Außergewöhnlich, fast schon unglaublich ist das Werk, welches Bernadine Evaristo mit ihrem fiktiven Gesellschafts-Roman Girl, Woman, Other geschaffen hat. 12 starke und inspirierende Stimmen von Frauen*, die ihren Weg noch suchen, finden und immer hinterfragen, erzählen ihre Geschichte. Wobei sie sich nicht nur auf die guten Seiten beschränken und Leser*innen grundsätzlich das eine oder anderen Mal vor den Kopf stoßen.
„she saw their future and hers, as baby-mothers pushing prams
pushing fatherless timebombs
forever scrambling down the side of sofas for change to feed the meter, like Mum (…)
not me, not me, not me, she told herself, I shall fly above and beyond” (S.128, Carol in Girl, Woman, Other)
Evaristo ist eine britisch-nigerianische Schriftstellerin und Professorin, welche sich thematisch von ihrem Interesse für die afrikanische Diaspora inspirieren lässt. Ihr Roman Girl, Woman, Other wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Das Werk beeindruckt durch seine nicht zu enden scheinende Vielfalt von Geschichten, die den unterschiedlichsten Lebenswegen und –entwürfen als (queere) Frauen* of Colour folgen. Sie alle leben in Großbritannien und sind Teil der Diaspora. Es sind Geschichten aus den verschiedensten Teilen der Gesellschaft, mit individuellen Perspektiven und Möglichkeiten, doch was sie verbindet, sie leben alle im gleichen System und sehen sich mit den täglichen Kämpfen um ihre Stimmen und Gleichberechtigung konfrontiert. Sie geben nicht auf, machen weiter und finden oder suchen den Weg der ihr persönliches Glück bedeutet, trotz aller Ungerechtigkeiten und traumatischen Erfahrungen. Es ist ein ehrlicher Roman, denn die Charaktere die Evaristo geschaffen hat, sind keinesfalls perfekt, sie haben ihre Fehler, stoßen Leser*innen mit ihren Ansichten, Gedanken, Entscheidungen und sogar Handlungen vor den Kopf. Nicht alle sind sie so tolerant und reflektiert, wie man es sich wünschen würde. Sie brechen mit den Strukturen, die die Gesellschaft als Norm vorgibt und lassen Leser*innen schonungslos daran teilhaben.
Selbst an biografischem und historischem Kontext fehlt es nicht, durch Rückblenden und dem Einbinden mehrerer Familienmitglieder oder Freund*innen, von bereits vorgestellten Figuren, in ihre Auswahl an Charakteren, verliert sich das Lesepublikum nicht im 500 Seiten langen Werk. Die Autorin beschreibt gekonnt die Diversität, welche im Leben von Beziehungen möglich ist, wie auch deren Entwicklung, Auflösung und Erleben.
Trotz der vielen Charaktere ist es doch erstaunlich einfach den Überblick zu behalten, neue Abschnitte im Buch werden mit den Namen der Frauen* begonnen, aus deren Perspektive erzählt wird. Das zurückgehen dieser in ihren Erinnerungen und die regelmäßigen Rückblicke, die die Autorin einbaut, dienen teils dazu in der Geschichte ihres Landes oder Biographie zurückzugehen. Sie bewirken zudem, dass man die Beweggründe der Frauen, die sie zu Entscheidungen und Handlungen veranlasst haben, am Ende ihres Abschnitts nachvollziehen kann. Darüber hinaus werden auch die persönlichen Privilegien jeder einzelnen der Frauen* beleuchtet, wie sie mit diesen umgehen und sich in der Gesellschaft bewegen. Denn alle Charaktere unabhängig welchen Alters, teilen, dass sie spätestens außerhalb ihres persönlichen Umfeldes mit Rassismus und verschiedensten Formen von Diskriminierung zu kämpfen haben, sich behaupten müssen.
Die individuelle gefundene oder auch auferlegte Identität der Frauen* ist der rote Faden, durch den sich alle Geschichten immer wieder miteinander in Verbindung bringen lassen. Männer* erscheinen im Roman Girl, Woman, Other ebenfalls, sie sind Partner, Familie, Freunde und je nach Roman-Figur mal mehr, mal weniger präsent. Die Beziehungen zu ihnen sind so vielfältig, wie die Hauptcharaktere selber.
Es gibt zum Beispiel Amma eine Mutter, die ihr Leben in der Welt des Theaters beschreibt und auf ihre Jugend und Kindheit zurückblickend ihre Teenager-Tochter Yazz betrachtet. Amma und Yazz sind zwei starke, selbstbewusste Frauen, die wissen, was sie wollen. Die eine früher als die Andere. Yazz wächst mit ihrer, sich in einer lesbischen polyamourösen-Beziehung, befindenden Mutter auf, während ihr Vater ein wohlhabender homosexueller Freund dieser ist. So prägen die Tochter mit dem Tag ihrer Geburt, die Fragen nach Privileg, Identität und Politisierung.
Dies ist nur ein kleiner oberflächlicher und beispielhafter Einblick in das komplexe Leben von Amma und Yazz, sowie in die unerschöpfliche mögliche Diversität der Beziehungen und Einflüsse, die die Charaktere im Roman prägen. Dies macht es umso wichtiger, trotz der Aufteilung in klare personenbezogene Abschnitte, diese nicht abweichend von der vorgegebenen Reihenfolge zu lesen. Dadurch würden die geschickt gesponnenen Verflechtungen der einzelnen Leben, welche teils nur durch einen Nebensatz ins Bild treten, verloren gehen. Personen aus den Kreisen in denen sich Amma und Yazz bewegen finden sich beispielsweise im späteren Verlauf des Romans als Haupt- oder Nebencharaktere wieder und bilden aus vielen kleinen eine zusammenhängende Generationen und Grenzen überschreitende Geschichte.
Evaristo ist mutig, denn dieses Buch scheint nicht geschrieben worden zu sein, um gemocht zu werden, es füllt selbstbewusst eine Lücke in der afrikanischen (diasporischen) Literatur. Queerness, Frau*-Sein, geschichtlich-britisch-diasporische, geschichtlich-britisch- koloniale, individuell biographische Elemente, sowie Strukturen von Rassismus und Diskriminierung in einem einzigen Werk, welches nicht die Absicht hat anzuprangern, sondern zu erzählen und Leser*innen erleben und nachfühlen zu lassen, ist eine außergewöhnlich neue Art der Literatur. Eine Bereicherung für jedes Bücherregal und so komplex, dass es sich lohnt es mehrere Male und mit Zeit zu lesen. Es werden globale Themen diskutiert und reflektiert, so intensiv, dass es unangenehm werden kann, wenn man nicht offen dafür ist. Jedoch umso mehr lernt, weint und lacht, wenn man die teilweise fast schon in Versform geschriebenen Worte auf sich wirken lässt, zulässt, dass sie die eigene Sicht auf die Welt verändern.
Girl, Woman, Other ist ein Roman voller Schwere und Schmerz, der Leser*innen trotzdem mit dem Gefühl von Zuversicht zurücklässt.