Stellen sie sich ein Hochhaus vor. Im Zeitraffer. In einer Stadt – irgendeiner Stadt. Es ist kein besonderes Hochhaus und auch nicht besonders hoch, also kein Wolkenkratzer. Ein Zeitraffer der normalen Sorte erstreckt sich über ein paar Stunden, um besonderes Licht oder Wolken, Sterne, die Bewegung von Pflanzen „einzufangen“, vielleicht ist die Frequenz des Zeitraffers auch niedriger, ein Bild pro Tag, um den Bau eines besonderen Gebäudes abzubilden. Was José Eduardo Agualusa in seinem Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ gelingt, ist ein Zeitraffer über mehrere Jahrzehnte hinweg. Er begleitet das Leben von Ludovica. Ludovica hat sich eingemauert. Sie hat sich in ihrer Wohnung beziehungsweise der Ihres Mannes eingemauert. Und diese Wohnung befand sich in eben jenem Hochhaus. Das ist der Plot.
Das Unglaubliche ist: Es handelt sich um eine Geschichte, die zwar pure Fiktion ist, sich aber an einer wahren Begebenheit orientiert. José Eduardo Agualusa hat den Roman mit dem originalen Titel „Teoria Geral do Esquecimento“ im Jahr 2012 veröffentlicht, die deutsche Ausgabe erschien 2017 bei C. H. Beck. Der Autor zählt inzwischen unbestritten zu den bedeutendsten afrikanischen Autoren im lusophonen Sprachraum, also in Ländern, wo Portugiesisch gesprochen wird. Er wurde in Angola geboren, wohin er nach dem Studium in Lissabon zurückkehrte, das Land wegen der politischen Lage aber wieder verlassen hat. Die politischen Ereignisse der letzten Jahrzehnte in Angola halten nicht nur in das hier portraitierte Buch Einzug. Ludovica kann von ihrer Wohnung aus den politischen und strukturellen Wandel um sie herum wie in einem Kaleidoskop betrachten und muss sich dabei auf das verlassen, was sie hört und mit eigenen Augen sieht, denn einen Fernseher oder ein Radio besitzt sie nicht oder nicht mehr. Ihre Bücher, die riesige Bibliothek verbrennt sie nach und nach, um sich Essen kochen zu können… die Nachbarn sind wegen der Revolution verzogen und bis sich der Bau wieder mit Menschen füllt, vergehen die Jahre.
Agualusa ist ein Meister im Verflechten von Handlungssträngen und bringt sie immer wieder unerwartet zusammen. So kommt überraschend dazu, dass sich die Charaktere, die wir in so unterschiedlichen Zusammenhängen kennengelernt haben, vor der Wohnungstür von Ludovica begegnen. Der Portier des Hauses, Nasser Evangelista, der einmal einer anderen Tätigkeit nachging, wird einfach überrumpelt in einem Kapitel, was mit „Das seltsame Ende des Kubango-Flusses“ überschrieben ist – nebenbei erklärt Agualusa „Es gibt Leute, die regelrecht Angst haben vor dem Vergessenwerden. Man nennt dieses Leiden Athazagoraphobie. Bei ihm (Monte) war es umgekehrt: Er litt unter der schrecklichen Vorstellung, dass man ihn niemals vergessen würde.“ So spannt sich der Bogen und nimmt Bezug auf den Titel dieses absolut fantastischen Werks, was auf mich nicht grotesk wirkt, trotz seiner unwirklich anmutenden „Zufälle“.
Es macht unheimlichen Spaß sich auf Agualusas Welten einzulassen, abzutauchen, zu staunen, zu lachen. Ich finde es genial, wie dieser Autor seine Schauplätze wählt und ausgestaltet.
Ein Buch mit Verve, Biss und Überraschung – nicht nur für Angola-Fans
Hallo, tolle Rezension, aber schade, dass die lyrischen Anteile unerwähnt bleiben.
Kleiner sachlicher Fehler: Ludovica war nie verheiratet, sie lebte bei ihrer Schwester!