Was uns trennt und was uns zusammenbringt

„Ghana must go“ oder „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ von Taiye Selasi

Der Vater einer 6-köpfigen Familie stirbt. Hier setzt der von Taiye Selasi verfasste Roman an, in dem sie aus den Perspektiven der jeweiligen Familienmitglieder beschreibt, wie er oder sie zur Familie steht. Die deutsche Ausgabe, 2013 in Deutschland bei S. FISCHER erschienen, hat mich mitgerissen, völlig in den Bann gezogen und bis zu den letzten Seiten nicht mehr losgelassen. Die Geschichte hat es in sich.

Was passiert, wenn innerhalb der Familie nicht über traumatische Ereignisse oder schlicht Begebenheiten in der Vergangenheit, gesprochen wird? Ohne allzu offensichtlich oder reißerisch wertend vorzugehen, enthüllt Selasi die Umstände von Kweku Sais Tod. Welche Bedeutung dem beikommt, ist am Anfang des Buches kaum zu ermessen. Dann werden wir in das Familienleben eingeführt, als noch (fast) alles gut war. Alle beieinander: Vater, Mutter, Kinder. Sadie Sai wird geboren, das jüngste der vier Kinder. Eindrücklich beschreibt Selasi den „Clash“ der Weltsichten in Bezug auf den Tod von Neugeborenen, während Kweku Sai, Arzt, einer der besten seines Fachs, sich selbst gerade in der Säuglingsstation befindet: „Wenn ein unglückliches Neugeborenes aller Voraussicht nach das Wochenende nicht überstehen würde, riet man den Eltern davon ab, ihm einen Namen zu geben […]. Viele seiner Jahrgangskollegen fanden diese Praxis befremdlich – als würde man sich zu früh geschlagen geben. Das waren vor allem Amerikaner, mit ihren weißen Zähnen und der Kuhmilch für die Kindersterblichkeit etwas Unvorstellbares ist. Oder besser gesagt, vorstellbar in der Summe, als eine Zahl, eine Statistik, das heißt, x % der in Ghana geborenen Kinder sterben vor der zweiten Woche. Vorstellbar im Plural, aber inakzeptabel im Singular.“

Für Kweku ist das Krankenhaus ein Dreh- und Angelpunkt. Klar, dass es ihn oder sein Leben aus den Angeln hebt, als er seinen Job verliert, in einem der besten. Aber hat er seine Arbeitsstelle nicht selbst als „Maschine“ bezeichnet? „Die Maschine. So hatte er das Krankenhaus genannt, als er am Johns Hopkins Hospital anfing, weil er so beeindruckt davon war, wie gut das alles funktionierte. […] Alles unter Kontrolle […]: die menschliche Schwäche, menschliche Emotionen, alle dazugehörigen Formen von menschlichem Chaos, Schmutz, Krankheit, Komplikationen.“ […] „To dazzle the faithful. Arrogance by association. The machine was in control. And so he was in control who belonged to it.“

Die Literatur vermag Dinge und Ereignisse/Geschehnisse in einen Zusammenhang zu setzen, der anderen (wissenschaftlichen) Disziplinen abgeht. Immer wieder gibt es Rückblenden in Selasis Roman, zu dem Moment in dem Kweku stirbt. Er räsoniert, fasst zusammen, lässt revue passieren. Stellt sich Fragen – die Frage: Warum? Dass auch sein Vater gegangen war, wird uns als Leser*in mitgeteilt, aber kommt Kweku selbst der Gedanke, dass sein Weggang nicht der Erste in seiner Familie war? Dass es vielleicht sogar einen Zusammenhang zwischen seinem eigenen Weggang gibt und dem seines Vaters? Genau diese Verbindung gelingt Selasi so gut: Das Unbeschreibliche anvisieren, andeuten, in einem Nebensatz aufblitzen und uns erkennen lassen: Diese Dinge geschehen [eben] nicht einfach so.

In der Originalausgabe, wie auch in der deutschen Ausgabe, vereinfacht ein Stammbaum die Einordnung der Familienmitglieder. Auch eine Aussprachehilfe ist der Originalausgabe vorangestellt (in der deutschen Ausgabe angehängt). Mir gefallen diese Zusätze, die in vielen Büchern fehlen. Ich kann mich besser einfühlen, wobei Selasi ihre Leser*innen nicht in Unkenntnis lässt bei möglicherweise unbekannten Begriffen. Vieles wird erklärt, wie die Ibeji, das Wort für Zwillinge, mit dem nigerianischen Mythos über Zwillinge. Manchmal ist es mir zu viel des Markennamen-Droppings: „Mi-Del Organic Lemon Snaps, Capri Sun und „Apple & Eve“ Apfelsaft“, was letztlich aber nicht zu sehr in den Vordergrund rückt und daher verkraftbar ist – für mich – für andere möglicherweise die Authentizität verstärkt.

Die Übersetzungsleistung von Adelheid Zöfel verdient hervorgehoben zu werden. Es gelingt ihr den etwas „amerikanisch“ dramatischen Duktus aufzugreifen, Selasis Schreibweise abzubilden, ohne an Intensität einzubüßen und doch etwas von dem Hollywood-Kino abzurücken. Mir hat die deutsche Übersetzung besser gefallen als die originale Fassung des Romans.

Insgesamt: Großartig verwebt Selasi die Erzählstränge, sodass sich ein immer kompletteres Bild ergibt und wir am Ende verstehen. Die Verletzungen der Charaktere verstehen, verstehen, warum wer wie handelt; warum „Ghana must go“ der Titel des Romans ist oder wie im Klappentext der deutschen Ausgabe zusammengefasst wird: „Wir wissen erst, wer wir sind, wenn wir wissen, woher wir kommen.“

Detaillierte moderne Familiengeschichte über Kontinente hinweg

Taiye Selasi „erfand den Begriff „Afropolitan““, welcher auch in der Geschichte der Sais Gestalt annimmt: „neue Generation von Weltbürgern mit afrikanischen Wurzeln“. Die Autorin war unter 40 Jahren, als sie diesen – bisher ihren einzigen – Roman verfasste. Bisher sind 4 Kurzgeschichten von ihr veröffentlicht worden und sie ist in einem TED-Talk zu bewundern in dem sie darüber spricht, eben nicht „multinational“ zu sein, weil man von Eltern abstammt, die aus verschiedenen Ländern kommen und man selbst in einem anderen Kontinent aufgewachsen ist als die eigenen Eltern. Ihr geht es darum die Konzepte und Klischees zu überwinden, die mit einer Nationalität einhergehen und das Menschliche zu sehen in jedem Gegenüber. Statt zu fragen: Woher kommst du? Wäre die Frage nach dem Alltag vielleicht angemessener – welches sind deine Rituale? Mit wem hast du regelmäßig Kontakt, führst Beziehungen? Mit welchen Einschränkungen hast du zu kämpfen? Und es sei von Bedeutung, sich darüber bewusst zu sein, mit welcher Intention die Frage nach der Herkunft gestellt werde. Die Antwort(en) auf diese Frage, sollten zusammenbringen und nicht trennen.