Literature noir aus Nigeria

Im Sammelband von Kurzgeschichten Lagos noir wird das Stadtgeschehen der nigerianischen Megametropole Lagos, die mit 21 Mio. Einwohnern neben Kairo zu den größten Städten des Kontinents zählt, auf vielfältige Art und Weise porträtiert. Das Lesen des Sammelbandes ist wie eine virtuell-literarische Reise durch die Stadt, jede Geschichte nimmt Bezug auf ein anderes Stadtviertel mit dessen Geschichten und Menschen .

Herausgegeben vom unabhängigen Verlag „Akashic Books“ aus Brooklyn/ New York, war Lagos Noir der erste Band, der sich afrikanischen Stadt in der preisgekrönten ausgezeichneten kommerziellen Serie „Akashic Noir“ widmet. Der Verlag erlangte 2004 mit dem ersten Buch Brooklyn Noir Bekanntheit. Nachdem die Serie zunächst Metropolen im US-amerikanischen Raum porträtierte , expandierte sie in den folgenden Jahren nach Europa, Südamerika, Asien und Afrika. Seitdem wurden Bände aus aller Welt mit Noir-Geschichten aus verschiedenen Hauptstädten und Metropolen zusammengestellt, die Reihe wurde erfolgreich und bei einer internationalen Leserschaft beliebt.

Der Herausgeber des Sammelbandes ist der 1966 in Nigeria geborene preisgekrönte Autor Chris Abani. Vor seiner Emigration, zunächst nach Großbritannien und dann in die USA, wurde er dreimal wegen regierungskritischer Aktivitäten verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Man meint, diese Erfahrungen mit Polizeigewalt und Korruption in der Auswahl der Kurzgeschichten zu spüren.

Die Autor*innen der 13 Geschichten des Sammelbandes sind alle nigerianischer Abstammung, fast alle schreiben aktuell aus der Diaspora. Der Sammelband gliedert sich in die drei Teile „Cops and Robbers“, „In a Family Way“ und „Arrivals and Departures”. Aus der guten und vielfältigen Auswahl von Kurzgeschichten stechen einige nochmal besonders heraus: die Geschichte „Killer Ape“ von Chris Abani selbst, „Heaven´s Gate“ von Chika Unigwe und „Showlogo“ von der bekannten nigerianisch-amerikanischen Autorin Nnedi Okrafor sind Highlights in einem Band von Geschichten, die sich durchweg durch ein hohes Niveau auszeichnen.

„Showlogo“ ist die witzigste und skurrilste Geschichte des Bandes, in einer spannenden und kurzweiligen Art und Weise geschrieben, sprachlich sehr bunt. Ein Mann fällt nahe Chicago vom Himmel. Er heißt Showlogo und der Name ist Programm. Die Autorin porträtiert ihren Protagonisten ausführlich, führt die Leserschaft in seine Lebensgeschichte ein. Wie er den als Fluchtversuch geplanten Langstreckenflug im Landungsgestell des Flugzeuges von Nigeria in die USA überlebt, hat einen irreal-wundersamen Charakter – Showlogo ist unbesiegbar.

„Killer Ape“ – als einzige Kurzgeschichte neben der Einführung vom Herausgeber selbst verfasst – entführt die Leserschaft in die Welt der britischen Expat-Community der 1950er Jahre und behandelt das Thema des Kolonialismus. „Killer Ape“ spielt auf der Insel „Ikoyi“ bei „Lagos Island“, die in der Kolonialzeit von Europäern bewohnt war. Heute finden sich dort die Häuser mit den höchsten Grundstückpreisen Afrikas, der Wohnsitz mehrerer Präsidenten befand sich in dem Stadtteil. In der Kurzgeschichte ermittelt der charismatische Kommissar Okoro nach den Methoden seines Vorbildes Sherlock Holmes. Als heimlicher Homosexueller hat Okoro sofort den richtigen Impuls: er erspürt die Liebesgeschichte eines britischen Hausherren zu seinem schwarzen Angestellten und entlarvt den wohl skurrilsten vorgeführten Tatverdächtigen des Sammelbandes – einen Affen – als unschuldig. Statt jedoch die eifersüchtige Täterin – die Ehefrau – festzunehmen, spielt Okoro das Spiel mit, die bourgeoise und rassistische gesellschaftliche Ordnung bleibt erhalten.

Chika Unigwe, eine belgische Schriftstellerin nigerianischer Abstammung, veröffentlichte mit „Heaven´s Gate“ eine der berührendsten Geschichten des Sammelbandes. Emeka ist ein junger Mann, der ohne Mittel nach Lagos gekommen war und mit Hilfe eines reichen Geschäftsmannes eine Business-Idee verwirklicht. Als Okada-Fahrer (die typischen Motorradtaxis, die es überall in Lagos gibt) macht er nächtliche Zusatzschichten, um der neuen Frau in seinem Leben die Chance auf eine eigene Wohnung zu ermöglichen. Mit den Regeln der korrupten Polizei meint er sich auszukennen, aber eines Nachts gerät er an den falschen Polizisten… Die Polizei von Lagos wird in „Heaven´s Gate“ „die Wölfe“ genannt. Typisch für das Noir-Genre ist die Polizei auch hier wie in den wenigsten Geschichten integer; in den meisten Geschichten verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse, die Polizei fungiert als weitere kriminelle Kraft neben den allgegenwärtigen Verbrecherbanden. In „What they did that night“ von Jude Dibia muss Corporal Gabriel am Ende der Geschichte sogar erfahren, dass er allein auf weiter Flur gegen die Gangstergang ermittelt hat; nicht nur sein Chef und seine Kollegen haben mit der Gangsterbande kollaboriert, sogar seine eigene Ehefrau hat gegen ihn gearbeitet.

Alle Geschichten aus „Lagos Noir“ spielen im Lagos des 21. und vereinzelt des 20. Jahrhunderts und behandeln übergreifende Themen, kondensiert auf wenigen Seiten mit kurzen Einblicken. Die bestimmende Themen des Bandes sind allesamt aktuell und modern: es geht um den gravierenden Kontrast von Arm und Reich in der Stadt, um Aufstieg durch Ölgeschäfte im Nigerdelta, um das Leben im Flüchtlingscamp, um die allumgreifende Korruption und immer auch um Zwischenmenschliches. Die Leserschaft wird an verschiedene Orte und Lebensrealitäten von Lagos entführt. Transportiert wird ein vielschichtiges und dichtes Bild der Stadt in vielen Bildern und Metaphern: Lagos als Stadt der Träume, als Stadt, die niemals schläft, als Stadt der unzerstörbaren Lagos-Ratten… Der Sammelband ist kurzweilig, vielfältig und originell und somit interessant zu lesen nicht nur für Krimiliebhaber*innen und Großstadtfans, sondern auch als Vorbereitung auf eine Reise nach Lagos.

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