Ein unterschwelliger Angriff auf die Normen der Gesellschaft

Der Sammelband She Called Me Woman ist einer der Fälle, in denen die Einleitung die tragende Rolle des Werkes übernimmt. Man denke an die moderne Kunst, bei der das einfache Betrachten des Objektes nicht unbedingt zur vollen Verinnerlichung der Künstlerbotschaft führt. Es ist wichtig den „Begleitzettel“ aufmerksam zu lesen.

She Called Me Woman ist das Ergebnis einer umfangreichen Arbeit, die quasi an eine sozialwissenschaftliche Studie grenzt. Es wurden zahlreichen Interviews mit Queer-Frauen aus und in Nigeria geführt, die zwischen 20 und 42 Jahre alt waren. Zwanzig von diesen Interviews wurden in den Sammelband aufgenommen. Die Aufbereitung des Materials wurde minimal gehalten, um Authentizität zu bewahren. Die Erzählungen wurden anonymisiert.

Es ist ein politisch motiviertes Werk. Es geht darum die Situation der Queer-Communities in Afrika am Beispiel Nigeria‘s durch die autobiographischen Geschichten zu vermitteln und den queeren Menschen eine moralische Unterstützung zu geben. In einigen Erzählungen handelt sich auch um Auswanderer in die westliche Welt, bzw. deren Kinder, die sich aber trotzdem dem Einfluss der kulturellen Wurzeln nicht vollkommen entziehen können, wie in dem Beitrag „Focusing On Joy“ einer US-Amerikanerin mit nigerianischen Wurzeln. Diese Betrachtungsperspektiven bieten die Möglichkeit eines zusätzlichen Vergleichs der Situation in unterschiedlichen geographischen und vor allen sozial-politischen Strukturen.

Einzelne Kurzgeschichten sind als autobiographische Monologe aufgebaut und meistens chronologisch, ähnlich der Antwort auf die Frage „Wie war dein Leben bis jetzt als Queer? Erzähl mal!“. Es ist eine Erzählung unter Freunden, entspannt, ohne Hektik, ohne einen aufgebauten Spannungsbogen, so trivial und banal, wie das Leben manchmal ist, aber auch mit ergreifenden Momenten, die manchmal distanziert und ohne Dramatisierung erzählt werden und trotzdem, oder vielleicht deswegen, zur Gänsehaut beim Leser führen. Einige Frauen werden emotionaler, drücken ihre Empörung, Angst oder Traurigkeit offen aus und anscheinend schaffen die Interviewenden es diese Emotionalität zu Papier zu bringen zu können.

Inhaltlich hält sich das Thema „Queerness“ in Grenzen und wird nicht zum Selbstziel der Geschichten. Die Beziehungsdramen oder Kindheitserinnerungen sind trotz spezifischer Aspekte meist nicht von Lebenssituationen Heterosexueller zu unterscheiden. Das ist vermutlich einer der „Geheimwaffen“ des Sammelbands – ein Schleichangriff auf die Normen der Gesellschaft. Die Queer-Frauen werden der Gesellschaft nicht entgegen gesetzt, nicht marginalisiert, sondern als Teil der „normalen“ Gesellschaft dargestellt. Genau darauf beruht die Empörung der Queer-Community, wenn deren Mitglieder als Außenseiter, als Werk Satans oder als psychisch krank bezeichnet werden, obwohl die sexuellen Vorlieben einiger „Heteros“ deutlich weiter in ihrer Abweichung von den Normen gehen.

Die deklarierten Ziele des Sammelbandes scheinen erreichbar zu sein. Das Zielpublikum aus der Queer-Community wird sein Gefallen am Buch finden und eine moralische Unterstützung in schwierigen Zeiten oder Regionen finden. Andere Leser, die nicht in der Materie stecken, erfahren nicht zu viel Neues. Vielmehr ist das eine quasi dokumentarische Bestätigung, dass die Welt nicht untergehen wird, wenn ein paar Gay-Paraden mehr stattfinden oder wenn das eigene Kind sich als queer entpuppt.

Schmerzvolle Hoffnung

„It’s un-Nigerian.“

(S.1, Introduction)

Mit diesen Worten führt der biografische Band She Called me Woman (hg. von Azeenarh Mohammed, Chitra Nagarajan und Rafeeat Aliyu) Leser*innen in die Lebenswelten queerer Frauen* in Nigeria ein. Frauen* im Alter von 20-42 Jahren, deren Namen nur als Initialen und Herkunftsorte oder nur als freies Feld in ihren* Geschichten erscheinen. Ein weiteres Detail, welches auch nach der starken und berührenden, jedoch nicht verharmlosenden Einleitung, deutlich macht, wie wenig frei und sicher die Leben von queeren Frauen* in Nigeria sind. Die Berichtenden* kommen aus verschiedenen Regionen des Landes und haben nicht selten für ihre* eigene Freiheit Orte verlassen müssen. Zum einen aufgrund von religiösen und kulturellen Einstellungen in Gesellschaft und Familie, wie aus OFs Geschichte hervorgeht “I also do not believe God is going to smite me for loving.“(S.56, Love is not Wrong). Zum anderen aufgrund politischer und rechtlicher Strukturen. In den verschiedenen Teilen Nigerias herrschen unterschiedliche Gesetze und Strafen für Homosexualität, diese reichen von mehreren Jahren Haft bis hin zum Steinigen durch die Scharia. Viele Frauen berichten von Angst vor Strafen und, dass dies Grund für ihr verstecktes Leben sei oder auch die Flucht. Im Kontrast wird trotz allem viel von der Unterstützung durch Freund*innen gesprochen, sowie das Aufbauen eines Sicherheitsnetzes, sei es in der LGBTQ+-Gemeinschaft oder in Form eines selbst gewählten Kreises.

Das Heranwachsen als junge queere Frau*, in Nigeria, ist geprägt von der langsamen Erkenntnis nicht anerkannt zu sein. Darüber hinaus davon, sehr früh ein Bewusstsein für politische und gesellschaftliche Strukturen zu entwickeln, um ein selbstbestimmtes und so weit wie möglich freies Leben führen zu können.

Hinweise wie „Content Note: Intercommunal Violence, Physical Violence“, in TQs Bericht (S.39, I Pray That Everyone Has Forgotten), machen sehr bewusst auf die Tragweite von den bereits genannten Strukturen aufmerksam. So sind die Frauen* nicht nur von gesellschaftlichem Ausschluss und Strafen bedroht, sondern auch in allen Lebensbereichen von Gewalt. I Pray That Everyone Has Forgotten erzählt, so wie viele andere Texte auch, aus einer sehr privaten Perspektive. Teilt Erfahrungen von Verlust, einem zwiegespaltenen Herzen, Hoffnungen und Träumen für eine Zukunft in Nigeria, wie auch Zeugnisse des Muts und der Kraft, sich nicht brechen zu lassen.

She Called Me Woman sind die kostbaren und mutmachenden, wie auch schonungslosen Worte von Überlebenskünstler*innen, welche kein Mitleid fordern, sondern ihr* Recht zu sein. Dieser Band ist bildend, politisch und aktuell. Gemacht für jede Person, jedes Alter und jeden Wissenstand. Das Buch erwartet nicht, dass sich Leser*innen schon informiert haben. Es bietet mit seiner Einführung und Sammlung eine erste Grundlage, Denkanstöße und Raum sich auf die vielfältigen Themen des Bandes einzulassen. Wer gewillt ist, kann durch dieses Werk den eigenen Horizont bereichern, sei es zu Nigeria oder queerem Erleben. Da jede Person ihre Geschichte in einem eigenem, für einen Lebensweg, fast viel zu kurzem Kapitel erzählt, ist dieser Band auch die perfekte Lektüre für jede Gelegenheit. Ob für unterwegs oder ein Paar Seiten auf der Couch. Nach Lesen der Einleitung können Kapitel auch bei wenig Zeit unabhängig voneinander gelesen werden.

Abschließend kann gesagt werden, dass die Erzählerinnen* trotz der schweren Erfahrungen optimistisch und unerschrocken in die Zukunft blicken. Sie teilen mit der Welt ihre schmerzvolle Hoffnung auf ein freies und gleichberechtigtes Leben und Lieben.

Der Mut der afrikanischen „Queer“ Frau

Queer ein heutzutage aktueller Begriff. Einige Menschen auf der Welt bezeichnen sich als genderqueer. Sie ordnen sich keiner geschlechtlichen Rolle zu. Sie sind das „dritte Geschlecht“ der nicht-binären Geschlechtsidentität. Das Geschlecht wird bei ihnen nicht nur in männlich und weiblich, Sexualität nicht nur in hetero und homo eingeteilt, sondern sie sehen eine riesige Fülle an Geschlechtern und sexuellen Identitäten (LGBTQ). LGBTQ-Personen haben es nicht leicht und kämpfen noch bis heute für ihre Anerkennung und Rechte. Die LGBTQ Rechtsgrundlage ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. In Deutschland, beispielsweise, hat die Bundesregierung, seit Sommer 2017, den Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus beschlossen und lehnt Feindlichkeiten gegen Queer“-Menschen ab. Seit 2001 gibt es in Deutschland die eingetragene Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Ein Fortschritt, der Deutschland stolz machen kann. Südafrika hat die gleichgeschlechtliche Ehe sogar schon 1994 erlaubt. Leider schaut es mit den Rechten für LGBTQ-Personen nicht überall in Afrika so sonnig aus.

In dem hier besprochenen Buch, She Called Me Woman: Nigeria’s Queer Women Speak“, herausgebracht von drei nigerianischen Autoren namens Azeenarh Mohammed, Chitra Nagarajan, und Rafeeat Aliyu, die sich für die Rechte von Frauen einsetzen und mit dem Buch ein Statement setzen wollen. Die drei Herausgeberinnen setzen sich für die Legalisierung der Rechte von Queer People ein und geben uns mit dem Buch einen Einblick in das alltägliche Leben afrikanischer Queer-Frauen. Die Erzählungen sind zusammengefasste Interviews von 25 betroffenen Frauen, im Alter von 20 bis 42 Jahren, aus Nigeria. Sie berichten über ihre Erfahrungen und erzählen uns über die Probleme, mit denen sie als queere Personen konfrontiert sind. Die Namen der Interviewten (oder: der Erzählerinnen) wurden aus Sicherheitsgründen geändert.

Als deutsche Leserin wird man schnell feststellen, dass die politische Lage in Afrika gegenüber LGBTQ-Menschen gewiss kritisch und problematisch ist. Eine Akzeptanz ist zwar vorhanden, dennoch werden sie immer noch aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Homophobie und Heterosexismus ist in den afrikanischen Staaten noch weit verbreitet. Die Legalität von Queer“ Menschen ist gering ausgeprägt im Kontinent. In den meisten Staaten Afrikas, gelten homosexuelle Handlungen als Straftat, als illegal. Äußert man sich über sein „drittes“ Geschlecht kommt es zu starken Konsequenzen. Angefangen mit Bußgeldern bis hin zur Todesstrafe (Bsp.: Liberia, Nigeria). Nicht nur der Staat ist dagegen, auch die eigene Familie zeigt kein Verständnis. The biggest problem my sexuality has caused me is with my family. Family.Family.Family. My brother is very homophobic.In ‚What I Have Been Missing‘ erfahren wir über IX unbeschwerte Kindheit in Kaduna, Nigeria, dank ihrer Eltern. Sie sieht die öffentliche Abneigung gegen ihre Sexualität und versteht, dass die Beziehung zwischen ihrer Familie und ihr, nie mehr so sein wird wie sie es mal war.

Nigeria ist ein sehr religiöses Land. 50% der Bevölkerung sind Muslime und 45% Christen. Die strenge Religion im Land bereitet den QueerMenschen das größte Problem. Sie werden von der Gesellschaft nicht akzeptiert. In ‚I Pray That Everyone Has Forgotten“ redet TQ über ihre Sorge, von ihrer sehr streng christlich gläubigen, Familie ausgestoßen zu werden. Die Familie ist, für alle erzählenden Frauen in diesem Buch, das Wichtigste und sie wollen diese nicht verlieren. QM beschreibt „I Only Admire Girls“, wie sie wegen ihrer sexuellen Orientierung ihre Familie verloren hat. Sie ist eine Schande für die Familie geworden. Der Hass auf „Queer“ Leute ist groß im muslimischen Zamfara. Ein anderes Leben zu leben ist tabu. Die Frauen haben dort nichts zu sagen. Sie müssen heiraten und eine Familie gründen.If you go to school, they will say your parents are not good people. You have to get married, because that is where your life ends.“ Erschreckende Aussagen, die das Leben dieser Frauen nicht einfacher machen.

Viele der „nicht-binären“ Frauen sind religiös, bezeichnen sich aber als spirituell. Sie glauben nicht daran, dass Liebe zu einem gleichgeschlechtlichen Menschen eine Sünde ist. O.F. in ‚Love Is Not Wrong‘, plädiert für eine grenzenlose Liebe die nicht von der Religion abhängig ist: I believe in God but not religion.. Die religiöse Bevölkerung demonstriert jedoch homophobes Verhalten gegenüber der genderqueer“ Gesellschaft. Sie reden schlecht hinter dem Rücken und verbreiten Gerüchte. Es werden so schlimme Dinge gesagt, dass wenn man zuhören würde, die Kraft nicht mehr reichen würde alles zu ertragen: They see it as something demonic, something devilish.

I don´t have any business with whatever they say. If I listened to them, i wouldnt´t be alive..

Eine Aussage von der selbstbewussten L.N. in ‚I Am Proud To Be A Lesbian‘, einer der jüngsten Queer“ Frauen, mit 22 Jahren, in diesem Buch.

Es ist interessant zu sehen wie die Frauen ihre sexuellen Interessen entdeckt haben und damit umgegangen sind. Manche waren sich schon früh sicher und manche haben es erst nach langjährigen Versuchen, der Norm zu entsprechen herausgefunden. Religion und Familie stellt für jede ein großes Problem dar. Man sieht, dass die ein oder andere furchtloser mit der Situation umgeht und versucht das Beste aus ihrem Leben zu machen (s. LN, I Am Proud To Be A Lesbian).

Anderen wiederum ist die Akzeptanz von Leuten sehr wichtig. Ohne diese, kann sie, kein normales Leben führen. QM, aus Zamfara versteckt sich bis heute. Es ist offensichtlich, dass viel auf dem Spiel steht, wenn man sich über seine „nicht-binäre“ Geschlechtsidentität äußert. Man könnte die Familie, die Freunde und die Arbeit verlieren. Sogar das Ansehen und den Respekt der Bevölkerung. All diese echten Erzählungen zeigen den Mut jeder einzelnen „Queer“ Frau. Ich bin beeindruckt, wie sie trotz der ganzen Erschwernisse und dem Hass von außen, sich selbst treu bleiben. Keine der Frauen hat sich ergeben und sich an die Gesellschaft angepasst. Sie leben ihr Leben weiter, in der Hoffnung, dass sich etwas ändert. Natürlich ist es traurig zu lesen, dass sich eine Frau verstecken muss um nicht gesteinigt zu werden für ihre ‚Sünde‘ (‚I Only Admire Girls‘). Denn, auch L.N., die einfach ihr Leben als Queer“ weiterlebt, muss über ihre sexuelle Orientierung in der Öffentlichkeit schweigen und darf diese nicht „hundertprozentig“ ausleben.

Dieses Buch ist einfach geschrieben und leicht zu lesen. Es gibt uns, trotz dunkler Einblicke in die Realität dieser jungen Frauen, auch unterhaltsame Wendungen mit. Alle Frauen kommen sympathisch rüber und als Lesender habe ich den Eindruck ein ‚Tagebuch‘ lesen zu dürfen, da die Texte formlos und voller Gefühl geschrieben sind. Mir persönlich gefällt dieser leichte Schreibstil, wobei ich sagen muss, dass mir bei der einen oder anderen Geschichte der rote Faden gefehlt hat und die Erzählung ziemlich durcheinander schien. Alles in allem möchte ich dieses Buch weiterempfehlen. Es trägt viel Herz und Mut in sich und ist ideal geeignet um einen ersten Einblick in das LGBTQ Leben nigerianischer nicht-binär Frauen zu erlangen. Den europäischen Lesern lege ich das Buch auch ans Herz. Besonders für die Lesenden unter uns die sich mit den LGBTQ Thema auseinandersetzen, ist dieses Werk ein Muss. Auf der ganzen Welt gibt es QueerMenschen. Aber nicht überall wird das akzeptiert. Ein gefühlvolles und echtes Buch.

Gendervielfalt als globales Thema

Über international aktive NGOs wie Amnesty International und Mainstream-Medien wurde mir bisher vermittelt, dass gleichgeschlechtliche Paare in Ländern Afrikas geächtet und verfolgt werden. Ein facettenreiches Bild nicht straighter Frauen in Nigeria, das die verzerrten Blicke aus dem globalen Norden innehalten lässt und seinen Gegenübern auf Augenhöhe begegnet, zeichnen Azeenarh Mohammed, Chitra Nogarahjan und Rafeeat Aliyu in ihrer Zusammenstellung von Interviews mit dem Titel „She called me woman“. In diesem Buch legen Frauen aus verschiedensten Regionen Nigerias Zeugnis ab über ihr Leben als Frauen, die Frauen lieben und das jenseits von Klischees.

Die Themen des Buches berühren, erscheinen authentisch, sind „allzu menschlich“. Doch vor dem Hintergrund, dass Rollenverständnisse und Zuschreibungen viel mehr besprochen, durchbrochen, diskutiert und ausgelotet werden sollten als es aktuell (überall) der Fall ist, macht dieses Buch Mut, ist ein Wegbereiter und ein Zeichen von Empowerment. Es zeigt am Beispiel von Nigeria auf, was (queere) Frauen (weltweit) verbindet, im Schatten von Intersektionalität, aber ohne dies in den Vordergrund zu stellen.

Kaduna, Zamfara und weitere nehmen kein Blatt vor den Mund, manövrieren sich nicht in die Opferrolle, das macht das Buch angenehm zu lesen und lässt die Frauen wie die eigene beste Freundin, Nachbarin oder Klassenkameradin erscheinen, trotz der teils widrigen Erlebnisse der einen oder anderen Protagonistin. Die Themen reichen von sexueller und häuslicher Gewalt über Missbrauch, Rassismus, Zwangsehe bis zum Ausschluss aus der Familie, dominieren aber nicht in den Texten der Frauen.

Indem Bericht „This is what I have been missing“ von IX aus Kaduna erfahren wir, dass sie nicht von Anfang an wusste, dass sie Frauen liebt. Wiederkehrend ist die Familienthematik, dass befürchtet wird, die Konsequenzen eines Outings würden durch die direkte Familie nicht getragen, obwohl Freunde und Cousins und Cousinen es doch eher gelassen sehen. Unbegründet ist diese Angst nicht. So ist für TQ aus Gombe/Plateau, 27 Jahre alt, eine Welt zusammengebrochen, als sie mit ihrer Freundin von ihrem Onkel entdeckt wurde und jeweils die Familien in Kenntnis gesetzt wurden. TQs Freundin wurde geschlagen und erwägt nun einen Mann zu heiraten, um dem Druck zu entgehen. Das trifft TQ sehr, vor allem, weil sie sie im Stich gelassen hat. Dabei würde sie so gern diese Beziehungen weiterführen und eine Familie gründen – eine Scheinehe, eine Beziehung zu einem Mann, kommt für sie nicht in Frage.

OW, 25 aus Ondo wurde von ihrem Onkel als Kind sexuell missbraucht, hat stark religiöse Eltern und spricht trotz allem unverblümt über ihre sexuellen Vorlieben. Durch die Strenge ihrer Eltern, weil diese über Umwege von ihrer sexuellen Orientierung erfahren haben, musste sie sogar ihre Arbeitsstelle aufgeben. Auch OW glaubt an Gott, findet aber den Zugang eher über Spiritualität als über eine Kirche, die gegen Homosexualität wettert. An keiner Stelle hat OWs Bericht etwas Leidendes, sie spricht aus Überzeugung, will sich über ihre Sexualität nicht definieren, lehnt stereotype Rollenverteilungen ab: „My Sexuality is Just the Icing on the Cake“.

Die politische Lage in Nigeria für gleichgeschlechtliche Paare ist denkbar ungünstig. Durch das föderale System ist die Rechtsprechung von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden. Im Norden des Landes wird die Scharia angewandt, was für homosexuelle Männer die Todesstrafe bedeuten kann, wohingegen Beziehungen zwischen Frauen legal sind. Durch den „Same-Sex Marriage Prohibition Act“ von 2014 werden aber jegliche Handlungen kriminalisiert und eine offizielle gleichgeschlechtliche Partnerschaft unmöglich. Kein Land auf dem Kontinent, außer Südafrika, erlaubt gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Das erstaunt, da es in vorkolonialen Zeiten keine Gesetze gegen nicht binäre Beziehungen gab.

Die Herausgeberinnen bedauern, dass sie, obwohl es ihnen gelungen ist regional ganz Nigeria widerzuspiegeln, hauptsächlich nur Frauen zwischen 20 und 30 Jahren interviewen konnten. Gern hätten sie auch ältere Frauen befragt um einen umfangreicheren Eindruck von Queerness in Nigeria auch zeitlich widerzugeben. Obwohl es schon immer eine Vielfalt in der Sexualität gegeben hat, wurde diese nicht unbedingt sichtbar. Nur weil etwas nicht sichtbar ist, bedeutet das nicht, dass etwas nicht existiert. Dieses Buch leistet einen bedeutenden Beitrag dazu, Frauen, die sich nicht im rigiden binären System der Heterosexualität sehen, eine Stimme zu geben und erfahrbar zu machen, was das in unser aller imperialistischen, (post)kolonialen, sexistischen Welt immer noch für Folgen hat.

Queeres Leben in Nigeria, ein Leben unter Repressionen

Die Sammlung She Called Me Woman: Nigeria’s Queer Women speak, herausgegeben von Azeenarh Mohammed, Chitra Nagarajan und Rafeeat Aliyu im Jahr 2018, umfasst autobiografische Geschichten von Frauen zwischen 20 und 42 aus unterschiedlichen Regionen Nigerias mit diversen Bildungshintergründen sowie religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten. Gemeinsam ist all diesen Frauen ihre queere Identität, es werden die Erlebnisse von Frauen mit nicht-heterosexuellen sexuellen Orientierungen und Ausdrucksarten sowie unterschiedlichen geschlechtlichen Identitäten porträtiert.

Die mutige Veröffentlichung trifft auf einen aktuellen Diskurs in der nigerianischen Gesellschaft: In Nigeria wurde Homosexualität 2014 nach einer vorherigen Abkehr von den kolonialen Gesetzen rekriminalisiert. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist verboten, die Strafe für homosexuelle Aktivitäten und Treffen unter Homosexuellen in Nigeria liegt in einigen Landesteilen bei einer Gefängnisstrafe von 14 Jahren, in den Landesteilen im Norden des Landes, in denen die Schari‘a angewendet wird, kann sogar die Todesstrafe durch Steinigung verhängt werden. LGBT-Organisationen arbeiten im Geheimen und Homosexualität erfährt in der breiten Bevölkerung weiterhin starke Ablehnung. Auf der anderen Seite gibt es geschätzt mehr queere Personen in Nigeria als Einwohner*innen in Lagos und Homosexualität ist – wie überall – schon immer Teil der nigerianischen Geschichte, Kultur und Tradition gewesen.

Bewusst legen die Herausgeberinnen den Fokus in ihrem Sammelband auf lesbische oder transsexuelle Frauen – eine noch unsichtbarere Gruppe innerhalb der queeren Community. Sie geben diesen wortwörtlich eine Stimme, sodass nicht mehr nur über sie gesprochen wird. Es wurden Frauen aus verschiedenen Landesteilen interviewt, die Audiodateien wurden transkribiert, zum Schutz der Erzähler*innen anonymisiert und unkorrigiert als Sammlung von Erzähler*innenstimmen wiedergegeben. Die Protagonist*innen haben ihre sexuelle Identität in verschiedenen Altersstufen und auf unterschiedliche Arten erfahren und entdeckt, einige kannten die Kategorie „gay“ für ihre Empfindungen nicht und „verstanden“ sich selbst so erst in ihren späten Zwanzigern. Einige Themen tauchen dabei bei allen auf: ein „Problem“ mit ihrer Sexualität beschreibt keine der Protagonist*innen, die meisten erfahren auch große Unterstützung durch Freund*innen außerhalb der Familie. Es ist die abweisende und kriminalisierende Reaktion der Familie, der Gesellschaft, der Politik und der Religion die es ihnen schwermacht und sie ihre Liebe im Geheimen ausleben lässt – „Love is not wrong“, so ist etwa ein Kurztext betitelt.

Die Lebensrealitäten der Erzähler*innen und damit auch die Risiken, die ihre Sexualität mit sich bringt, unterscheiden sich dabei massiv: Im Kurztext „I only admire girls” erzählt eine 20-jährigen junge Frau aus der Volksgruppe der Hausa von ihrer Kindheit und Jugend. Sie war schon als Kind körperlicher Gewalt durch den Vater und sexuellen Übergriffen durch Männer ausgesetzt. Nachdem bekannt wird, dass sie sich als Junge fühlt und nicht heiraten möchte, wird sie – wie es das normale Schicksal eines Mädchens in ihrer Gegend ist – mit 14 Jahren an einen ihr vorher unbekannten Mann verheiratet. In der Ehe erfährt sie Gewalt, wird eingesperrt und flieht schließlich. Heute lebt sie mit anderen Frauen mit ähnlicher Erfahrung an einem sicheren Ort, ohne Kontakt zu ihrer Familie.

In „My sexuality is just the icing on the cake” erzählt eine 25-jährige aus Ondo im Südwesten Nigerias, Tochter eines Pastors und einer Evangelistin, ihre Lebensgeschichte. Sie berichtet von vielen glücklichen Kindheitserinnerungen, aber auch von dem seitens ihrer Familie geleugneten sexuellen Missbrauch durch ihren Onkel. Schon früh weiß sie, dass sie lesbisch ist und berichtet der Leserschaft von ihren verschiedenen Beziehungserfahrungen. Als ihre Familie später zufällig von ihrem Geheimnis erfährt, muss sie für acht Monate zuhause bleiben. Berührend ist es, wie die gebildete junge Frau die Konzeptualisierung von Gender-Rollen reflektiert. Sie lehnt die Aufteilung in „männliche und weibliche Rolle“ in einer lesbischen Beziehung ab, dies brächte das ganze heterosexuelle Konzept in eine homosexuelle Beziehung. „I like to be free of gender…I tell people that my sexuality is just the icing on the cake…My sexuality doesn´t define who I am.”

Die Qualität der Texte ist dabei abhängig vom unterschiedlichen Bildungshintergrund der Protagonist*innen, was sich in der Wahl und Differenziertheit der Sprache erkennbar macht. Eine sehr starke Erzählerinnenstimme wird etwa im essayistisch geschriebenen Kurztext „Focusing on Joy“ laut. Die 29-jährige Erzählerin, Tochter eines nigerianischen Vaters in Chicago, USA geboren, schreibt Kurzgeschichten seit ihrer Kindheit. Die Pubertät wird für sie aus doppeltem Grunde zu einem verstörenden Moment: vorher war in ihrer aufgeklärten Familie ihr Leben als „tomboy“ nie thematisiert worden, nun reagiert die Außenwelt nicht nur auf ihre neue Weiblichkeit, sondern ihr wird auch der weitverbreitete Rassismus gegenüber schwarzen Frauen in den USA entgegengebracht. Ihr Coming-Out-Prozess als bisexuelle Frau ist ein langer Prozess, an dem sie die Leserschaft teilhaben lässt. Insgesamt sind es aber weniger die Fragen der sexuellen Identität als ihre allgemeine Identitätsfindung -als schwarze, Nigerianisch-Jamaikanische Frau – die sie beschäftigen.

Der Sammelband erzählt in erster Linie die Lebens- und Diskriminierungserfahrungen von queeren Menschen in der stark patriarchal aufgebauten und homophoben Gesellschaft Nigerias. Der Band kann aber auch anders gelesen werden; etwa als Sammlung von Coming-of-Age-Geschichten, in der erste Beziehungserfahrungen von Jugendlichen porträtiert werden. Oder als Kaleidoskop verschiedener Perspektiven, Religionen und Völker innerhalb Nigerias und damit als zeitgenössisches Zeugnis des Nord-Süd-Unterschiedes in Nigeria. Der Sammelband ist zwar hauptsächlich adressiert an die allgemeine Bevölkerung Nigerias und an die queere Community im Speziellen, er ist aber auch interessant für internationale Leser*innen, die am Thema Gender interessiert sind und auch für solche, die eine gute Einführungsliteratur zu Nigeria suchen.

Dabei muss der interessierten Leserschaft bewusst sein, dass es sich weder um ein literarisches Buch noch um ein Sachbuch zum Thema handelt, sondern um eine Zusammenstellung transkribierter, nicht korrigierter Audiodateien. Eine akademische Diskussion zu Queerness würde dabei zu dem persönlichen Stil des Buches sicherlich nicht passen, eine fundiertere fachliche Einführung zum politischen Hintergrund, zu Homosexualität in Nigeria oder den Konzepten von LGBT hätte den Einzelerzählungen aber einen stimmigeren Rahmen gegeben. Zudem hätte eine textliche Überarbeitung im Stile des Erzählten der Lesbarkeit mancher Kurztexte genützt. Trotzdem bleibt She called me woman für die am Thema interessierte Leserschaft ein politisch und gesellschaftlich wichtiges und vielfach berührendes Buch.