Der 1960 in Angola geborene Autor José Eduardo Agualusa hätte dieses Jahr Headliner auf dem African Book Festival in Berlin sein sollen – das Festival wurde wegen der Corona-Pandemie abgesagt. 2019 ist auf Deutsch sein neuer Roman Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer erschienen. Die Erschließung des Romans ist eine Aufgabe, die sich gar nicht so leicht gestaltet; der poetisch-politische Roman erfordert durchaus Konzentration beim Lesen. Obwohl Agalusa als bekanntester Schriftsteller Angolas gilt wurden bisher erst fünf Bücher ins Deutsche übersetzt, was daran liegen mag, dass der in Portugal, Angola und Brasilien lebende Autor fest in seiner Mutter- und Literatursprache Portugiesisch beheimatet ist.
Der Roman rankt sich um verschiedene Kerngeschichten: beim eigentlichen Ich-Erzähler, der alle anderen Figuren miteinander verbindet, handelt es sich um den soeben geschiedenen Journalisten Daniel Benchimol aus Huambo in Angola. Sein in die Machenschaften der Regierung verwickelter Schwiegervater mochte seine regimekritischen Schriften nicht und so wird man direkt eingeführt in das Thema des Romans: die unverarbeitete jüngste Vergangenheit des südwestafrikanischen Staates, der zwar 1975 nach der Nelkenrevolution in Portugal Unabhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht erlangte, dann aber bis 2002 in blutige Bürgerkriege zwischen verschiedenen Befreiungsbewegungen versank. Der Präsident José Eduardo dos Santos regierte von 1979 bis 2017 totalitär, bis er sich schließlich nicht mehr zur Wiederwahl aufstellen ließ. Der politische Hintergrund wird in dem 2015 spielenden Gegenwartsroman direkt und indirekt verarbeitet: der Präsident bleibt zwar namenlos, der Roman ist aber einer realen Gruppe Jugendlicher um den Rapper Luaty Beirão gewidmet, denen die Vorbereitung eines Staatsstreiches zur Last gelegt wurde.
Diese starke Stimme der Jugend übernimmt im Roman Benchimols Tochter Lúcia/ Karinguiri. Sie wächst nach der Scheidung in Portugal im Wohlstand auf, kehrt jedoch als Jugendliche nach Angola zurück und tritt in die Fußstapfen ihres Vaters – auf eine radikalere und weniger versponnene Art und Weise. Nachdem sie mit einer Gruppe Videos gegen die Diktatur ins Netz gestellt und den Präsidentenpalast gestürmt hatte, werden alle rebellierenden jungen Menschen festgenommen. Karinguiri bleibt jedoch – als echte Wiederstandkämpferin gezeichnet – selbst im Gefängnis mutig und konsequent im Glauben an eine neue, nicht korrupte und totalitäre Regierung und begibt sich schließlich mit ihren Mitstreiter*innen in einen lebensbedrohlichen Hungerstreik. Dieser spannendste Erzählstrang löst sich erst auf den letzten Seiten des Romans auf.
Daniel Benchimol selbst fährt regelmäßig in ein Hotel am Meer, der Hotelier Hossi ist sein Freund. In Hossi´s Hotel findet Benchimol am Strand eine Kamera – und folgt der Frau auf dem Film, der in Südafrika lebenden Künstlerin Moira Fernandes, in die er sich verliebt. Erst mit der Zeit erfährt die Leserschaft, dass Hossi Ex-Guerillakämpfer der UNITA (Nationalen Union für die Völlige Unabhängigkeit Angolas) ist und einst grausame Foltermethoden anwendete. Die allumfassende Grausamkeit des Krieges, auch innerhalb der Befreiungsbewegungen, sowie die Traumata der Vergangenheit, die Amnesien hervorrufen und in die Gegenwart hineinwirken, wird durch die Figur des Hossi anschaulich porträtiert.
Reale und politisch-historische Erlebnisse und der Kampf um Freiheit sind jedoch nur eine Handlungsebene und Lesart des Romans, die zweite ist die Ebene der Träume: Moira malt Träume in ihren Werken. Daniel Benchimol träumt von Menschen, die er (noch) nicht kennt. Auch Moira war ihm seit langem in seinen Träumen erschienen. Hossi dagegen kann, seit er zweimal vom Blitz getroffen wurde und Teile seines Gedächtnisses verloren hat, nicht mehr träumen, erscheint aber anderen, die in seiner Nähe sind, in einem lila Jackett in ihren Träumen. Und schließlich taucht noch der Neurowissenschaftler Hélio auf, der mithilfe einer neuentwickelten Maschine Träume während des Schlafs im Labor in Bilder und Filme verwandelt.
Das Motiv des Traums ist das Kernthema des Romans, wie der wörtlich übersetzte Titel schon vermuten lässt. Die Protagonisten sind ihren Träumen ausgeliefert, dabei treten auch irreale und fantastische Elemente in den Vordergrund, am Ende träumen etwa alle Bewohner*innen der Hauptstadt Luanda denselben Traum. Die Träume umfassen alle Erzählebenen des Romans und greifen diese auf unterschiedliche Arten auf. Neben den wechselnden Erzählperspektiven werden Träume in Tagebüchern und Briefen berichtet oder in Gespräche eingestreut. Die Erzählstränge spielen – nicht immer chronologisch erzählt – in verschiedenen Zeitebenen und an verschiedenen Orten (Portugal, Angola, Brasilien, Südafrika). Es ist manchmal schwer, dem bisweilen verschachtelten und verwirrenden Roman zu folgen – auch, weil einzelne Szenen (traumhaft anmutend) abreißen, um später wieder aufgegriffen zu werden.
Beeindruckend ist die poetische Sprache, die fesselt und so über manche Leseanstrengung hinweghilft. Das Glossar zur Orientierung sowie die zwei Karten in der Innenseite des Hardcovers sind ebenfalls hilfreich. Leser*innen, die einen politischen Roman lesen wollen, der nicht schwer, sondern poetisch ist und dabei genug Aufmerksamkeit mitbringen, um sich in einem sprachlich beeindruckenden Erzählstrudel zwischendurch selbst zu orientieren, sei das neue Buch von Agalusa empfohlen.