden versteckt, hier entdecken die Kinder eine Leiche, hier machen sich die Kinder über Weiße aus NGO´s lustig. Von hier aus strömen die Kinder in reichere Viertel (namens „Budapest“) um zu klauen, denn auch Verzicht und Hunger bestimmen ihr Leben. Ihre Kindheitserlebnisse aber zeigen – trotz all der widrigen Umständen – auch ein Bild der Normalität, der Kindheit und des Lebens, das sie nun mal haben. Darling ist sich zwar ihrer Armut bewusst – vor allem, da sie erst in ihr Leben getreten ist, als ihr richtiges Haus, in dem die Familie gewohnt hat und sich gut versorgen konnte, zerstört wurde; Armutsklischees oder Mitleidserzeugung sind aber weder Themen noch Stilmittel des Romans.

Als Darling 13 Jahre alt ist, wird sie von ihrer Tante Fostalina in die USA mitgenommen. Die Migration in die USA sollte Darling ein besseres Leben ermöglichen, sie entzieht ihr aber nicht nur ihren Lebensraum, sondern auch ihren Verständnisraum. Amerika ist nicht die versprochene Verheißung, in der Ferne vermisst sie die Heimat, findet aber auch keinen Zugang zu ihren alten Freunden. Entfremdung, Ausgrenzungserfahrungen und das Vergessen von Traditionen über Generationen sind migrationsspezifische Themen des zweiten Teils des Romans. Der Teil, der in Amerika spielt, ist aber ebenso eine klassische Teenagergeschichte – mit den Problemen, die das Teenagersein, mit sich bringt – wie der erste Teil des Romans, der in Simbabwe spielt, eine Kindheitsgeschichte ist, in der Themen wie Freunde, Streiche, erste Kriminalität und Auseinandersetzungen mit den Eltern eine Rolle spielen.

Es ist besonders die sympathische Erzählperspektive, die den Roman interessant macht. Kleinigkeiten wie etwa, dass ihr alle Amerikaner über Afrika erzählen, irritieren Darling und andere Erlebnisse, wie die beobachtete Vergewaltigung als Kind, versteht sie erst später, als sie im Keller ihres amerikanischen Hauses mit ihren Freunden verstörende Pornos schaut. Anders als etwa in Americanah werden die Themen Rassismus und Identität hier nicht akademisch aufgearbeitet, sondern im alltäglichen Erleben von Darling gezeigt. Besonders an dem Buch ist auch, dass es nicht in der afrikanischen Mittel- und Oberschicht spielt, sondern das Leben von armen Menschen beleuchtet. Der Blick durch die kindlichen Augen mag auch hilfreich dafür sein, dass Bulawayo niemals in die „Othering“-Falle tappt.

Die Autorin NoViolet Bulawayo ist 1981 in Simbabwe geboren, ihr leiblicher Name ist Elizabeth Zandile Tshele. Den Titel „Wir brauchen neue Namen“ hat sich die Autorin auch als Motto für sich zu eigen gemacht; sie schreibt unter einem Pseudonym mit einer besonderen Bedeutung: Violet hieß ihre Mutter, die starb als die Autorin 18 Monate alt war, und „No“ bedeutet „mit“, Bulawayo ist die zweitgrößte Stadt Simbabwes, in der sie geboren ist. Die Autorin zog zwar mit 18 Jahren zum Studium zu ihrer Tante nach Detroit/ USA, autobiografische Bezüge im Buch gibt die Autorin als nicht sehr stark an; sie sei in einem Simbabwe vor der Krise und nicht in einem diktatorischen Willkürregime und einer Zeit des politischen Verfalls wie ihre Protagonistin Darling aufgewachsen.

NoViolet´s Debütroman „We need new names“ wurde in 17 Sprachen übersetzt, sie stand damit als erste Schwarzafrikanerin und erste Autorin aus Simbabwe auf der Shortlist des Man Booker Preises. Der erste Teil des Buches, der in Simbabwe spielt, liest sich erfrischend und spannend. Der zweite Teil des Romans befasst sich mit dem Thema des gescheiterten Glücksrittertum durch Migration und erzählt damit eine konventionellere, weil häufiger bereits erzählte, Geschichte. Das ist ein Roman für eine neugierige Leserschaft, für junge Leser*innen, die gerne Coming-of-Age–Geschichten lesen, für Leser*innen, die sich für das Thema Migration interessieren oder für alle, die einfach mal ein ungewöhnlicheres Buch lesen wollen.

Ja, Americanah – ein wahrlich großer Roman!

Americanah ist der Roman, mit dem die nigerianisch-stämmige Autorin Chimamanda Ngozi Adichie 2013 internationale Begeisterung erlangte und zu eine der großen Stimmen der Weltliteratur wurde. Und das ganz zurecht: Americanah ist als große Liebesgeschichte anrührend und dabei gleichzeitig spannend wie ein Kriminalroman und erkenntnisreich wie ein Sachbuch – eine absolute Leseempfehlung!

Americanah erzählt auf berührende Weise einerseits eine Migrationsgeschichte, die Geschichte einer Ankunft in den USA. Andererseits erzählt Americanah die Geschichte einer Rückkehr nach Nigeria, was schon der Titel verrät – Americanah ist nämlich die in Nigeria übliche Bezeichnung für Rückkehrer aus den USA.

Americanah ist aus der Sicht der beiden Liebenden Ifemelu und Obinze, die sich in den 1990er Jahren in Nigeria noch zu Schulzeiten kennenlernen, geschrieben. Die beiden entstammen der nigerianischen Mittel – und Oberschicht und verlassen das Land als junge Erwachsene, um bessere Lebenschancen zu haben. Ifemelu studiert mit Stipendium in Princeton, aber auch die Hilfe ihrer Tante Uju, die als Ärztin in den USA arbeitet, kann ihr nicht über die Startschwierigkeiten und finanzielle Nöte hinweghelfen. Der bezahlte „Gefallen“, den sie einem älteren weißen Mann tut, wirft sie endgültig aus der Bahn: Ifemelu verfällt in eine Depression und antwortet ihrem geliebten Obinze nicht mehr. Über ein Jahrzehnt lang verlieren sich die beiden aus den Augen, auch wenn ihr Band – wie bei jeder großen Liebesgeschichte – bis zu ihrem Wiedersehen in Lagos nie zerbricht. Parallel zu Ifemelu´s Geschichte wird die Geschichte von Obinze als illegaler Einwanderer in London erzählt, der sich mit falschem Ausweis und einer geplanten Scheinehe über Wasser zu halten versucht. Sein Plan scheitert und er wird nach Nigeria abgeschoben, wie um ausgleichende Gerechtigkeit herzustellen, erlangt er als Makler dort mit dem Handel von illegalem Baugrund und Immobilien Erfolg und Reichtum.

Ifemelu macht zwar zwei wichtige Beziehungserfahrungen in den USA – sie trägt aber stets eine Schwere und eine Sehnsucht in sich – nach Nigeria und nach ihrer Jugendliebe Obinze. Der weiße Amerikaner Curt verkörpert – ein bisschen schablonenhaft dargestellt – den wohlhabenden, optimistischen Ostküstentyp, der Ifemelu ein Aufsteigerleben mit Wochenendkurztrips nach Europa bietet und ihr letztendlich eine green card, verschafft, sodass sie endlich legal arbeiten kann. Sie verlässt ihn ebenso wie seinen Nachfolger Blaine – der als Typ intellektueller Afroamerikaner, Yale-Dozent (natürlich links, progressiv und Vegetarier) gezeichnet wird. Ihre beiden Beziehungen vergleicht Ifemelu mit „einem Haus, mit dem sie zufrieden war, in dem sie jedoch immer am Fenster saß und hinausschaute“. Ifemelus Entschluss, Blaine und die USA zu verlassen und nach Nigeria zurückzukehren, wird der Leserschaft in den ersten Seiten des Buches mitgeteilt, aber erst der siebte und letzte Teil des 477 Seiten dicken Romans spielt schließlich durchgehend in Lagos. Die Aussicht auf ein Wiedersehen hält die Spannung in Americanah über den langen Erzählzeitraum von 15 Jahren aufrecht; als Leser*in will man wissen, ob Ifemelu und Obinze sich wieder begegnen werden und ob der alte Zauber noch da sein wird. Die Lösung für das Dilemma, dass die alte Jugendliebe nun mal in einer gefühllosen Ehe steckt und ein Kind hat, ist dabei durch und durch ehrlich und nicht verkitscht. Mehr sei hier nicht verraten, mehr verrät nur die Lektüre des Romans selbst.

Ein cleveres Stillmittel in Americanah sind die beiden Blogs, die die Protagonistin schreibt und die wie kurze Essays in den Roman eingestreut sind. Ihr Blog „Raceteenth – oder Ein paar Beobachtungen über schwarze Amerikaner (früher als Neger bekannt) von einer nicht-amerikanischen Schwarzen“ macht Ifemelu erfolgreich, wer ihn liest, wird in die Sicht einer Afrikanerin, die erst in Amerika zur Schwarzen wurde, eingeführt. Der Blog sensibilisiert die weiße Leserschaft für viele Themen, denen SchwarzeMenschen im Alltag ausgesetzt sind und die aufgrund der hinter Rassismus stehenden Machstrukturen nicht durch eigene, andere Diskriminierungserfahrungen bagatellisiert werden können. Im Blog geht es um Rassismus, Vorurteile und Polizeigewalt im modernen Amerika; Diskriminierungen, die subtiler daherkommen als zur Zeit der Rassentrennung, sich aber in fast allen Alltagserfahrungen zeigen. Auch scheinbare Oberflächlichkeiten wie Frisuren spielen im Blog eine große Rolle, wie etwa die Frage: Welche Schwarzen Frauen glätten ihr Haar, welche lassen es als Afro stehen, welche lassen es zu Zöpfen flechten und wo können sie letzteres tun? Die Antwort ist, dass die Schwarze Frau sich die Haare glätten muss, wenn sie erfolgreich sein will (etwa Michelle Obama), der Afro in Amerika nur als politisches Signal stehen darf und frau sich Zöpfe nur noch in der armen Vorstadt flechten lassen kann.

Americanah lebt von der Intelligenz, dem kritischen Auge und der Phantasie seiner Protagonistin. Ihre Erfahrungen werden immer auch auf einer Metaebene reflektiert, ihr persönliches Leben wird politisiert, Zeitgenössisches soziologisch reflektiert. Gewissermaßen ist Americanah auch ein Zeitbericht über die erste Präsidentschaft von Barack Obama, die kollektive Euphorie (nicht nur) unter Afroamerikaner*innen ausgelöst hat. Die Charaktere werden warmherzig und sympathisch beschrieben, wenn auch die amerikanischen Charaktere ein wenig stereotyp und weniger facettenreich dargelegt werden als die nigerianischen. Die Sprache ist pointiert und witzig und zugleich voller erfrischender Bilder; so gut, dass man sich viele Sätze des Romans gerne herausschrieben würde.

Americanah ist für alle empfehlenswert, die ein echtes Leseabenteuer zum Abtauchen suchen und sich zugleich mit den Themen Identität, Migration und Rassismus in Romanform auseinandersetzen wollen.

Dystopien und Utopien zehn afrikanischer Autor*innen

Die Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel „Imagine Africa 2060 – Geschichten zur Zukunft eines Kontinents“ wurde zum 10-jährigen Jubiläum der Veranstaltungs-, Literatur- und Bildungsreihe stimmen afrikas herausgegeben. Das Projekt stimmen afrikas umfasst Lesungen, Vorträge und Diskussionen von Autor*innen aus dem afrikanischen Kontinent und der afrikanischen Diasporamit dem Ziel afrikanische Literatur in Deutschland sichtbarer zu machen und über Politik, Kultur und Lebensbedingungen in den Ländern zu informieren. Die Herausgeberinnen des Sammelbandes sind Christa Morgenrath als Gründerin und Leiterin der stimmen afrikas des Allerweltshauses Köln e.V. sowie die Projektassistentin Eva Wernecke.

Kurzgeschichten von fünf Männer und fünf Frauen aus zehn afrikanischen Ländern, viele davon mit Diaspora-Bezug, finden sich in der Anthologie; es sind etablierte Schriftseller*innen wie Ken Bugul aus dem Senegal und José Eduardo Agualusa aus Angola unter den Autor*innen, aber auch weniger bekannte Autor*innen. Alle Geschichten außer der von Agualusa (hier handelt es sich um einen Teil eines Romans) sind extra für den Band geschrieben worden.

Manche der Geschichten arbeiten mit märchenhaften oder Science-Fiction-Elementen, andere versuchen eher eine realistische Zukunftsvision des afrikanischen Kontinents zu zeichnen, weitere handeln Familiengeschichten aus einer Zukunftsperspektive ab. In vielen Geschichten treten die Probleme von heute verschärft auf: der Klimawandel ist vorangeschritten („Als die Welt untergegangen war …“ von José Eduardo Agualusa), der immer größer werdender Rassismus in Europa treibt einst ausgewanderte Afrikaner*innen zur Rückkehr („Die Rückkehr“ von Aya Cissoko), die Digitalisierung nimmt absurdere Ausmaße an („Data Farming“ von Tendai Huchu). Tendai Huchu aus Simbabwe hat einen Protagonisten erschaffen, der mit einem mit einem PC-Programm zusammen ist – diese Digitalisierungsvision von einer romantischen Verbindung zwischen Mensch und Maschine ist längst auch in der Filmwelt, in Filmen wie „Her“, angekommen.

Sehr deutlich spürbar ist der Qualitätsunterschied innerhalb der Anthologie: so finden sich neben einigen wenigen richtig guten Kurzgeschichten auch belanglose, konstruierte oder wenig inspiriert erzählte Geschichten. Es entsteht der Eindruck, dass einige der Autor*innen von der recht eng gefassten vorgegebenen Thematik überfordert waren.

Zwei der besten Geschichten aus dem Band handeln von erfolgreichen Frauen und der Gleichstellung in Politik und Gesellschaft, die im Jahr 2060 erreicht sein soll – also einer positiven Zukunftsvision. Ellen Bandu-Aaku, geboren in Großbritannien und aufgewachsen in Sambia, erzählt in ihrer berührenden Kurzgeschichte „Froschaugen“ von der geschäftsführenden Leiterin der New League of Africa. In der Erinnerung an und Auseinandersetzung mit ihrer Großmutter Gogo und ihrer Vergangenheit gewinnt die Protagonistin Stärke und thematisiert in ihren Reden auch kritische Themen wie religiös motivierte Abspaltung und Verfall der afrikanischen Staaten durch Interventionen aus dem Ausland.

In „Amara For President“ der Nigerianerin Chika Unigwe möchte Ama Nwobi Präsidentin werden – und sich gleichzeitig von ihrem Mann scheiden lassen; eine politische und eine persönliche Entscheidung, die sich auch im Afrika 2060 schwer verbinden lassen. Wie die Protagonistin sich von gesellschaftlichen Ansprüchen emanzipiert und schließlich Präsidentin wird, wird als einer der größten Umbrüche der Weltgeschichte beschrieben, „seit jener gescheiterte Geschäftsmann, der die Welt beinahe in einen dritten Weltkrieg gestürzt hätte (…) – 2016 die US-amerikanischen Wahlen zur Präsidentschaft gewonnen hatte…“. Diese Rückblende aus der Zukunft auf die Welt von heute stellt das Ende der bewegenden Geschichte dar.

Die Kurzgeschichte „Die Wahrheit“ von Sonwabiso Ngcowas aus Südafrika ist im Slang geschrieben und leider ist die Übersetzung ein bisschen sperrig geraten. Dennoch ist die Geschichte eine der fesselndsten, traurigsten und berührendsten Geschichten des Bandes. Die 16-jährige Liwe schreibt 14 Tage lang ihrer verstorbenen Mutter von ihrem leidvollen Leben. Nachdem der Vater an einer Asbestlunge gestorben ist, verliert sie auch noch ihre Schwester Zuzu, die 21-jährige stirbt an einer illegalen Organentnahme im Krankenhaus. Beschrieben wird eine sehr düstere Zukunftsvision, in der sich nichts auf der Welt zum Guten entwickelt hat.

Geschichten über Utopien und Dystopien des aktuell ärmsten Kontinents der Erde sind immer auch eine Vision unserer gesamten Welt in 2060. Diese Vorstellung macht die Idee des Geschichtsbandes attraktiv, leider sind aber nicht alle Geschichten so gut gelungen, dass sie diese Idee mittragen können. Positiv hervorzuheben ist die schöne und übersichtliche Gestaltung des Bandes. Neben einem Editorial und einem Nachwort findet sich auch ein ausführlicher Anhang mit der Veranstaltungschronik der stimmen afrikas. Zudem folgt auf jede Kurzgeschichte ein ausführliches biografisches Autor*innenportät mit Foto. Der Bildungsauftrag, den die Herausgeberinnen mit dem Band erreichen wollten, zeigt sich hier sehr deutlich. Die Anthologie „Imagine Africa 2060 – Geschichten zur Zukunft eines Kontinents“ ist als Einführungswerk für afrikanische Literaturen mit hohem didaktischen Charakter und damit speziell auch für Jugendliche und junge Erwachsene geeignet.

So gar nicht im Stillen killen

My sister, the serial killer erzählt die Geschichte zweier ungleicher Schwestern aus der Mittelschicht in Lagos. Ayoola ist eine extrem attraktive Modedesignerin und Instagrammerin – und eine egozentrische und empathielose Psychopathin, die ihre Liebhaber zunächst unter Einsatz ihrer Schönheit offensiv anflirtet und sie schließlich umbringt. Ihre zwei Jahre ältere Schwester Korede, aus deren Sicht das Buch erzählt wird, ist eine optisch unauffälligere Krankenschwester. Sie ist so ordentlich und pflichtbewusst, dass sie die perfekte Tatortreinigerin ist und zudem so solidarisch, dass sie immer die Mordreste ihrer Schwester beseitigen wird. Im Gegensatz zu Ayoola treibt Korede ihr schlechtes Gewissen um, sodass sie einem von ihr betreuten Komapatienten von den Taten ihrer Schwester erzählt. Schwierig nur, dass dieser wieder aufwacht und nicht mal seine Erinnerung verloren hat. Noch größer wird Koredes Dilemma, als sich ihr Angebeteter, der Arzt Tate, ausgerechnet in Ayoola verknallt. Wie kann sie ihn retten, ohne ihre Schwester zu verraten?

Antworten gibt der Roman der Autorin Oyinkan Braithwaite, die 1988 in Lagos geboren ist, in Großbritannien und in Jamaika Jura und Kreatives Schreiben studiert hat und seit 2012 wieder in Lagos lebt. Ihr 2018 veröffentlichtes Romandebüt My sister, the serial killer wurde für den Booker Prize und den Women´s Prize for Fiction nominiert und 2019 von der Los Angeles Times als bester Krimi des Jahres ausgezeichnet. Seitdem wird der kurze Roman von 226 Seiten international vermarktet und feiert Erfolge, sicherlich auch wegen seiner knalligen äußeren Aufmachung, ohne die das Buch wohl nicht so erfolgreich wäre; auf dem schwarzen Cover prangt in grellem Grün der reißerische Titel, aus dem Wort „killer“ tropft das Blut… Zu allem Überfluss ist die männermordende Femme fatale auch noch plakativ abgebildet – in ihrer Sonnenbrille spiegelt sich das Messer ihres Vaters, mit dem sie ihre Morde begeht. Diese dramatisch-übertriebene Gestaltung des Buches weist schon auf den Erzählstil hin: oberflächlich, schnell, die kurzen Kapitel sind mit einzelnen Schlagworten („Red“, „Father“, „Roses“) betitelt. Wer große Literatur sucht ist hier nicht richtig, wer eine schräge Unterhaltung für eine rasante Lesenacht sucht, schon.

Warum mordet Ayoola überhaupt? Während die Ergründung der Mordmotive in vielen Kriminalromanen eine große Bedeutung hat, bekommt die Leserschaft hier nur eine kurze Hintergrundtheorie geliefert. Ayoola war wie ihre Mutter und ihre Schwester der väterlichen Gewalt ausgesetzt. Der Vater ist schließlich auf mysteriöse Art und Weise verschwunden, vielleicht hatten die Schwestern auch hier ihre Hände im Spiel. Ayoola wurde zudem perfide den Geschäftspartnern des Vaters angeboten und weder durch Mutter und Tante geschützt. Das Motiv des Kindheitstraumas und der Reproduktion der erlebten Gewalt wirkt hier jedoch ein wenig konstruiert, vielleicht auch weil das Buch durch seine Oberflächlichkeit keinen Raum für eine tiefere Beschreibung der Charaktere bietet.

So spielt die Autorin zwar charmant mit dem Klischee der männermordenden Vamp, ohne derselben aber eine Tiefe zu geben. Schade eigentlich, da der Roman durchaus relevante Themen anreißt. Er ist nicht nur ein Krimi, sondern vor allem ein Roman über Solidarität unter Schwestern, die hier immer größer ist als die auch bestehende Konkurrenz. Besonders an dem Roman sind die vielfältigen und starken Frauenrollen, die keinen klassischen Rollenbildern entsprechen. My sister, the serial killer ist ein spannendes und kurzweiliges Buch, dass aber durch die oberflächliche Erzählweise und Aufmachung verliert. So bleibt der Roman ein Buch für Leser*innen, die schnelle Unterhaltung oder einfach einen originelleren Krimi suchen.

Träume von Freiheit

Der 1960 in Angola geborene Autor José Eduardo Agualusa hätte dieses Jahr Headliner auf dem African Book Festival in Berlin sein sollen – das Festival wurde wegen der Corona-Pandemie abgesagt. 2019 ist auf Deutsch sein neuer Roman Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer erschienen. Die Erschließung des Romans ist eine Aufgabe, die sich gar nicht so leicht gestaltet; der poetisch-politische Roman erfordert durchaus Konzentration beim Lesen. Obwohl Agalusa als bekanntester Schriftsteller Angolas gilt wurden bisher erst fünf Bücher ins Deutsche übersetzt, was daran liegen mag, dass der in Portugal, Angola und Brasilien lebende Autor fest in seiner Mutter- und Literatursprache Portugiesisch beheimatet ist.

Der Roman rankt sich um verschiedene Kerngeschichten: beim eigentlichen Ich-Erzähler, der alle anderen Figuren miteinander verbindet, handelt es sich um den soeben geschiedenen Journalisten Daniel Benchimol aus Huambo in Angola. Sein in die Machenschaften der Regierung verwickelter Schwiegervater mochte seine regimekritischen Schriften nicht und so wird man direkt eingeführt in das Thema des Romans: die unverarbeitete jüngste Vergangenheit des südwestafrikanischen Staates, der zwar 1975 nach der Nelkenrevolution in Portugal Unabhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht erlangte, dann aber bis 2002 in blutige Bürgerkriege zwischen verschiedenen Befreiungsbewegungen versank. Der Präsident José Eduardo dos Santos regierte von 1979 bis 2017 totalitär, bis er sich schließlich nicht mehr zur Wiederwahl aufstellen ließ. Der politische Hintergrund wird in dem 2015 spielenden Gegenwartsroman direkt und indirekt verarbeitet: der Präsident bleibt zwar namenlos, der Roman ist aber einer realen Gruppe Jugendlicher um den Rapper Luaty Beirão gewidmet, denen die Vorbereitung eines Staatsstreiches zur Last gelegt wurde.

Diese starke Stimme der Jugend übernimmt im Roman Benchimols Tochter Lúcia/ Karinguiri. Sie wächst nach der Scheidung in Portugal im Wohlstand auf, kehrt jedoch als Jugendliche nach Angola zurück und tritt in die Fußstapfen ihres Vaters – auf eine radikalere und weniger versponnene Art und Weise. Nachdem sie mit einer Gruppe Videos gegen die Diktatur ins Netz gestellt und den Präsidentenpalast gestürmt hatte, werden alle rebellierenden jungen Menschen festgenommen. Karinguiri bleibt jedoch – als echte Wiederstandkämpferin gezeichnet – selbst im Gefängnis mutig und konsequent im Glauben an eine neue, nicht korrupte und totalitäre Regierung und begibt sich schließlich mit ihren Mitstreiter*innen in einen lebensbedrohlichen Hungerstreik. Dieser spannendste Erzählstrang löst sich erst auf den letzten Seiten des Romans auf.

Daniel Benchimol selbst fährt regelmäßig in ein Hotel am Meer, der Hotelier Hossi ist sein Freund. In Hossi´s Hotel findet Benchimol am Strand eine Kamera – und folgt der Frau auf dem Film, der in Südafrika lebenden Künstlerin Moira Fernandes, in die er sich verliebt. Erst mit der Zeit erfährt die Leserschaft, dass Hossi Ex-Guerillakämpfer der UNITA (Nationalen Union für die Völlige Unabhängigkeit Angolas) ist und einst grausame Foltermethoden anwendete. Die allumfassende Grausamkeit des Krieges, auch innerhalb der Befreiungsbewegungen, sowie die Traumata der Vergangenheit, die Amnesien hervorrufen und in die Gegenwart hineinwirken, wird durch die Figur des Hossi anschaulich porträtiert.

Reale und politisch-historische Erlebnisse und der Kampf um Freiheit sind jedoch nur eine Handlungsebene und Lesart des Romans, die zweite ist die Ebene der Träume: Moira malt Träume in ihren Werken. Daniel Benchimol träumt von Menschen, die er (noch) nicht kennt. Auch Moira war ihm seit langem in seinen Träumen erschienen. Hossi dagegen kann, seit er zweimal vom Blitz getroffen wurde und Teile seines Gedächtnisses verloren hat, nicht mehr träumen, erscheint aber anderen, die in seiner Nähe sind, in einem lila Jackett in ihren Träumen. Und schließlich taucht noch der Neurowissenschaftler Hélio auf, der mithilfe einer neuentwickelten Maschine Träume während des Schlafs im Labor in Bilder und Filme verwandelt.

Das Motiv des Traums ist das Kernthema des Romans, wie der wörtlich übersetzte Titel schon vermuten lässt. Die Protagonisten sind ihren Träumen ausgeliefert, dabei treten auch irreale und fantastische Elemente in den Vordergrund, am Ende träumen etwa alle Bewohner*innen der Hauptstadt Luanda denselben Traum. Die Träume umfassen alle Erzählebenen des Romans und greifen diese auf unterschiedliche Arten auf. Neben den wechselnden Erzählperspektiven werden Träume in Tagebüchern und Briefen berichtet oder in Gespräche eingestreut. Die Erzählstränge spielen – nicht immer chronologisch erzählt – in verschiedenen Zeitebenen und an verschiedenen Orten (Portugal, Angola, Brasilien, Südafrika). Es ist manchmal schwer, dem bisweilen verschachtelten und verwirrenden Roman zu folgen – auch, weil einzelne Szenen (traumhaft anmutend) abreißen, um später wieder aufgegriffen zu werden.

Beeindruckend ist die poetische Sprache, die fesselt und so über manche Leseanstrengung hinweghilft. Das Glossar zur Orientierung sowie die zwei Karten in der Innenseite des Hardcovers sind ebenfalls hilfreich. Leser*innen, die einen politischen Roman lesen wollen, der nicht schwer, sondern poetisch ist und dabei genug Aufmerksamkeit mitbringen, um sich in einem sprachlich beeindruckenden Erzählstrudel zwischendurch selbst zu orientieren, sei das neue Buch von Agalusa empfohlen.

Perzeption von Migration und Rassismus in Gedichtform

Der Gedichtband Refuge von J.J. Bola aus dem Jahr 2018 ist eine Kollektion, die die besten Gedichte aus seinen vorherigen Gedichtsammlungen Elevate (2012), Daughter of the Sun (2014) und Word (2018) sowie einige neue Gedichte umfasst.

J.J. Bola ist ein in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, geborener Autor, Dichter und Menschenrechtsaktivist – man könne „nicht unpolitisch sein“, so wird er häufig zitiert. Im Alter von 6 Jahren migrierte er dank der diplomatischen Verbindungen seines Großvaters mit seinen Eltern nach London, wo er heute noch lebt. Vor seiner Karriere als Autor und Dichter war er Basketballspieler und arbeitete als Sozialarbeiter mit benachteiligten Jugendlichen. Heute setzt er sich neben seiner Kunst für Geflüchtete ein und arbeitet mit Amnesty International sowie als UNHCR-Botschafter an unterschiedlichen Projekten, besonders zu Menschenrechten in der Demokratischen Republik Kongo.

J. J. Bola möchte ein Künstler sein, der explizit für junge Menschen schreibt. Dabei bringt er das Medium der Dichtung Menschen nahe, die sonst vielleicht wenig damit in Berührung gekommen sind. Dafür nutzt er bewusst alle Kanäle der neuen Medien: er führt einen Blog, rezitiert Gedichte als TED-Talks, befasst sich in Webserien – angelehnt an sein Sachbuch über toxische Männlichkeit und Patriarchat (Mask off: masculinity redefined) – mit dem Thema Maskulinität, und trägt seine Werke auf poetry slam-Veranstaltungen und Musikfestivals vor. Trotz der Nähe zur Rapmusik ist seine Kunstform die Literatur und dabei vor allem die Dichtung.

Die in seiner Kunst bearbeiteten Themen sind dabei allesamt aktuell und wichtig. Die Themen Ungleichheit, Ungerechtigkeit sowie Rassismus werden in vielen seiner Gedichte aufgegriffen. Im berühmte Titelgedicht „refuge“ setzt sich J. J. Bola (wie auch in „tell them“ und „more war“) mit den Kriegserfahrungen von Geflüchteten in ihrem Heimatland sowie dem erlebten Rassismus in Europa auseinander. Auch in „a different violence“ werden die schmerzlichen Erfahrungen mit Ausgrenzung sowie der Assimilationsdruck, dem die Menschen der black community (nicht nur) in Großbritanien ausgesetzt sind, thematisiert. Zudem wird das brandaktuelle Thema der Polizeigewalt, wie auch in dem kürzesten Gedicht des Bandes „cops and robbers“, aufgegriffen:

„our kids cannot play this game,

when lying down on

the floor is practice” – heißt es da.

Weitere Gegenstände der Auseinandersetzung bei J. J. Bola sind toxische Männlichkeit sowie Sexismus. In „an apology“ verbeugt sich das lyrische Ich vor den Frauen, die es als göttlich verehrt und entschuldigt sich stellvertretend für seine Geschlechtsgenossen. Die biographische Entstehung der Abwertung von Frauen hat „real men“ zum Inhalt: schon kleine Jungen würden mit einem toxischen Männlichkeitsideal konfrontiert, indem „real men“ stark, emotionslos und promisk sein sollten; „listen bro, the fact is we were lied to“ wird mehrfach wiederholt. Ebenfalls fast missionarisch wird auch in „man, listen“ an alle Männer und deren zukünftige Söhne appelliert, sexistische Stereotype und Misogynie – die auch in der Hip-Hop-Kultur transportiert werden – zu durchbrechen. J.J. Bolas ambivalente Beziehung zum Hip-Hop, der Subkultur, mit der er in Camden- London aufgewachsen ist, wird auch im sehr explizit betitelten Gedicht – „i found hip hop“ aufgegriffen. In der dichten und starken Verwendung von Sprache einem Rap sehr ähnlich, wird hier auch die Herkunft des Dichters, seine Identität als Afrikaner sowie die Kommerzialisierung des Hip-Hops bearbeitet.

Weitere Themen bei J.J. Bola sind Politik und Medienkritik wie in „politics 101“, das Stadtleben in „london“, eine Auseinandersetzung mit Glauben wie in „faith“ sowie Alltagsphilosophisches. Einige Gedichte (etwa „live“) sind dabei mit einer Menge an Tipps und Ideen einem Lebensratgeber zu ähnlich. Im persönlichsten und fast kitschigen Gedicht „something beautiful“ reflektiert J. J. Bola seine eigene Entwicklung zur Schriftstellerei als Selbstheilung.

Neben all den sozialkritischen Gedichten finden sich in Refuge aber nicht zuletzt auch viele schöne und berührende Liebesgedichte. In „I just wanna love her” und „to her, where she may be” wird eine idealisierte Liebesbeziehung oder der Wunsch nach dieser in einer mythologisch aufgeladenen und metaphorischen Sprache beschrieben. In „moon child” wird der Autor persönlich, eine aus Scheuheit unerfüllt gebliebene Liebe bleibt zumindest in Worten lebendig.

J. J. Bola veröffentlichte mit diesem Sammelband seiner Aussage nach die zunächst letzte Sammlung an Gedichten. Aus fast allen Gedichten spricht die eigene Lebensgeschichte des Autors; die Geschichte eines jungen Mannes, der nach eigener Fluchterfahrung kein professioneller Basketballspieler werden durfte, da er die britische Staatsangehörigkeit nicht trug. Der schließlich durch eigene Erweckungsmomente sowie einen Masterstudiengang in Kreativem Schreiben an der Birkbeck University in London zur Literatur fand und für das Genre ungewöhnlich politische und soziale Gedichte veröffentlichte. Dass der Autor damit nicht nur Kunst machen möchte, sondern eine politische Mission als „Influencer“ verfolgt, kann man kritisch diskutieren. So steht das Werk vielleicht nicht für sich, sondern ist bewusst politisch gehalten – auch um den Wünschen seiner Leser*innen gerecht zu werden. Ohne Frage haben wir es jedoch hier mit einem sehr talentierten jungen Schriftsteller zu tun, der wichtige, mutige und tagesaktuelle Themen in berührenden und schönen Gedichten verarbeitet.

Queeres Leben in Nigeria, ein Leben unter Repressionen

Die Sammlung She Called Me Woman: Nigeria’s Queer Women speak, herausgegeben von Azeenarh Mohammed, Chitra Nagarajan und Rafeeat Aliyu im Jahr 2018, umfasst autobiografische Geschichten von Frauen zwischen 20 und 42 aus unterschiedlichen Regionen Nigerias mit diversen Bildungshintergründen sowie religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten. Gemeinsam ist all diesen Frauen ihre queere Identität, es werden die Erlebnisse von Frauen mit nicht-heterosexuellen sexuellen Orientierungen und Ausdrucksarten sowie unterschiedlichen geschlechtlichen Identitäten porträtiert.

Die mutige Veröffentlichung trifft auf einen aktuellen Diskurs in der nigerianischen Gesellschaft: In Nigeria wurde Homosexualität 2014 nach einer vorherigen Abkehr von den kolonialen Gesetzen rekriminalisiert. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist verboten, die Strafe für homosexuelle Aktivitäten und Treffen unter Homosexuellen in Nigeria liegt in einigen Landesteilen bei einer Gefängnisstrafe von 14 Jahren, in den Landesteilen im Norden des Landes, in denen die Schari‘a angewendet wird, kann sogar die Todesstrafe durch Steinigung verhängt werden. LGBT-Organisationen arbeiten im Geheimen und Homosexualität erfährt in der breiten Bevölkerung weiterhin starke Ablehnung. Auf der anderen Seite gibt es geschätzt mehr queere Personen in Nigeria als Einwohner*innen in Lagos und Homosexualität ist – wie überall – schon immer Teil der nigerianischen Geschichte, Kultur und Tradition gewesen.

Bewusst legen die Herausgeberinnen den Fokus in ihrem Sammelband auf lesbische oder transsexuelle Frauen – eine noch unsichtbarere Gruppe innerhalb der queeren Community. Sie geben diesen wortwörtlich eine Stimme, sodass nicht mehr nur über sie gesprochen wird. Es wurden Frauen aus verschiedenen Landesteilen interviewt, die Audiodateien wurden transkribiert, zum Schutz der Erzähler*innen anonymisiert und unkorrigiert als Sammlung von Erzähler*innenstimmen wiedergegeben. Die Protagonist*innen haben ihre sexuelle Identität in verschiedenen Altersstufen und auf unterschiedliche Arten erfahren und entdeckt, einige kannten die Kategorie „gay“ für ihre Empfindungen nicht und „verstanden“ sich selbst so erst in ihren späten Zwanzigern. Einige Themen tauchen dabei bei allen auf: ein „Problem“ mit ihrer Sexualität beschreibt keine der Protagonist*innen, die meisten erfahren auch große Unterstützung durch Freund*innen außerhalb der Familie. Es ist die abweisende und kriminalisierende Reaktion der Familie, der Gesellschaft, der Politik und der Religion die es ihnen schwermacht und sie ihre Liebe im Geheimen ausleben lässt – „Love is not wrong“, so ist etwa ein Kurztext betitelt.

Die Lebensrealitäten der Erzähler*innen und damit auch die Risiken, die ihre Sexualität mit sich bringt, unterscheiden sich dabei massiv: Im Kurztext „I only admire girls” erzählt eine 20-jährigen junge Frau aus der Volksgruppe der Hausa von ihrer Kindheit und Jugend. Sie war schon als Kind körperlicher Gewalt durch den Vater und sexuellen Übergriffen durch Männer ausgesetzt. Nachdem bekannt wird, dass sie sich als Junge fühlt und nicht heiraten möchte, wird sie – wie es das normale Schicksal eines Mädchens in ihrer Gegend ist – mit 14 Jahren an einen ihr vorher unbekannten Mann verheiratet. In der Ehe erfährt sie Gewalt, wird eingesperrt und flieht schließlich. Heute lebt sie mit anderen Frauen mit ähnlicher Erfahrung an einem sicheren Ort, ohne Kontakt zu ihrer Familie.

In „My sexuality is just the icing on the cake” erzählt eine 25-jährige aus Ondo im Südwesten Nigerias, Tochter eines Pastors und einer Evangelistin, ihre Lebensgeschichte. Sie berichtet von vielen glücklichen Kindheitserinnerungen, aber auch von dem seitens ihrer Familie geleugneten sexuellen Missbrauch durch ihren Onkel. Schon früh weiß sie, dass sie lesbisch ist und berichtet der Leserschaft von ihren verschiedenen Beziehungserfahrungen. Als ihre Familie später zufällig von ihrem Geheimnis erfährt, muss sie für acht Monate zuhause bleiben. Berührend ist es, wie die gebildete junge Frau die Konzeptualisierung von Gender-Rollen reflektiert. Sie lehnt die Aufteilung in „männliche und weibliche Rolle“ in einer lesbischen Beziehung ab, dies brächte das ganze heterosexuelle Konzept in eine homosexuelle Beziehung. „I like to be free of gender…I tell people that my sexuality is just the icing on the cake…My sexuality doesn´t define who I am.”

Die Qualität der Texte ist dabei abhängig vom unterschiedlichen Bildungshintergrund der Protagonist*innen, was sich in der Wahl und Differenziertheit der Sprache erkennbar macht. Eine sehr starke Erzählerinnenstimme wird etwa im essayistisch geschriebenen Kurztext „Focusing on Joy“ laut. Die 29-jährige Erzählerin, Tochter eines nigerianischen Vaters in Chicago, USA geboren, schreibt Kurzgeschichten seit ihrer Kindheit. Die Pubertät wird für sie aus doppeltem Grunde zu einem verstörenden Moment: vorher war in ihrer aufgeklärten Familie ihr Leben als „tomboy“ nie thematisiert worden, nun reagiert die Außenwelt nicht nur auf ihre neue Weiblichkeit, sondern ihr wird auch der weitverbreitete Rassismus gegenüber schwarzen Frauen in den USA entgegengebracht. Ihr Coming-Out-Prozess als bisexuelle Frau ist ein langer Prozess, an dem sie die Leserschaft teilhaben lässt. Insgesamt sind es aber weniger die Fragen der sexuellen Identität als ihre allgemeine Identitätsfindung -als schwarze, Nigerianisch-Jamaikanische Frau – die sie beschäftigen.

Der Sammelband erzählt in erster Linie die Lebens- und Diskriminierungserfahrungen von queeren Menschen in der stark patriarchal aufgebauten und homophoben Gesellschaft Nigerias. Der Band kann aber auch anders gelesen werden; etwa als Sammlung von Coming-of-Age-Geschichten, in der erste Beziehungserfahrungen von Jugendlichen porträtiert werden. Oder als Kaleidoskop verschiedener Perspektiven, Religionen und Völker innerhalb Nigerias und damit als zeitgenössisches Zeugnis des Nord-Süd-Unterschiedes in Nigeria. Der Sammelband ist zwar hauptsächlich adressiert an die allgemeine Bevölkerung Nigerias und an die queere Community im Speziellen, er ist aber auch interessant für internationale Leser*innen, die am Thema Gender interessiert sind und auch für solche, die eine gute Einführungsliteratur zu Nigeria suchen.

Dabei muss der interessierten Leserschaft bewusst sein, dass es sich weder um ein literarisches Buch noch um ein Sachbuch zum Thema handelt, sondern um eine Zusammenstellung transkribierter, nicht korrigierter Audiodateien. Eine akademische Diskussion zu Queerness würde dabei zu dem persönlichen Stil des Buches sicherlich nicht passen, eine fundiertere fachliche Einführung zum politischen Hintergrund, zu Homosexualität in Nigeria oder den Konzepten von LGBT hätte den Einzelerzählungen aber einen stimmigeren Rahmen gegeben. Zudem hätte eine textliche Überarbeitung im Stile des Erzählten der Lesbarkeit mancher Kurztexte genützt. Trotzdem bleibt She called me woman für die am Thema interessierte Leserschaft ein politisch und gesellschaftlich wichtiges und vielfach berührendes Buch.

Literature noir aus Nigeria

Im Sammelband von Kurzgeschichten Lagos noir wird das Stadtgeschehen der nigerianischen Megametropole Lagos, die mit 21 Mio. Einwohnern neben Kairo zu den größten Städten des Kontinents zählt, auf vielfältige Art und Weise porträtiert. Das Lesen des Sammelbandes ist wie eine virtuell-literarische Reise durch die Stadt, jede Geschichte nimmt Bezug auf ein anderes Stadtviertel mit dessen Geschichten und Menschen .

Herausgegeben vom unabhängigen Verlag „Akashic Books“ aus Brooklyn/ New York, war Lagos Noir der erste Band, der sich afrikanischen Stadt in der preisgekrönten ausgezeichneten kommerziellen Serie „Akashic Noir“ widmet. Der Verlag erlangte 2004 mit dem ersten Buch Brooklyn Noir Bekanntheit. Nachdem die Serie zunächst Metropolen im US-amerikanischen Raum porträtierte , expandierte sie in den folgenden Jahren nach Europa, Südamerika, Asien und Afrika. Seitdem wurden Bände aus aller Welt mit Noir-Geschichten aus verschiedenen Hauptstädten und Metropolen zusammengestellt, die Reihe wurde erfolgreich und bei einer internationalen Leserschaft beliebt.

Der Herausgeber des Sammelbandes ist der 1966 in Nigeria geborene preisgekrönte Autor Chris Abani. Vor seiner Emigration, zunächst nach Großbritannien und dann in die USA, wurde er dreimal wegen regierungskritischer Aktivitäten verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Man meint, diese Erfahrungen mit Polizeigewalt und Korruption in der Auswahl der Kurzgeschichten zu spüren.

Die Autor*innen der 13 Geschichten des Sammelbandes sind alle nigerianischer Abstammung, fast alle schreiben aktuell aus der Diaspora. Der Sammelband gliedert sich in die drei Teile „Cops and Robbers“, „In a Family Way“ und „Arrivals and Departures”. Aus der guten und vielfältigen Auswahl von Kurzgeschichten stechen einige nochmal besonders heraus: die Geschichte „Killer Ape“ von Chris Abani selbst, „Heaven´s Gate“ von Chika Unigwe und „Showlogo“ von der bekannten nigerianisch-amerikanischen Autorin Nnedi Okrafor sind Highlights in einem Band von Geschichten, die sich durchweg durch ein hohes Niveau auszeichnen.

„Showlogo“ ist die witzigste und skurrilste Geschichte des Bandes, in einer spannenden und kurzweiligen Art und Weise geschrieben, sprachlich sehr bunt. Ein Mann fällt nahe Chicago vom Himmel. Er heißt Showlogo und der Name ist Programm. Die Autorin porträtiert ihren Protagonisten ausführlich, führt die Leserschaft in seine Lebensgeschichte ein. Wie er den als Fluchtversuch geplanten Langstreckenflug im Landungsgestell des Flugzeuges von Nigeria in die USA überlebt, hat einen irreal-wundersamen Charakter – Showlogo ist unbesiegbar.

„Killer Ape“ – als einzige Kurzgeschichte neben der Einführung vom Herausgeber selbst verfasst – entführt die Leserschaft in die Welt der britischen Expat-Community der 1950er Jahre und behandelt das Thema des Kolonialismus. „Killer Ape“ spielt auf der Insel „Ikoyi“ bei „Lagos Island“, die in der Kolonialzeit von Europäern bewohnt war. Heute finden sich dort die Häuser mit den höchsten Grundstückpreisen Afrikas, der Wohnsitz mehrerer Präsidenten befand sich in dem Stadtteil. In der Kurzgeschichte ermittelt der charismatische Kommissar Okoro nach den Methoden seines Vorbildes Sherlock Holmes. Als heimlicher Homosexueller hat Okoro sofort den richtigen Impuls: er erspürt die Liebesgeschichte eines britischen Hausherren zu seinem schwarzen Angestellten und entlarvt den wohl skurrilsten vorgeführten Tatverdächtigen des Sammelbandes – einen Affen – als unschuldig. Statt jedoch die eifersüchtige Täterin – die Ehefrau – festzunehmen, spielt Okoro das Spiel mit, die bourgeoise und rassistische gesellschaftliche Ordnung bleibt erhalten.

Chika Unigwe, eine belgische Schriftstellerin nigerianischer Abstammung, veröffentlichte mit „Heaven´s Gate“ eine der berührendsten Geschichten des Sammelbandes. Emeka ist ein junger Mann, der ohne Mittel nach Lagos gekommen war und mit Hilfe eines reichen Geschäftsmannes eine Business-Idee verwirklicht. Als Okada-Fahrer (die typischen Motorradtaxis, die es überall in Lagos gibt) macht er nächtliche Zusatzschichten, um der neuen Frau in seinem Leben die Chance auf eine eigene Wohnung zu ermöglichen. Mit den Regeln der korrupten Polizei meint er sich auszukennen, aber eines Nachts gerät er an den falschen Polizisten… Die Polizei von Lagos wird in „Heaven´s Gate“ „die Wölfe“ genannt. Typisch für das Noir-Genre ist die Polizei auch hier wie in den wenigsten Geschichten integer; in den meisten Geschichten verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse, die Polizei fungiert als weitere kriminelle Kraft neben den allgegenwärtigen Verbrecherbanden. In „What they did that night“ von Jude Dibia muss Corporal Gabriel am Ende der Geschichte sogar erfahren, dass er allein auf weiter Flur gegen die Gangstergang ermittelt hat; nicht nur sein Chef und seine Kollegen haben mit der Gangsterbande kollaboriert, sogar seine eigene Ehefrau hat gegen ihn gearbeitet.

Alle Geschichten aus „Lagos Noir“ spielen im Lagos des 21. und vereinzelt des 20. Jahrhunderts und behandeln übergreifende Themen, kondensiert auf wenigen Seiten mit kurzen Einblicken. Die bestimmende Themen des Bandes sind allesamt aktuell und modern: es geht um den gravierenden Kontrast von Arm und Reich in der Stadt, um Aufstieg durch Ölgeschäfte im Nigerdelta, um das Leben im Flüchtlingscamp, um die allumgreifende Korruption und immer auch um Zwischenmenschliches. Die Leserschaft wird an verschiedene Orte und Lebensrealitäten von Lagos entführt. Transportiert wird ein vielschichtiges und dichtes Bild der Stadt in vielen Bildern und Metaphern: Lagos als Stadt der Träume, als Stadt, die niemals schläft, als Stadt der unzerstörbaren Lagos-Ratten… Der Sammelband ist kurzweilig, vielfältig und originell und somit interessant zu lesen nicht nur für Krimiliebhaber*innen und Großstadtfans, sondern auch als Vorbereitung auf eine Reise nach Lagos.

Bericht aus dem Innersten des Krieges

Der im französischen Original 2018 unter dem Titel Frère d d’âme erschienene Kurzroman des senegalesisch-französischen Autors David Diop erzählt die Geschichte eines jungen Mannes aus dem Senegal, der im 1. Weltkrieg für Frankreich kämpft. In Frankreich wurde das Romandebüt des Autors zu einem Bestseller, 2019 erschien der Roman in der deutschen Übersetzung unter dem leicht plakativen Titel Nachts ist unser Blut schwarz – passend dazu in einem düster gehaltenen Hardcover, auf dem eine karge Baumlandschaft mit roten (Blut?) – Flecken besprenkelt wird.

Im Nachwort beschreibt Diop die historischen Hintergründe des Romans. 180 000 „Senegalschützen“ – eine Bezeichnung, die sich auf alle Soldaten aus dem Kolonialreich Frankreichs in West- und Zentralafrika bezog – kämpften im ersten Weltkrieg für die Franzosen. Jeder sechste von ihnen verlor sein Leben im Krieg, die meisten in den Grabenkriegen gegen die Deutschen; hier ist auch der Roman angesiedelt. Die rassistisch als „Schokosoldaten“ bezeichneten Männer wurden mit Macheten ausgestattet, um ihren Ruf als „Wilde“ zu unterstreichen und als erste auf den Schlachtfeldern verheizt.

Der Kurzroman geht unter die Haut. Das Buch ist komplett als Monolog aus der Sicht des senegalesischen jungen Mannes Alfa Ndiaye verfasst. Es fühlt sich an, als sei man seiner Innenansicht, seinen Gedanken und Gefühlen in aller Wucht und Grausamkeit ausgeliefert. Der beschriebene Handlungsstrang selbst umfasst nur wenige Wochen und wird in seiner stringenten Erzählweise nur unterbrochen durch Rückblenden in die Kindheit und Jugend des 20-jährigen. Die Rückblenden sind die einzig schön zu lesenden Stellen in dem sonst blutigen Roman. Der Krieg wirkt wie ein Donnerschlag, der über die Harmonie des Bauernjungen hereinbricht, die zuvor erst einmal durch das Verschwinden und die mutmaßliche Entführung seiner Mutter getrübt wurde.

Die Handlung selbst ist schnell erzählt: Mademba Diop, Alfas‘ Kindheitsfreund und „Seelenbruder“, wurde aus dem Hinterhalt durch einen sich schlafend stellenden deutschen Soldaten schwer verletzt und kehrte mit heraushängenden Gedärmen mehr tot als lebendig zurück. Mademba fleht seinen Freund dreimal an, ihn zu erlösen, ihn zu töten. Alfa schafft es nicht, der Bitte seines Freundes zu entsprechen. Der Freund verblutet elendig. Alfa bereut seine Verweigerung und bittet den toten Freund um Verzeihung, doch für sein eigenes Seelenheil ist es zu spät.

In diesem Schlüsselmoment des Buches bricht etwas in Alfa: er möchte seinen Freund rächen, indem er blauäugige Soldaten tötet. Er tötet wie im Rausch im Nahkampf aus dem Hinterhalt, immer nachts, und bringt die abgehackten Hände, an denen noch die Gewehre der Feinde hängen, als Kriegsbeute mit. Dafür erfährt er erst Bewunderung in der Truppe, bald jedoch wenden sich die anderen von ihm ab, sie fürchten ihn und bezeichnen ihn als Hexersoldat. Nach der siebten mitgebrachten „Trophäe“ wird selbst dem blutrünstigen Hauptmann sein Schützling zu unberechenbar, sodass er ihm einen Urlaub von der Front verordnet. In einer psychiatrischen Heilanstalt beginnt Alfa in das Erlebte zu verarbeiten.

Gefühlt ist in jeder Zeile des Buches die Grausamkeit des Krieges zu spüren. Die Verwandlung eines abenteuerlustigen jungen Mannes, der noch kurz vor dem Aufbruch in den Krieg seine erste beglückende sexuelle Erfahrung gemacht hat, zum Mörder auf dem Schlachtfeld, wird eindrücklich beschrieben. Er entscheidet über Leben und Tod, über Recht und Unrecht– so weit ist er abgekommen von der richtigen Einschätzung einer Situation und vom Gefühl für sein Gegenüber. Zum Schluss verliert er sich vollkommen und depersonalisiert aus seinem eigenen Körper. Ebenfalls zweideutig bleibt dabei die Darstellung des Innenlebens des Alfa Ndiaye: war er schon vorher psychisch auffällig und lebt seinen Wahnsinn nun im Krieg aus? Immerhin wurde schon im Senegal über ihn erzählt, er sei ein Seelenfresser und würde Mademba´s Kräfte rauben. Oder lesen wir hier die Verwandlung eines Mannes durch den Krieg, eine frühe Schilderung einer posttraumatischen Belastungsstörung?

Der Fokus des Buches ist das Psychogramm Alfa Ndiayes, nicht der historisch-politische Hintergrund. Der Rassismus gegenüber den Senegalsoldaten wird aufgegriffen, aber in der konsequenten Innenperspektive des Erzählers in keinen Rahmen gesetzt oder problematisiert. Durch die prototypische Überzeichnung des Alfa Ndiayewird die Ideologie des „Wilden“ klischeehaft aufgegriffen. David Diop wollte sie wohl durch diesen Kunstgriff ad absurdum führen, es kann aber auch gefährlich sein, ebendiese Bilder zu bedienen.

Das Buch ist keine angenehme Unterhaltungsliteratur und nichts für empfindliche Gemüter, man braucht starke Nerven, um die detailliert geschilderten Tötungsszenen zu ertragen. Rhythmisch und fast mantraartig werden einzelne Sätze wiederholt: „Ich weiß es, ich habe es verstanden“, „Ich habe verstanden, ich hätte es nicht tun sollen.“ „bei der Wahrheit Gottes“… Diese Sprache verfolgt das Ziel, die Leserschaft in den Bann zu ziehen, wirkt aber beizeiten auch hölzern und phrasenhaft. In der starken Bildersprache mit einigen mystischen Elementen verwendet Diop auch viele sexuelle Konnotationen: der Schützengraben wird beschrieben als übergroßes weibliches Geschlecht, das ihn aufnimmt, der Hauptmann „geht mit dem Krieg ins Bett“. In Verbindung mit den sich immer wiederholenden Sätzen und der Kürze des Buches führt auch die Eingängigkeit der Sprache dazu, dass man das Buch in einem Rutsch durchlesen kann – und verstört zurückbleibt. Leser*innen mit historischem Interesse oder Interesse an (Anti)-Kriegsromanen sei dieser Roman empfohlen.

Ein Tagebuchroman über eine junge Ärztin und Aktivistin in Südafrika

Der Roman Period Pain von Kopano Matlwa erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die als Assistenzärztin in Johannesburg arbeitet. Die in Südafrika viel beachtete Schriftstellerin und Ärztin Kopano Matlwa feierte 2011 mit ihrem Debüt Coconut Erfolge, 2016 wurde mit Period Pain ihr aktuellster Roman veröffentlicht. Die Einblicke in das marode Medizinsystem Südafrikas werden wahrscheinlich von eigenen Erfahrungen gedeckt sein – so authentisch klingen die Schilderungen. Die deutsche Erstveröffentlichung erschien im August 2019 unter dem Titel Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist.

Die Protagonistin des Romans, die junge, engagierte und idealistische Masechaba treibt das korrupte und ungleiche Medizinsystem ebenso um, wie die Schatten in ihrer Seele, die sie seit dem Suizid ihres Bruders verfolgen. Durch die konsequente Erzählperspektive aus Masechabas Sicht, in Tagebuchform und als Ansprache an Gott als Hadern mit seiner Unterstützung in ihrem schweren Schicksal, kann die Leserschaft ganz unmittelbar und nah an Masechabas Gefühlen teilhaben. Unterbrochen wird die Tagebuchperspektive lediglich durch Psalmen und Zitate aus der Bibel, die das Zweifeln an der Kraft und Unterstützung Gottes widerspiegeln.

Neben den Themen Familie, Freundschaft und psychische Erkrankung sind auch gesellschaftspolitische Aspekte Inhalt des Romans. Ungerechtigkeit als prägendes Thema des Romans wird durch das korrupte und ungleiche Medizinsystems ebenso dargestellt wie durch die existierende Fremdenfeindlichkeit im modernen Südafrika als Erbe der Apartheid. Ihre beste Freundin Nyasha aus Simbabwe sorgt dafür, dass sich Masechaba politisch engagiert, sodass sie sich schließlich in einem Alltag voller Gewalt und Gefahr aktivistisch gegen Fremdenfeindlichkeit einsetzt.

Nicht zuletzt ist Period Pain – wie schon der Titel verrät – ein Buch über Frausein: Masechaba leidet seit ihrer Jugend an so starken Menstruationsbeschwerden, dass sie sich sogar einer Operation unterziehen muss. Im letzten verstörenden Teil des Buches ist sexualisierte Gewalt das prägende Thema. Masechaba erfährt eine sog. „korrektive“ Massenvergewaltigung als „Reaktion“ auf ihren Einsatz gegen Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung, von der sie starke psychische und körperliche Verletzungen mit sich trägt. Die Verarbeitung der Vergewaltigung wird auf eine authentische und drastische Art beschrieben, die sich durch das Buch ziehende Auseinandersetzung mit Gott erfährt hier ihren erzählerischen Höhepunkt: „Wo warst Du, als es passiert ist? Hast du zugeschaut? Hat es Dich geschaudert? Hast du geweint? …Wie lange hast du es schon gewusst? Seit vorgestern oder seit vorvorgestern? Seit meinem siebten Geburtstag oder seit dem Tag meiner Geburt?“

Nach den vielen Schicksalsschlägen und dem Martyrium der Gruppenvergewaltigung endet das Buch hoffnungsvoll. Aus der Vergewaltigung ist ihre Tochter Mpho entstanden und statt eines weiteren psychischen Traumas erfährt Masechaba durch die Geburt ihrer Tochter Heilung. Die Mutterschaft wird im Roman als erlösendes und befriedendes Ereignis wie ein Allheilmittel gezeichnet. Der Schluss des Romans wirkt damit unrealistisch bis kitschig, als hätte die Autorin die Leserschaft zum Ende hin nach den verstörenden Schilderungen der brutalen Vergewaltigung doch noch positiv stimmen wollen.

Period Pain ist ein dünnes Buch mit viel Inhalt und einer interessanten Erzählperspektive. Die Vor- und Nachteile der Tagebuchform werden recht deutlich. So erlaubt diese Erzählform zwar starke Innenansichten, für die es ebenso starke Nerven braucht, die Sprache des Buches ist jedoch – einem Tagebucheintrag angemessen – zwar authentisch und jugendlich, aber recht schlicht. Wer darüber hinwegsehen kann und an der Gegenwart Südafrikas interessiert ist, sei der Roman über eine weibliche Protagonistin der jungen Generation im gegenwärtigen Südafrika empfohlen.