Kaufen Sie, Kaufen Sie sich eine neue Identität!

Eh ich begriff, dass dieser Roman, eines der früheren Bücher von Agualusa und das zweite, was ins Deutsche übersetzt wurde, aus der Perspektive eines Tiers geschrieben ist, blätterte ich ein paar Mal; dabei verrät doch der deutsche Titel „Das Lachen des Geckos“, worauf sich die Leserschaft hier möglicher Weise einlässt. José Eduardo Agualusa entführt seine Leser*innen immer wieder in fantastische Welten. In seinem 2004 entworfenen „Theater“, mit dem Titel „O Vendedor de Passados“ über einen adoptierten Mann mittleren Alters mit Albinismus, der mit Identitäten handelt, sitzt der benannte Erzähler an der Decke und beobachtet, was Felix Ventura so treibt und wer bei ihm ein- und ausgeht.

Eines Tages kommt ein Interessent unangemeldet mit einer scheinbar hohen Geldsumme und fordert Ventura heraus. Ventura wägt ab und entscheidet sich den Auftrag anzunehmen: Die „Geburtsstunde“ José Buchmanns. „„Das hier“, verkündet der Albino, „ist Cornélio Buchmann, Ihr Großvater.“ Auf einer anderen Fotografie umarmte sich an einem Flussufer und vor einem weiten, grenzenlosen Horizont ein Paar. […] „Meine Eltern?“ Der Albino nickte.“ Obwohl Ventura Herrn Buchmann einschärft: „Ich muss es wohl nicht extra erwähnen, […] setzen Sie niemals einen Fuß nach Chibia“, setzt sich der Kunde über die ungeschriebenen Gesetze Venturas hinweg und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Denn Chibia ist ein Ort, den es wirklich gibt, wo Buchmanns imaginierter Vater begraben liegt. Durch Buchmanns Neugier und die daraus resultierenden Nachforschungen gerät die Vergangenheit Buchmanns, die er durch die neue Identität hinter sich lassen wollte, ans Licht, wenn auch erst recht weit hinten im Roman.

In den bisher von mir gelesenen Romanen Agualusas spielt die Geschichte Angolas, die Politik der letzten Jahrzehnte, immer eine große Rolle. Die Charaktere sind oft verwickelt in die in sich verkeilten Fronten der Parteien in Form von Folterer, Geknechtetem, Ex-Agenten… Ob mit Vorwissen oder ohne, es bereitet mir Freude in diese Welt(en) abzutauchen, zumal Agualusa immer mehrere Perspektiven aufzeigt. Er verflicht auch in diesem Werk die Lebenswege der Persönlichkeiten auf umwerfende Art und Weise. Und es kommt zum Showdown, zum Mord, doch wer durch wessen Hand stirbt, dürfen Sie selbst nachlesen. Bis dahin dürfen Sie eintauchen in die Existenz eines Geckos, eines Antiquars, einer Gefolterten, eines Ministers und weiteren… Vielleicht teilen Sie ja mit dem Gecko, Felix Ventura, seinem Oberstufenlehrer Gaspar und mir die „Leidenschaft für alte Wörter“? Oder versinken in Träumen Eulálios und Felix‘? Vermischen sich Ihre Träume(reien) und Erlebnisse mit denen aus dem Buch? Das kann bei dieser Erzählweise schon mal passieren.

José Eduardo Agualusa weist ein beachtliches Repertoire an Werken vor, das mehrere Romane und Erzählungen, eine Novelle und sogar ein Kinderbuch umfasst. Leider ist nur ein eher kleiner Teil seines Œuvres ins Deutsch übersetzt worden, obwohl Agualusa inzwischen zu den Großen der zeitgenössischen lusophonen Literatur zählt. Die literarische Qualität lässt keine Wünsche offen, wenn Sie sich auf den etwas abgedrehten Stil Agualusas einlassen können und sich gern überraschen lassen. Wirklich großartige Literatur, wärmstens zu empfehlen.

Ja ist denn das die Möglichkeit?

Stellen sie sich ein Hochhaus vor. Im Zeitraffer. In einer Stadt – irgendeiner Stadt. Es ist kein besonderes Hochhaus und auch nicht besonders hoch, also kein Wolkenkratzer. Ein Zeitraffer der normalen Sorte erstreckt sich über ein paar Stunden, um besonderes Licht oder Wolken, Sterne, die Bewegung von Pflanzen „einzufangen“, vielleicht ist die Frequenz des Zeitraffers auch niedriger, ein Bild pro Tag, um den Bau eines besonderen Gebäudes abzubilden. Was José Eduardo Agualusa in seinem Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ gelingt, ist ein Zeitraffer über mehrere Jahrzehnte hinweg. Er begleitet das Leben von Ludovica. Ludovica hat sich eingemauert. Sie hat sich in ihrer Wohnung beziehungsweise der Ihres Mannes eingemauert. Und diese Wohnung befand sich in eben jenem Hochhaus. Das ist der Plot.

Das Unglaubliche ist: Es handelt sich um eine Geschichte, die zwar pure Fiktion ist, sich aber an einer wahren Begebenheit orientiert. José Eduardo Agualusa hat den Roman mit dem originalen Titel „Teoria Geral do Esquecimento“ im Jahr 2012 veröffentlicht, die deutsche Ausgabe erschien 2017 bei C. H. Beck. Der Autor zählt inzwischen unbestritten zu den bedeutendsten afrikanischen Autoren im lusophonen Sprachraum, also in Ländern, wo Portugiesisch gesprochen wird. Er wurde in Angola geboren, wohin er nach dem Studium in Lissabon zurückkehrte, das Land wegen der politischen Lage aber wieder verlassen hat. Die politischen Ereignisse der letzten Jahrzehnte in Angola halten nicht nur in das hier portraitierte Buch Einzug. Ludovica kann von ihrer Wohnung aus den politischen und strukturellen Wandel um sie herum wie in einem Kaleidoskop betrachten und muss sich dabei auf das verlassen, was sie hört und mit eigenen Augen sieht, denn einen Fernseher oder ein Radio besitzt sie nicht oder nicht mehr. Ihre Bücher, die riesige Bibliothek verbrennt sie nach und nach, um sich Essen kochen zu können… die Nachbarn sind wegen der Revolution verzogen und bis sich der Bau wieder mit Menschen füllt, vergehen die Jahre.

Agualusa ist ein Meister im Verflechten von Handlungssträngen und bringt sie immer wieder unerwartet zusammen. So kommt überraschend dazu, dass sich die Charaktere, die wir in so unterschiedlichen Zusammenhängen kennengelernt haben, vor der Wohnungstür von Ludovica begegnen. Der Portier des Hauses, Nasser Evangelista, der einmal einer anderen Tätigkeit nachging, wird einfach überrumpelt in einem Kapitel, was mit „Das seltsame Ende des Kubango-Flusses“ überschrieben ist – nebenbei erklärt Agualusa „Es gibt Leute, die regelrecht Angst haben vor dem Vergessenwerden. Man nennt dieses Leiden Athazagoraphobie. Bei ihm (Monte) war es umgekehrt: Er litt unter der schrecklichen Vorstellung, dass man ihn niemals vergessen würde.“ So spannt sich der Bogen und nimmt Bezug auf den Titel dieses absolut fantastischen Werks, was auf mich nicht grotesk wirkt, trotz seiner unwirklich anmutenden „Zufälle“.

Es macht unheimlichen Spaß sich auf Agualusas Welten einzulassen, abzutauchen, zu staunen, zu lachen. Ich finde es genial, wie dieser Autor seine Schauplätze wählt und ausgestaltet.

Ein Buch mit Verve, Biss und Überraschung – nicht nur für Angola-Fans

Rezension „Lagos Noir“ Kurzgeschichten aus Nigeria zusammengestellt von Chris Abani

Zwischen genial fantastisch und vorhersehbar changieren die von Chris Abani in 2018 in „Lagos Noir“ zusammengestellten Kurzgeschichten. Was Abani gelingt, ist ein vielfältiges, breitgefächertes Bild einer der größten Metropolen des Kontinents zu zeichnen. Jedes „Verbrechen“ wird in einem anderen Stadtteil begangen, der_die Leser*in empfindet die schwülen Nächte des auf einem Motoradtaxi zum Tatort fahrenden Kommissars mit, fiebert mit Spannung der Auflösung des Falls entgegen. Nicht immer endet die Geschichte wie erhofft, wie erwartet; einige Wendungen muten doch etwas konstruiert an, bedienen Klischees. Und doch tauche ich immer wieder mit Neugier in jeden der Plots ein. Chris Abani, dessen Vater aus Nigeria stammt, beschreibt im Vorwort zu seinem Sammelband wie die Stadt Lagos zunächst nur ein Ort in seiner Vorstellung war, bis er selbst Zeitzeuge der Stadt wurde, die nie schläft und noch wach ist, „wenn New York in einem lang anhaltenden Gähnen verklingt“.

Wie realitätsnah oder –fern die 13 Geschichten sind, bleibt offen, wie es das Genre der Fiktion vorgibt und doch möchte ich erfahren, ist das Alltag? Die Schikane der Polizisten am Straßenrand? Oder: Kann es sein, dass jemand den Sturz aus einem zur Landung ansetzenden Flugzeug überlebt? Der Sammelband ist in drei verschiedene Teile gegliedert und entführt uns in die Welt der Polizisten und Diebe sowie der Tötungsdelikte im Familienkreis. Das dritte Kapitel ist mit „Ankunft und Abflug“ betitelt, wobei die Einteilung in diese drei Kategorien willkürlich erscheint: Was hat ein Killeraffe mit der Ankunft eines schwulen Kommissars zu tun?

Für Liebhaber des Genres und Afrikainteressierte ist dieses Buch eine leichtgängig Lektüre ohne viel Tiefgang, welche doch Einblick in eine Stadt gibt, die als eine der gefährlichsten des Kontinents gilt: Widersprüchlich und schillernd.

Was uns trennt und was uns zusammenbringt

„Ghana must go“ oder „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ von Taiye Selasi

Der Vater einer 6-köpfigen Familie stirbt. Hier setzt der von Taiye Selasi verfasste Roman an, in dem sie aus den Perspektiven der jeweiligen Familienmitglieder beschreibt, wie er oder sie zur Familie steht. Die deutsche Ausgabe, 2013 in Deutschland bei S. FISCHER erschienen, hat mich mitgerissen, völlig in den Bann gezogen und bis zu den letzten Seiten nicht mehr losgelassen. Die Geschichte hat es in sich.

Was passiert, wenn innerhalb der Familie nicht über traumatische Ereignisse oder schlicht Begebenheiten in der Vergangenheit, gesprochen wird? Ohne allzu offensichtlich oder reißerisch wertend vorzugehen, enthüllt Selasi die Umstände von Kweku Sais Tod. Welche Bedeutung dem beikommt, ist am Anfang des Buches kaum zu ermessen. Dann werden wir in das Familienleben eingeführt, als noch (fast) alles gut war. Alle beieinander: Vater, Mutter, Kinder. Sadie Sai wird geboren, das jüngste der vier Kinder. Eindrücklich beschreibt Selasi den „Clash“ der Weltsichten in Bezug auf den Tod von Neugeborenen, während Kweku Sai, Arzt, einer der besten seines Fachs, sich selbst gerade in der Säuglingsstation befindet: „Wenn ein unglückliches Neugeborenes aller Voraussicht nach das Wochenende nicht überstehen würde, riet man den Eltern davon ab, ihm einen Namen zu geben […]. Viele seiner Jahrgangskollegen fanden diese Praxis befremdlich – als würde man sich zu früh geschlagen geben. Das waren vor allem Amerikaner, mit ihren weißen Zähnen und der Kuhmilch für die Kindersterblichkeit etwas Unvorstellbares ist. Oder besser gesagt, vorstellbar in der Summe, als eine Zahl, eine Statistik, das heißt, x % der in Ghana geborenen Kinder sterben vor der zweiten Woche. Vorstellbar im Plural, aber inakzeptabel im Singular.“

Für Kweku ist das Krankenhaus ein Dreh- und Angelpunkt. Klar, dass es ihn oder sein Leben aus den Angeln hebt, als er seinen Job verliert, in einem der besten. Aber hat er seine Arbeitsstelle nicht selbst als „Maschine“ bezeichnet? „Die Maschine. So hatte er das Krankenhaus genannt, als er am Johns Hopkins Hospital anfing, weil er so beeindruckt davon war, wie gut das alles funktionierte. […] Alles unter Kontrolle […]: die menschliche Schwäche, menschliche Emotionen, alle dazugehörigen Formen von menschlichem Chaos, Schmutz, Krankheit, Komplikationen.“ […] „To dazzle the faithful. Arrogance by association. The machine was in control. And so he was in control who belonged to it.“

Die Literatur vermag Dinge und Ereignisse/Geschehnisse in einen Zusammenhang zu setzen, der anderen (wissenschaftlichen) Disziplinen abgeht. Immer wieder gibt es Rückblenden in Selasis Roman, zu dem Moment in dem Kweku stirbt. Er räsoniert, fasst zusammen, lässt revue passieren. Stellt sich Fragen – die Frage: Warum? Dass auch sein Vater gegangen war, wird uns als Leser*in mitgeteilt, aber kommt Kweku selbst der Gedanke, dass sein Weggang nicht der Erste in seiner Familie war? Dass es vielleicht sogar einen Zusammenhang zwischen seinem eigenen Weggang gibt und dem seines Vaters? Genau diese Verbindung gelingt Selasi so gut: Das Unbeschreibliche anvisieren, andeuten, in einem Nebensatz aufblitzen und uns erkennen lassen: Diese Dinge geschehen [eben] nicht einfach so.

In der Originalausgabe, wie auch in der deutschen Ausgabe, vereinfacht ein Stammbaum die Einordnung der Familienmitglieder. Auch eine Aussprachehilfe ist der Originalausgabe vorangestellt (in der deutschen Ausgabe angehängt). Mir gefallen diese Zusätze, die in vielen Büchern fehlen. Ich kann mich besser einfühlen, wobei Selasi ihre Leser*innen nicht in Unkenntnis lässt bei möglicherweise unbekannten Begriffen. Vieles wird erklärt, wie die Ibeji, das Wort für Zwillinge, mit dem nigerianischen Mythos über Zwillinge. Manchmal ist es mir zu viel des Markennamen-Droppings: „Mi-Del Organic Lemon Snaps, Capri Sun und „Apple & Eve“ Apfelsaft“, was letztlich aber nicht zu sehr in den Vordergrund rückt und daher verkraftbar ist – für mich – für andere möglicherweise die Authentizität verstärkt.

Die Übersetzungsleistung von Adelheid Zöfel verdient hervorgehoben zu werden. Es gelingt ihr den etwas „amerikanisch“ dramatischen Duktus aufzugreifen, Selasis Schreibweise abzubilden, ohne an Intensität einzubüßen und doch etwas von dem Hollywood-Kino abzurücken. Mir hat die deutsche Übersetzung besser gefallen als die originale Fassung des Romans.

Insgesamt: Großartig verwebt Selasi die Erzählstränge, sodass sich ein immer kompletteres Bild ergibt und wir am Ende verstehen. Die Verletzungen der Charaktere verstehen, verstehen, warum wer wie handelt; warum „Ghana must go“ der Titel des Romans ist oder wie im Klappentext der deutschen Ausgabe zusammengefasst wird: „Wir wissen erst, wer wir sind, wenn wir wissen, woher wir kommen.“

Detaillierte moderne Familiengeschichte über Kontinente hinweg

Taiye Selasi „erfand den Begriff „Afropolitan““, welcher auch in der Geschichte der Sais Gestalt annimmt: „neue Generation von Weltbürgern mit afrikanischen Wurzeln“. Die Autorin war unter 40 Jahren, als sie diesen – bisher ihren einzigen – Roman verfasste. Bisher sind 4 Kurzgeschichten von ihr veröffentlicht worden und sie ist in einem TED-Talk zu bewundern in dem sie darüber spricht, eben nicht „multinational“ zu sein, weil man von Eltern abstammt, die aus verschiedenen Ländern kommen und man selbst in einem anderen Kontinent aufgewachsen ist als die eigenen Eltern. Ihr geht es darum die Konzepte und Klischees zu überwinden, die mit einer Nationalität einhergehen und das Menschliche zu sehen in jedem Gegenüber. Statt zu fragen: Woher kommst du? Wäre die Frage nach dem Alltag vielleicht angemessener – welches sind deine Rituale? Mit wem hast du regelmäßig Kontakt, führst Beziehungen? Mit welchen Einschränkungen hast du zu kämpfen? Und es sei von Bedeutung, sich darüber bewusst zu sein, mit welcher Intention die Frage nach der Herkunft gestellt werde. Die Antwort(en) auf diese Frage, sollten zusammenbringen und nicht trennen.

Bürgerkrieg aus Kinderperspektive?

Im Jahr 2012 war ich auf einem Konzert von IRMA, die 2020 ein neues Album herausgebracht hat (https://www.irmaofficial.com). Bei dem Konzert damals bei Bordeaux bildete Gaël Faye die „Vorband“. Es ist nicht untertrieben zu behaupten, Gaël Faye sei ein Multitalent. Jahre später – man trifft sich immer 2 Mal im Leben – bringt meine Mitbewohnerin ein Buch aus Frankreich mit: „Petit Pays“ der Titel, auf Deutsch „Kleines Land“. Dieses kleine Taschenbuch mit gut 200 Seiten habe ich damals verschlungen. Nun habe ich mir die deutsche Fassung vorgenommen und die Begeisterung bleibt. Mit dichter, detailreicher Sprache kreiert Faye sehr realistische Szenen und Charaktere und fesselt damit seine Leser*innen.

Aus der Sicht eines Jungen an der Schwelle zur Jugend beschreibt Faye die glücklichen Tage des Kindseins bis der Krieg ausbricht in Bujumbura, Burundi. Bis dahin baut Gabriel mit seinen Freunden Armand, Gino und den Zwillingen Schiffchen aus Bananenblättern, veranstaltet ein Wettpissen oder geht auf Mangojagt bei der Nachbarin, der sie die Mangos später wiederverkaufen. Kleine Szenen werden authentisch geschildert und lassen die Leser*innen in Gabriels (Gedanken-)Welt abtauchen, in der es noch so etwas wie Langeweile gibt und der Nachbar mit seinem Schattenboxen nichts Befremdliches hat, doch „Die Erwachsenen hielten ihn für verrückt mit seinen Katas. Wir Kinder mochten ihn, wir fanden das viel normaler als vieles, was die Erwachsenen machten: Militärparaden organisieren, Deodorant in die Achseln sprühen, in der Hitze Krawatten tragen, die ganze Nacht im Dunkeln sitzen und Bier trinken oder diese endlosen zairischen Rumbastücke hören.“

Ein Höhepunkt und auch Wendepunkt des Buches ist Gabriels elfter Geburtstag, der gebührend gefeiert wird – ich wäre am liebsten dabei gewesen, konnte die aufgeladene Luft beinah riechen, den Regen fast auf der Haut spüren und hätte gern mitgetanzt, begleitet von Freudenschreien, Gitarre, Trompete und den zum Klingen gebrachten Bierflaschen.

Die Stimmung kippt, obwohl das Buch bereits beginnt mit der Frage nach ethnischer Zugehörigkeit beziehungsweise dem Versuch von Gabriels Vater zu erklären, wodurch sich Hutu und Tutsi unterscheiden. „So sehr ich mich auch bemühe, ich kann mich nicht mehr erinnern, wann genau wir eigentlich angefangen haben, anders zu denken. Nämlich, dass es auf der einen Seite nur noch uns gab und auf der anderen lauter Feinde []. Ich frage mich immer noch, wann meine Freunde und ich anfingen, Angst zu haben.“

Gabriels Mutter stammt aus Ruanda Gabriels Vater ist Franzose – damit hat das Buch sicherlich autobiographische Züge.

Es folgen die Drangsalierungen und Entsagungen, die Flucht und die Konsequenzen des Krieges. Faye verschont seine Leser*innen nicht. Was Faye beschreibt sind Grausamkeiten, für die es keine Worte gibt. Und das in einem Buch für eine junge Leserschaft. Wie geht das zusammen? Gaël Fayes Roman war sogar so erfolgreich, dass er mit dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet wurde.

Ich meine, das hängt mit der Authentizität zusammen, die Faye ausstrahlt. Hört auch seine Musik. Diese Kunst wird auch in seiner Literatur offenbar.

Bewegend. Großartig – ein Buch, nicht nur für eine junge Leserschaft

Harold and Maude in anderen Räumen?

Kurzweilig, bei immerhin 350 Seiten, erzählt Abubakar Adam Ibrahim die Geschichte von Hajiya Binta Zubairu und Hassan „Reza“ Babale – in zwei Teilen. Es ist eine ungewöhnliche Geschichte, wenn auch die Thematik nicht neu ist: Eine Frau und ein Mann verlieben sich, die Frau ist wesentlich älter als er – in diesem Fall sind es 30 Jahre Altersunterschied.

Eine gewisse Komik begleitet den gesamten Roman, er liest sich einfach und doch dürfen wir in Abgründe sehen, diese werden nicht ausgeschmückt. Einer dieser kurzen Momente ist der, wo Hajiya Binta sich erinnert, wie sie nicht einschritt, als ihr Mann ihren ältesten Sohn versohlt, bis das Blut fließt und erst die Nachbarin Einhalt gebietet. Sie selbst stampft Guineakorn im Mörser. Dies ist eine der Rückblenden, die der Autor immer wieder einstreut, um uns an der Vergangenheit von Hajiya Binta und ihrer Gedankenwelt teilhaben zu lassen.

Wie haben sich die beiden Hauptpersonen kennengelernt? Wie haben sie sich gefunden? Das erfahren Sie, liebe*r Leser*in, schon auf der allerersten Seite dieses Romans. Hajiya Binta geht ihrem Putzfimmel nach, weil sie „schlecht geträumt“ hat, einem unguten Gefühl nachhängt, was ihr schon mehrfach angekündigt hat, wenn dramatische Wendungen in ihr Leben getreten sind, wie der Tod ihres Erstgeborenen, die Hochzeit mit ihrem Exmann, oder die Rückkehr ihrer Tochter nach gescheiterter Ehe. Im Folgenden werden wir mitgenommen in den jeweiligen Alltag von Hajiya Binta und Reza, der kaum Berührungspunkte aufweist: Er, Drogendealer, Sie, Hausfrau und Witwe. Hajiya Binta wohnt gemeinsam mit ihrer Nichte Fa’iza und Ummi, ihrer Enkelin, um die sie sich beide kümmert. Warum, wird im Verlauf der Lektüre verständlich. Reza haust mit seinen Kumpanen in San Siro, einem Treffpunkt seiner Clique, um die nächsten Aktionen zu planen.

Jetzt könnte man meinen es folgen stereotype Szenen, wie in Liebesromanen üblich, aber nichts dergleichen ist der Fall. Ich finde Abubakar Adam Ibrahim gelingt es, ein präzises Bild zu zeichnen von seinen Charakteren und deren Leben, mit Beten, Koranschule, Kochen, Putzen, Freizeit oder illegalen Coups. Es ist nicht dieses übliche um Aufsehen Heischende, was in westlichen Medien oft mitschwingt, wenn es darum geht über Gesellschaften mit muslimischem Glauben zu berichten. Hier entsteht ein differenziertes Portrait, das Spannungen aufzeigt, ohne zu dramatisieren. Unauffällig eingeflochten werden Andeutungen über Unruhen in Nordnigeria. Der Autor stammt aus Jos, einer Stadt, welche zum Norden Nigerias zählt.

In einem Youtube-Interview ( https://www.youtube.com/watch?v=EvgMZG-4iWE ) gibt der Schriftsteller preis, dass er die Literatur aus dem Norden Nigerias bekannter machen möchte, weil sie die Möglichkeit bietet Klischees, die innerhalb Nigerias zwischen verschiedenen Regionen vorhanden sind, zu entschärfen und so zu einem besseren Miteinander beizutragen. Im mehrseitigen Glossar werden Haussa-Begriffe erklärt, das können kurze Ausrufe, Sätze oder Wörter sein, die dem Werk noch mehr Originalität verleihen.

Jedes Kapitel ist mit einer sprichwortartigen Überschrift versehen. Hier ein paar Kostproben: „Mit der Suche nach einer schwarzen Ziege sollte man lange vor Einbruch der Dunkelheit beginnen“ – „Nur ein Weiser sieht das Grau im Schafspelz“ – „Nur weil die Wehklage süß klingt, ist der Verlust nicht weniger herb“ – und schon recht zu Anfang des Buches „Sieh nicht dorthin, wo du gefallen, sondern dorthin, wo du gestolpert bist“ – der Verweis auf den deutschen Titel des Buches „Wo wir stolpern und wo wir fallen“ von 2019. Das Original entstand 2015 und ist unter dem Titel „Season of Crimson Blossoms“ beim Verlag Cassava Republic Press, Abuja und London, erschienen.

Wie geht diese Geschichte aus? Kommen Reza und Binta öffentlich zueinander? Sie halten ihre Beziehung eine ganze Weile geheim. Immerhin möchten die eigenen Kinder Binta an der Seite eines Mannes wissen. Hat diese Liebe eine Chance? Lasst euch überraschen, ihr werdet belohnt mit spannendem, außergewöhnlichem Lesestoff.

Liebesgeschichte mit Tücken. Der Autor bricht Tabus in Bezug auf das Frauenbild in der Region seiner Herkunft.

„Abubakar Adam Ibrahim lebt als Journalist und Autor in Abuja“ und wurde für seine Veröffentlichungen bereits vielfach ausgezeichnet. Mit „Season of Crimson Blossoms“ ist sein erster Roman erschienen, für den er 2016 mit dem Nigerianischen Literaturpreis ausgezeichnet worden ist. Am 7.12.2020 ist bei Masobe Book ein weiterer Band mit Kurzgeschichten von Abubakar Adam Ibrahim erschienen und sicherlich bin nicht nur ich neugierig auf den hier angekündigten neuen Roman: https://africainwords.com/2020/12/01/qa-uchechukwu-peter-umezurike-interviews-abubakar-adam-ibrahim-about-his-latest-collection-dreams-and-assorted-nightmares-2020/

Nein zum Krieg – denn wir wissen, was wir tun

Eindringlich schildert Alpha Ndiaye wie er mit seinem Kameraden und „Seelenbruder“ – so der französische Buchtitel frei ins Deutsche übersetzt – die Schlachten in den Gräben des Ersten Weltkriegs erlebt. Die Grausamkeiten, Perfiditäten, Abscheulichkeiten, der Widersinn des Krieges – als solcher – werden in dem kurzen Roman Nachts ist unser Blut schwarz (so der deutsche Titel) des franko-senegalesischen Autors David Diop offenbar.

Mit wirkmächtiger Sprache im Erzählton lässt Diop uns teilhaben am Schicksal der beiden „Senegalschützen“, die für Frankreich, das „Mutterland“ in den Krieg ziehen. Etwa Hundertachzigtausend der sogenannten Senegalschützen (Tirailleurs sénégalais) dienten der Kolonialmacht Frankreich im Ersten Weltkrieg; etwa jeder Sechste von ihnen ließ sein Leben. Alpha Ndiaye verliert seinen Kameraden und man könnte meinen es ist Rache, die ihn antreibt Vergeltung zu üben. Trotz der Gräuel die Alpha Ndiaye verübt, die er detailliert beschreibt, haarklein, bin ich mit ihm, ich meine ihn verstehen zu können, ich fühle mit. Hauptmann Armand pfeift zum Angriff und seit Mademba Diop, Alphas Freund und Seelenbruder, umgekommen ist, kehrt Alpha Ndiaye nicht ohne Trophäen zum Lager zurück. Was erst als Heldentum, Wagemut und Kühnheit gefeiert wird, gerät dem Erzähler bald zum Verhängnis, wird ihm als unmenschlich, toll und übertrieben ausgelegt.

Auflockernd, doch nichts an Eindrücklichkeit verlierend, sind die Passagen in denen Ndiayes Gedanken abschweifen in die Zeit vor seiner Rekrutierung, bevor er in den Krieg gezogen ist. Die*der Leser*in erfährt mehr über Ndiayes Herkunft, seine Eltern und wie die Freundschaft zwischen den beiden Kameraden entstand. Assoziativ reiht Diop die Gedanken seines Helden aneinander. Geschickt verwebt er die Erlebnisse aus der Kindheit und beim Fronturlaub. Die Liebe zu Fary Thiam, der Tochter des Dorfältesten in Gandiol, stand von Anfang an unter keinem guten Stern und doch findet sie Erfüllung, wenn auch nur.

David Diop gelingt es auf 175 Seiten ein Portrait zu zeichnen, das nachwirkt. Seine Sprache ist eingängig und verschafft Klarheit über die Unmoral von Krieg und Verbrechen im Zusammenspiel mit Macht. Großartig finde ich die Szene, in der Ndiayes Vater dem Dorfältesten vorführt, dass es Werte gibt, dass Geld nicht alles ist und uns nicht durch Krisen führt. In einer Hungersnot wird man sich nicht nur von Erdnüssen ernähren können. Weitergesponnen, kann dies als Parabel für Lebensmittel-Souveränität gelten und gewinnt nicht nur dadurch einen Bezug zur Gegenwart.

Das Buch hat nichts Belehrendes und lehrt uns doch: Krieg ist nicht zu rechtfertigen und hinterlässt Spuren, die unauslöschlich sind.

Den Verriss von Wolfgang Schneider vom 2.2.2020 in der FAZ kann ich nicht nachvollziehen (oder: Der Verriss … ist nicht nachvollziehbar). Sich im Krieg menschlich verhalten, ist ein Ding der Unmöglichkeit und natürlich hat ein solches Buch immer eine konstruierte Komponente. Dennoch, gerade durch die Perspektive des Erzählers teilte ich den Eindruck zu keiner Zeit, dass das Geschehene an den Haaren herbeigezogen sei. Auch habe ich die angebliche Überzeichnung Ndiayes als „Schokosoldat“ an keiner Stelle so empfunden. Im Gegenteil: durch sein Reflektieren und den gesamten Kontext erscheint Diop als Mensch und seinem Verhalten haftet nichts Übertriebenes an. Unmenschlich und paradox muten die Reaktionen des Hauptmanns und des Arztes in der Genesungseinrichtung an.

Ganz erschließt sich mir die letzte Szene nicht. Dort scheint es als wenn sich der Geist Madembas zeigt und damit ein Perspektivwechsel vollzogen wird. Zurecht hat David Diop in Frankreich für seinen Roman mehrere Preise gewonnen.

Feel the inner spirit and follow your heart – oder wie auch im scheinbar Einfachen Tiefe verborgen liegt

Ich gebe zu: zeitgenössische Dichtung lese ich kaum – außer vielleicht die von Bjarne Mädel (und die auch nur, weil ich sie geschenkt bekommen habe). Die von Bjarne Mädel hat mich nicht umgehauen, aber er schreibt auch selbstironisch im Klappentext: „Es ist wirklich wie ein Fluch, jeder Promi schreibt ein Buch. […] Am besten noch in Reimen, da lachen ja die Kälber. Oh Gott… ich mach’s ja selber.“

Und so gestehe ich weiter: unter zeitgenössischen „afrikanischen“ Gedichten habe ich mir etwas sehr modernes vorgestellt, Texte, die kaum zu verstehen sind, Aneinanderreihungen von Wörtern, die ohne Vorwissen kaum zu erschließen sind – so wie einige zeitgenössische Plastiken auch nicht unbedingt leicht zugänglich sind. Ich war mal auf einem Science Slam, aber der hat nichts mit Poetry zu tun und ich habe bei „Poetry“ nicht an Slam gedacht. So war ich bei den folgenden Zeilen doch ziemlich enttäuscht: „I just wanna love her like the moon loves the sea, […] like the sun to the trees, and just like the trees to the sun i should reach up to wherever she was so we could touch and be one.“ Sie erinnerten mich an die 8. Klasse, in der Liebesgedichte das Thema waren und jede*r Schüler*in selbst auch Gedichte verfassen musste.

Diese Zeilen entstammen dem Gedicht „I wanna love her“ von JJ Bola aus der Zusammenstellung seiner Gedichte in Refuge – the collected poetry of JJ Bola. Es ist eines der ersten von 35 Gedichten, die 2018 bei OWN IT! Entertainment Ltd erschienen sind. Je mehr ich gelesen habe, desto mehr habe ich verstanden und desto weniger plump erschienen mir Bolas Verse. Mit jedem weiteren Gedicht, alle zwischen ein bis drei Seiten lang, wird das Bild kompletter, wird die Botschaft klarer und: ich beginne den Flow zu spüren. Ich verstehe: es sind keine klassischen Gedichte, es sind meist Raps, welche erfolgreich versuchen abzubilden, was kaum abbildbar ist: die Botschaft des Lebens, den Lebenssinn, Gesellschaftskritik, Machtstrukturen, dein Gegenüber Mitmensch, Schwester und Bruder werden lassen, Liebe leben über den Tod hinaus, Schmerz und Leid überwinden und transformieren. Für diese Themen Worte finden, ist eine Kunst und ich gebe zu: JJ Bola beherrscht sie! In einem Dreizeiler bringt er auf den Punkt, was manche Vorträge über Ungleichbehandlung und Diskriminierung nicht vermögen klar zu machen, die aber nach dem Tod von George Floyd medial in ein ganz anderes Licht gerückt werden: „Cops and robbers – „our kids cannot play this game, when lying dead on the floor is practice“.

Bola arbeitet mit Oxymora und bringt zur Sprache, was uns alle beschäftigt, die universellen Lebensthemen kommen zum Beispiel in „live“ zum Ausdruck, was wir alle wissen, wird durch die Gedichtform unaufdringlich aber direkt formuliert: „people should take days off work more often and spend them watching the clouds and looking up at the sky, wondering how and why we came to be.“

Mir gefällt es, wie Bola die Übergänge zwischen dem Erfassbaren zur unsichtbaren Welt gestaltet, wie er von seiner Großmutter berichtet, die in Lingala zu ihm spricht, was er nicht versteht. Die Oma, die Bola nicht mehr bewusst kennengelernt hat, begleitet ihn, er weiß: Ohne Vergangenheit, keine Zukunft und wie das Unerklärliche uns alle umgibt, uns gedeihen lässt – „something beautiful“.

Einige Gedichte scheinen gezielt an eine bestimmte Leser*innenschaft gerichtet zu sein, wie „real men“. Bola will aufrütteln, das Klischee vom starken Mann nicht nur hinterfragen, sondern verändern, er appelliert an die „weiche Seite“ in jedem Menschen, daran Gefühle zuzulassen, sie auszuleben, aber nicht auf Kosten anderer. Aus meiner Sicht haben diese Appellgedichte einen seltsamen Beigeschmack, sie erscheinen etwas belehrend, als wollten sie rührig machen. Darum geht es ihm wohl auch, ich halte es nicht immer für gelungen, weil sie Klischees bedienen und doch bin ich berührt. Bola hat mich erreicht.

Insgesamt ist Bolas Gedichtband auf jeden Fall lesenswert und sollte viel bekannter gemacht werden.

Gendervielfalt als globales Thema

Über international aktive NGOs wie Amnesty International und Mainstream-Medien wurde mir bisher vermittelt, dass gleichgeschlechtliche Paare in Ländern Afrikas geächtet und verfolgt werden. Ein facettenreiches Bild nicht straighter Frauen in Nigeria, das die verzerrten Blicke aus dem globalen Norden innehalten lässt und seinen Gegenübern auf Augenhöhe begegnet, zeichnen Azeenarh Mohammed, Chitra Nogarahjan und Rafeeat Aliyu in ihrer Zusammenstellung von Interviews mit dem Titel „She called me woman“. In diesem Buch legen Frauen aus verschiedensten Regionen Nigerias Zeugnis ab über ihr Leben als Frauen, die Frauen lieben und das jenseits von Klischees.

Die Themen des Buches berühren, erscheinen authentisch, sind „allzu menschlich“. Doch vor dem Hintergrund, dass Rollenverständnisse und Zuschreibungen viel mehr besprochen, durchbrochen, diskutiert und ausgelotet werden sollten als es aktuell (überall) der Fall ist, macht dieses Buch Mut, ist ein Wegbereiter und ein Zeichen von Empowerment. Es zeigt am Beispiel von Nigeria auf, was (queere) Frauen (weltweit) verbindet, im Schatten von Intersektionalität, aber ohne dies in den Vordergrund zu stellen.

Kaduna, Zamfara und weitere nehmen kein Blatt vor den Mund, manövrieren sich nicht in die Opferrolle, das macht das Buch angenehm zu lesen und lässt die Frauen wie die eigene beste Freundin, Nachbarin oder Klassenkameradin erscheinen, trotz der teils widrigen Erlebnisse der einen oder anderen Protagonistin. Die Themen reichen von sexueller und häuslicher Gewalt über Missbrauch, Rassismus, Zwangsehe bis zum Ausschluss aus der Familie, dominieren aber nicht in den Texten der Frauen.

Indem Bericht „This is what I have been missing“ von IX aus Kaduna erfahren wir, dass sie nicht von Anfang an wusste, dass sie Frauen liebt. Wiederkehrend ist die Familienthematik, dass befürchtet wird, die Konsequenzen eines Outings würden durch die direkte Familie nicht getragen, obwohl Freunde und Cousins und Cousinen es doch eher gelassen sehen. Unbegründet ist diese Angst nicht. So ist für TQ aus Gombe/Plateau, 27 Jahre alt, eine Welt zusammengebrochen, als sie mit ihrer Freundin von ihrem Onkel entdeckt wurde und jeweils die Familien in Kenntnis gesetzt wurden. TQs Freundin wurde geschlagen und erwägt nun einen Mann zu heiraten, um dem Druck zu entgehen. Das trifft TQ sehr, vor allem, weil sie sie im Stich gelassen hat. Dabei würde sie so gern diese Beziehungen weiterführen und eine Familie gründen – eine Scheinehe, eine Beziehung zu einem Mann, kommt für sie nicht in Frage.

OW, 25 aus Ondo wurde von ihrem Onkel als Kind sexuell missbraucht, hat stark religiöse Eltern und spricht trotz allem unverblümt über ihre sexuellen Vorlieben. Durch die Strenge ihrer Eltern, weil diese über Umwege von ihrer sexuellen Orientierung erfahren haben, musste sie sogar ihre Arbeitsstelle aufgeben. Auch OW glaubt an Gott, findet aber den Zugang eher über Spiritualität als über eine Kirche, die gegen Homosexualität wettert. An keiner Stelle hat OWs Bericht etwas Leidendes, sie spricht aus Überzeugung, will sich über ihre Sexualität nicht definieren, lehnt stereotype Rollenverteilungen ab: „My Sexuality is Just the Icing on the Cake“.

Die politische Lage in Nigeria für gleichgeschlechtliche Paare ist denkbar ungünstig. Durch das föderale System ist die Rechtsprechung von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden. Im Norden des Landes wird die Scharia angewandt, was für homosexuelle Männer die Todesstrafe bedeuten kann, wohingegen Beziehungen zwischen Frauen legal sind. Durch den „Same-Sex Marriage Prohibition Act“ von 2014 werden aber jegliche Handlungen kriminalisiert und eine offizielle gleichgeschlechtliche Partnerschaft unmöglich. Kein Land auf dem Kontinent, außer Südafrika, erlaubt gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Das erstaunt, da es in vorkolonialen Zeiten keine Gesetze gegen nicht binäre Beziehungen gab.

Die Herausgeberinnen bedauern, dass sie, obwohl es ihnen gelungen ist regional ganz Nigeria widerzuspiegeln, hauptsächlich nur Frauen zwischen 20 und 30 Jahren interviewen konnten. Gern hätten sie auch ältere Frauen befragt um einen umfangreicheren Eindruck von Queerness in Nigeria auch zeitlich widerzugeben. Obwohl es schon immer eine Vielfalt in der Sexualität gegeben hat, wurde diese nicht unbedingt sichtbar. Nur weil etwas nicht sichtbar ist, bedeutet das nicht, dass etwas nicht existiert. Dieses Buch leistet einen bedeutenden Beitrag dazu, Frauen, die sich nicht im rigiden binären System der Heterosexualität sehen, eine Stimme zu geben und erfahrbar zu machen, was das in unser aller imperialistischen, (post)kolonialen, sexistischen Welt immer noch für Folgen hat.

Kraft der Gedanken

Famos, fantastisch, fulminant – so lässt uns Agualusa eintauchen ins Gestern und Heute Angolas. Packend erzählt der Autor vom Journalisten Benchimol, der zufällig die Kamera einer jungen Künstlerin findet, welche ihm helfen wird seine Träume zu entschlüsseln. Doch das ist nur einer der Erzählstränge, die in diesem Roman gekonnt miteinander verwoben werden. Nach und nach drängen die Details über Benchimols Scheidung und seine Tochter aus jener Beziehung ans Licht und wie sein Schwiegervater seine Karriere beeinflusst und welche Ränke geschmiedet werden, mit Macht.

Vielgestaltig sind die Charaktere, die Agualusa zusammenträgt und auf den Plan treten lässt, alle eingebettet in die politischen Begebenheiten Angolas. Den fabulösen Name Karinguiri trägt Benchimols Tochter, die eine entscheidende Rolle spielt. Moira nennt sich die (junge) Künstlerin, mit der schwimmenden Kamera und nicht zu vergessen: Hossi, der ehemalige Guerillakämpfer, der in den Träumen Fremder auftaucht, womit er den Geheimdienst auf seine Spur bringt.

Was kann aus diesem Kuddelmuddel, diesem Puzzle entstehen? Auf verschiedenen Erdteilen gar hausen die Hauptpersonen zeitweilig und doch finden sie zueinander, etwas verbindet sie alle. Sie haben einen Traum, den Traum von Gerechtigkeit, von friedlichem Zusammenleben. Bis zum Ende ist unklar, ob Hossi bewusst ist, was er in den Träumen anderer treibt. Unheimlich, aber die Hirnforschung einbeziehend, sind die Passagen, wo es um die Entschlüsselung der Träume geht – Zukunftsmusik?

Agualusas Erzählstil hat mich gefesselt von der ersten bis zur letzten Zeile. Die Art, wie er schreibt, Fiktion und Ereignisse aus Angolas Geschichte verbindet, ist kunstvoll und lässt den Ruf nach Mehr laut werden. Hier geht es an die ganz großen Themen: Kann jeder einzelne das Weltgeschehen beeinflussen? Dürfen wir auf eine bessere Welt hoffen? Tragen unsere Träume, unsere Vorstellungskraft, zu einer besseren Welt bei? Welches ist der richtige Weg zwischen Machbarkeitswahn und Träumerei? Darf ich auf die Läuterung meiner Taten hoffen? Wo, wenn nicht in der Literatur darf die transzendente Ebene Einzug halten?

Der einzige Wermutstropfen in Agualusas Beschreibungen sind die Darstellungen der Frauen. Neben der Muse – verzaubernd, schillernd, schön – gibt es die verstörend junge Aktivistin à la „Jeanne d’Arc“, den hehren Zielen getreu bis in den Tod. Dann darf natürlich die sexy Nachbarin nicht fehlen, die man nachts ihren beinah doppelt so alten Mann bumsen hört – aber natürlich hält sie nicht nur für ihren Mann her. Ach und unvergessen, die nervige Ex-Frau. Schade, dass hier keine Zwischentöne gefunden werden.

Sehr schön aufgemacht ist das Buch, indem im vorderen und hinteren Umschlag Karten mit den Orten des Geschehens abgebildet sind. Dies erleichtert allen, denen die Geographie Angolas nicht geläufig ist, einen schnellen Einblick, wie auch das Glossar und die geschichtlichen Anmerkungen, anhand derer einige Ereignisse schlüssiger werden.

Insgesamt eindeutig ein Must-Read