Eine unendliche Geschichte

Der Roman „The Dragonfly Sea“ (deutscher Titel „Das Meer der Libellen“) ist ein frisches Werk aus der Feder der kenianischen Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor. Wie in ihrem ersten Roman „Dust“ von 2006, wählt sie einen zentralen geografischen Bezugsort in Kenia und zwar die Insel Pate, die zum Lamu-Archipel gehört, das im Indischen Ozean liegt. Die Erzählung liegt zeitlich zwischen dem Ende des 20. Jahrhunderts und dem Anfang des 21. Jahrhunderts. Die zentrale Figur ist ein Mädchen Namens Ayaana, das im Laufe des Buches erwachsen wird und in dieser Zeit die Zeugin vieler Schicksale wird, sowie selbst große Abenteuer auf der Insel und in der Ferne erlebt. Ihre Lebensgeschichte ist bei Weitem nicht die einzige, die die Leserschaft im Laufe des Buches erlebt. Das Schicksal ihrer Mutter und auch eines Matrosen, der zu einer Vaterfigur für Ayaana wird, sind auch sehr wichtige und teilweise eigenständige Erzählstränge, die für Ayaana nur indirekt aus Erzählungen bekannt werden. Ähnlich überschneiden sich die Lebenswege der weiteren Figuren mit denen dem Mädchens.

Der Roman kann mit gutem Gewissen als politisch und historisch betrachtet werden. Eine romantische Komponente ist soweit ausgeprägt, dass es an einigen Stellen auch als Märchen oder Saga wahrgenommen werden kann. Es liegt viel Mystik in der Luft, viele Rätsel, viel Unbekanntes, welches darauf wartet, entschlüsselt oder entdeckt zu werden. Harte politische Realität, Beziehungsdramen schlagen zwischendurch auch immer wieder zu. Das Leben wendet sich aber auch zum Guten, Figuren feiern Siege, erleben positive Überraschungen. So wird die Erzählung nicht zu einer düsteren Geschichte des Leidens, sondern viel mehr eine ausgewogene Unterhaltung.

Aus der westlichen Perspektive wirkt es überraschend, nachdenklich, fast schon aufklärerisch, dass die Romanfiguren sich in erster Linie im Indischen Ozean zwischen Afrika und China bewegen. Später führt der Weg in die Türkei, aber die Verbindung nach Europa, zum Westen, wird stark vermindert. Dies ist ein schöner Perspektivenwechsel und eine Ergänzung der westlichen Sichtweise auf die Welt.

Die Autorin versuchte im Laufe des Romans jegliche aktuell relevante Themen in die Handlung einzubinden: Die politische und ökonomische Situation in Kenia, Piraten vor der Küste Somalia, Entwicklungen in China, Terrorbekämpfung durch westliche und lokale Mächte, Dialog der Kulturen, Gleichberechtigung der Frauen, die Auseinandersetzung mit der Religion usw. Dieser Weg durch alle Kontrollpunkte wirkte doch ein wenig zu konstruiert, zu aufgesetzt.

Das Buch umfasst ca. 600 Seiten. Die Leserschaft braucht einen langen Atem und soll gar nicht versuchen das Ende zu erraten. Die Geschichte wirkt nicht abgeschloßen, es gibt keinen Spannungsbogen, der durch das ganze Buch hindurch geht. Vielmehr ist das eine Reihe oft überlappender Spannungsbögen. Das Buch wird gut bei einer Leserschaft ankommen, die eine langfristige schöne und anspruchsvolle Unterhaltung nötigt hat, da ihr eigenes Leben nicht abenteuerreich genug ist und für die der Weg wichtiger ist als das Ziel.

Sachlicher und überzeugender Feminismus

Chimamanda Ngozi Adichie ist keine Unbekannte. Ihre Romane „Americanah“, „Half of a Yellow Sun“ und „Purple Hibiscus“ wurden zahlreich ausgezeichnet. Sie ist eine Feministin und veröffentlichte 2017 ein Buch, in dem sie sachlich, aber in einem literarisch fiktiven Kontext, über die feministische Erziehung von Töchtern spricht. Der Originaltitel lautet „Dear Ijeawele, or A Feminist Manifesto in Fifteen Suggestions“. Die deutsche Übersetzung trägt den Titel „Liebe Ijeawele! Wie unsere Töchter selbstbestimmte Frauen werden“. Der Text ist in der Form eines Briefes gehalten, den die Autorin an ihre Freundin schreibt, die vor kurzen eine Tochter geboren hat.

Das Buch besteht aus einem Vorwort, einem Nachwort und fünfzehn Thesen beziehungsweise Ratschlägen, die vielleicht sogar als Gebote des Feminismus gemeint sein könnten. Im Gegensatz zu zahlreicher Literatur über Feminismus, bleibt der Ton dieses Buches sehr ausgeglichen, vermeidet Dramatisierungen, Pathos und blanken Männerhass. Die Autorin fühlt sich sicher in dem Thema und versucht nicht mit emotionalen Aussagen eventuelle Logiklücken zu kaschieren.

Die Ratschläge variieren von der Definition der grundsätzlichen Prinzipien bis zu alltäglichen Problematiken. Die einzelnen Ratschläge werden nicht zu kategorisch formuliert und erwarten lediglich einen Versuch berücksichtigt zu werden. Die einzelnen Kapitel fangen oft mit der Beschreibung einer Situation an, die untersucht wird. Danach folgt ein Vorschlag oder eine Lösung, die mit Argumenten begründet wird. Dabei geht es nicht um die leichteste Lösung, sondern um die beste, um die richtige, die im Sinne des Feminismus und noch mehr im Sinne der Gleichberechtigung der Geschlechter. Ihre Argumentation löst immer wieder einen Aha-Effekt aus. Und diesen ohne Nebenwirkungen oder unangenehmen Nachgeschmack für Frauen oder für Männer. Niemand fühlt sich angegriffen, weil die Gerechtigkeit und Gleichstellung aller Menschen bei der Argumentation im Vordergrund steht.

Eigentlich ist das Buch für eine Mutter mit einer kleinen Tochter genau so zu empfehlen, wie für einen Vater mit einem Sohn. Auch ein „alter weißer Mann“ wird sich von einer Feministin verstanden fühlen bzw. er wird endlich die Möglichkeit haben den Feminismus lieben zu lernen. Also ist dieses Werk uneingeschränkt und voller Begeisterung weiterzuempfehlen. Solche Bücher machen die Welt schöner. Und zwar für alle.

Große Sauerei alias Dexter-Style

Was verkauft sich noch gut in den Medien außer einer Verheißung von Sex? Ein Mord, Blutlachen, ein Serienmörder, am besten einer, von dem das nicht erwartet wird, der eigentlich normal wirkt. So normal, wie jeder von uns ist, damit wir uns leichter mit dem Serienmörder identifizieren können. Hoffentlich erschrecken wir uns irgendwann über sich selbst. Oder wir lachen. Im Buch „My Sister, the Serial Killer“ (dt. „Meine Schwester, die Serienmörderin“) von Oyinkan Braithwaite gibt es, wie der Titel andeutet, einen leichten Perspektivenwechsel. Die Serienmörderin ist die jüngere Schwester der Hauptfigur. Und als ältere muss sie die Sauerei jedes Mal hinter ihr wegräumen. Klingt im ersten Moment nicht sehr spannend, ist aber für Liebhaber*innen des schwarzen Humors bereits an dieser Stelle ziemlich unterhaltsam und für angehende Hobby-Serienkiller eventuell sehr informativ.

Das Buch wird zwar auch als Krimi deklariert, der Mörder und der Tatablauf sind aber von vornherein bekannt. Die Spannung verlagert sich viel mehr auf die Beseitigung der Spuren. Beim Lesen wird man/frau sehr schnell zum Mitwisser und Mittäter, denn die Sympathie und das Verständnis für die Situation der älteren Schwester stellt sich innerhalb der ersten Minuten ein. Und die rasante Fahrt nimmt ihren Lauf. Mit der Zeit flacht die Erzählung nicht ab, geht in die Tiefe, entwickelt weitere Aspekte und Wege.

Wenn das Buch nicht so ironisch und witzig wäre oder vielleicht genau deswegen, könnte man/frau dieses Werk nach Paragraph 131 des Strafgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland zur Verantwortung ziehen, da Gewaltdarstellungen, Gewaltverherrlichung und Gewaltverharmlosung im Überfluss zu finden sind. Besondere Schwere käme hinzu, da die Taten sexistisch motiviert sind. Im Roman werden ausschließlich Männer umgebracht und zwar von einer Frau. Der feministische Drang nach einem Ausgleich im Sinne einer Rache für die Jahrhunderte, gar Jahrtausende, der Unterdrückung finden in diesem Roman ihr Ventil.

Die Beziehung der beiden Frauen wurde ebenfalls gut ausgearbeitet, ist sehr glaubwürdig und spannend, obwohl die Konstellation zu den Klassikern gehört: Eine jüngere schönere Schwester, die furchtbar egoistisch ist, ohne großartige Selbstkontrolle, aber schön und beliebt bei den Männern, lässt der älteren Schwester auch keine Chance auf ihr privates Glück.

Insgesamt ist der Roman tatsächlich witzig und humorvoll. Originalität ist durch den Perspektivenwechsel gegeben. Auch wenn die Idee an die Serie „Dexter“ (2006-2013) oder an den Film „Serial Mom“ aus dem Jahr 1994 erinnert. Ein leichter Lesestoff, der vermutlich auch bei Männern gut ankommt, wenn sie ihre Männlichkeit nicht allzu ernst nehmen.

Jedermanns Feminismus. Ein Albtraum.

JJ Bola, ein kongolesischer Autor aus Kinshasa, der bereits als Kind nach London immigrierte und da in einem sozialen Brennpunkt aufgewachsen ist, könnte einigen Lesern bereits bekannt sein. Seine aktive politische Haltung war bereits in seinen Lyrikbänden zu spüren. So kam es im Jahr 2019 dazu, dass er ein Buch herausgebracht, welches oft unter anderem als Sachbuch bezeichnet wird.

„Mask Off: Masculinity Redefined“ ist der Titel des Buchs. Die deutsche Ausgabe bekam einen ziemlich provokativeren Titel „Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist“. Das Buch beschäftigt sich mit der aktuellen Vorstellung über Männlichkeit und versucht diese aufklärerisch zu transformieren und als neue Männlichkeit den Männern beizubringen, wie sie zu Männern 2.0 werden können oder auch müssen.

Die Sprache des Buchs ist klar und verständlich für jedermann. Und damit es auch wirklich jeder versteht und den Inhalt und den Autor vollständig aufnimmt, werden Tupac Shakur und andere Gangster-Rapper als Repräsentanten der männlichen Gesellschaft gleich zu Anfang des Buches gerne zitiert. Auch sein Lieblingsbegriff „Real Man“, der kaum in seinen Lyrikwerken zu übersehen ist, taucht hier wieder auf.

Im Gegensatz dazu theoretisiert JJ Bola auch gerne über Patriarchat, gesellschaftliche Zwänge, Feminismus und noch vieles mehr. Eine Flut an Floskeln und abgenutzten Slogans wird als eine angeblich solide Argumentation aufgeführt. Dabei wäre es fair die Autoren der zitierten Gedanken zu erwähnen und nicht als eigene darzustellen.

Die Prämissen des Autors entlarven seine fehlende Bereitschaft über den Tellerrand zu schauen, und das eigene stereotype Denken überhaupt erkennen zu wollen. Nach seiner Auffassung sind alle Männer gleich, obwohl er mit den Beispielen und Statistiken nicht weiter als nach Großbritannien, Kongo oder zu den Gangster-Rappern aus dem USA geht. Der Rest der Welt existiert für ihn nicht. Die Beispiele der Kommunikation und Interaktion zwischen den Männern entsprechen auch bei weitem nicht den beobachteten Normen der Gesellschaft des 21. Jahrhundert. Es wird immer wieder über „den Mann“ gesprochen und auf „die Männlichkeit“ verwiesen, als ob das etwas festes und eindeutiges wäre. Dabei sagt er selbst, dass es viele Speilarten von Männlichkeit gibt und diese einem ständigen Wandel unterliegen. Logisch ist das nicht. Wissenschaftlich auch nicht. Außerdem teilt JJ Bola die Menschen klar in zwei Lager Männer und Frauen. Alles andere wäre zu kompliziert.

Trotz der Meinung einiger Buchläden und großer Online-Shops, gehört dieses Buch nicht wirklich zu der Kategorie „Politikwissenschaft“ oder „Sachbuch“. Viel mehr sind das emotionale Prosagedichte über das ewige Thema von „Real Man“. Der Wille des Autors sich für ein wichtiges Thema zu engagieren scheiterte an dem schwachen Verständnis der Problematik und der wissenschaftlichen Herangehensweise.

Das Buch ist auf jeden Fall für „echte“ Männer zu empfehlen. Nur diese können einen Nutzen aus dem Buch bekommen.

Ein Gesicht des Elends und der Korruption

Es gibt Begriffe, die vermutlich fast überall in der Welt und fast in jedem Jahrhundert, auch vor Christi Geburt, auf gleiche Weise verstanden und wahrgenommen wurden. Dabei geht es in diesem Falle nicht um die gehobenen Begriffe, wie Liebe oder Stolz, sondern um menschlich viel näher liegende Phänomene, hoffnungsloses Elend, korrupte Beamte, gierige Staatsoberhäupter und sehr ehrgeizige, aber trostlos unfähige Männer. Und das sind die Hauptakteure der Kurzgeschichten von Petina Gappah, die in einem Buch mit dem Titel „An Elegy for Easterly“ zusammengefasst wurden. Die deutsche Version „Im Herzen des Goldenen Dreiecks“ wurde im Sommer 2020 veröffentlicht.

Da die Autorin ihre Jugend in Simbabwe verbracht hat und auch Rechtswissenschaft an der University of Zimbabwe studiert hat, ist es keine große Überraschung, dass sie ihre Kurzgeschichten in Simbabwe spielen lässt. Das Themenfeld erstreckt sich ebenfalls in der zu erwartenden Form eines politischen Romans.

Der tatsächliche Wert des Buches entsteht viel mehr im Schmerz, welcher den Charakteren der Geschichten angetan wird. Oft wird dieses Leiden der Leserschaft sarkastisch und mit viel Zynismus schmackhaft gemacht. Das ist zum Teil ein direktes schonungsloses Auslachen. Ein Auslachen der schwachen und unter diesen Schwächen leidenden Charaktere. Der andere Teil der Geschichten geht mit den schweren Schicksalen der Menschen sehr einfühlsam um, so dass die letzten Zeilen Gänsehaut erzeugen und dem Leser eine Pause abverlangen, damit die beschriebene düstere Welt ihn wieder verlässt. In dieser Abwechslung zwischen Sarkasmus und Mitgefühl entsteht eine zyklische emotionale Dynamik, ein Perpetuum mobile, das bis zum Schluss des Buches die Spannung hält.

Ein wichtiges Merkmal des Buches ist eine gewisse Männerfeindlichkeit, klarer Sexismus. Männer werden mehr in negativen Rollen dargestellt: entweder als heuchlerische, gefühllose Aggressoren oder unfähige, infantile, dumme Möchtegern-Geschäftsmänner. Dagegen besetzen Frauen viel mehr die Rollen der Leidtragenden oder der Weisen bzw. Besserwisserischen im positiven Sinne. Das wäre ein starker Kritikpunkt, wenn das nicht eine Form des ausgleichenden Sexismus wäre, die das überschätzte Selbstbewusstsein vieler Männer auf ein realistisches Niveau herunterstürzen soll.

Die politische Botschaft, die Kritik an der Korruption im Staatswesen von Simbabwe und die schwierige Situation der Bevölkerung, hält sich in Grenzen, wie bei den meisten Büchern diese Genres: scharfe Kritik der Staatsmacht, Verlangen nach Demokratisierung, Gleichberechtigung, Stärkung der Zivilgesellschaft und eine Teilschuldzuweisung an die Bevölkerung des Landes, an ihre Passivität.

Das Buch ist unterhaltsam in der Sprache, in den Formulierungen, in den erzählten Situationen. Die Leserschaft wird schnell begreifen, worum es in den Geschichten geht, kann den Humor gut nachvollziehen und, dass es sich um bekannte Phänomene handelt, die kaum simbabwe-spezifisch sind. Neue politische Ideen sollte man/frau aber von dem Buch nicht erwarten.

I had a dream – zwischen Traum und Traum

Irgendwann träumt jeder Mensch. Das passiert mal im Schlaf oder am Tage. Woher kommen unsere Träume? Wer macht sie? Entscheiden wir denn selbst, was unser Traum diese Nacht sein wird? Wer entscheidet, was unser Lebenstraum wird? (Ist alles nicht so einfach.)

José Eduardo Agualusa gibt in seinem zeitgenössischen Roman „Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer“ auch nicht alle Antworten auf diese tiefgründigen Fragen. Was er seiner Leserschaft gibt, ist eine Kulisse am Anfang des 21. Jahrhundert in Angola, das nach mehreren blutige Bürgerkriegen immer noch undemokratisch regiert wird, das Porträt eines einheimischen Journalisten, der gerade frisch geschieden ist, und die Beobachtung seltsamer Phänomene, die von vielen Menschen im Schlaf erfahren wurden.

Der Roman liest sich ziemlich entspannt. Der Leser bleibt im Fluss, wird nicht von komplexen logischen Rätsel außerhalb des Geschriebenen unterbrochen oder irregeführt. Vielleicht sollte man angesichts der recht komplexen Figurenkonstellation ein paar Namen der Hauptakteure notieren, um den Zusammenhang bei den Szenenwechseln oder längerem Ausbleiben einer Figur schneller wieder hervorrufen zu können. Der Autor lässt einen auch nicht alleine ratlos im Dunkeln stehen, wenn es um mysteriöse Phänomene geht oder um die historischen Ereignisse in Angola, die nicht so bekannt sind. Zusätzlich befinden sich im Buch zahlreiche Hintergrundinformationen, wenn die eine oder der andere es noch genauer etwas wissen möchte. Auf diese Informationen kann, muss man aber für eine gewinnbringende Lektüre nicht zugreifen. Der Spannungsbogen wird gut gehalten und zwingt immer weiter zu lesen bis zu der großen Auflösung am Ende des Buches.

Die persönliche Ebene der Scheidung des Protagonisten Daniel Bachimol und seines Verhältnisses zur Ex-Frau sowie zu der erwachsenen Tochter, bleibt die meiste Zeit im Hintergrund und belastet den Leser nicht unnötig. Viel mehr konzentriert sich der Autor auf de geschichtlich-politischen Kontext und vermischt das mit Phantastischem an der Grenze zwischen Mystery und Science-Fiction. Dazu kommen einige interessante philosophische Dialoge, die wie der ganze Text mit gelungener Ironie und Sarkasmus durchdrungen sind. Im Laufe des Buches vermischen sich die Ebenen und so wird das Persönliche und Mysteriöse immer mehr politisch.

Die wichtigsten Werte, die der Autor vermittelt, sind die Freiheit des Menschen, der notwendige Widerstand gegen eigene Ängste, ein Glaube an die neue junge Generation, die eine bessere Zukunft für das Land schaffen kann.

Der Roman von Agualusa ist grundsätzlich für das breite Publikum empfehlenswert. Eine zusätzliche Anerkennung wird er bestimmt von politisch interessierten Lesern erhalten, sowie diejenigen, die gerne mehr über das postkoloniale Afrika im Allgemeinen und Angola im Besonderen erfahren möchten.

Eine Pflichtlektüre

Es gibt keine afrikanische Literatur, es gibt keine europäische Literatur, keine amerikanische oder asiatische. Es gibt nur schlechte Literatur oder gute Literatur, schwache Literatur oder starke, langweilige oder atemberaubende, wie den Roman von David Diop Nachts ist unser Blut schwarz.

Zurecht genießt der Autor mit senegalesischen Wurzeln die begeisterten Stimmen zu seinem Roman. Zurecht darf er französischsprachige afrikanische Literatur an der Universität Pau unterrichten. Er weiß, er hat verstanden, wie die Literatur sein sollte.

„Ich habe nur entfernt, was nicht dazu gehörte.“
– Michelangelo

Was entfernte denn David Diop aus seinem Roman? Die langweilige Einleitung mit der zögernden Beschreibung der Figuren, der Landschaften, des historischen Kontextes. Es geht gleich mit voller Wucht rein ins Geschehen, rein in die kreisenden und doch klaren Gedanken des Protagonisten. Es geht um den Krieg, es geht um einen Soldaten im Krieg, der soeben seinen besten Freund verloren hat und darum dass er sich Vorwürfe macht, dass er das Leiden des schwer verwundeten Freundes nicht verkürzen konnte.

Man findet in dem Roman keine kitschige Konstellationen, keine vorhersehbaren Entwicklungen. Es ist eine Spannung in den Buchstaben, die den Leser dazu zwingt die Kontrolle aufzugeben und sich einfach von dem Gedankenstrom des Hauptcharakters mitreißen zu lassen. Von einem Gedankenstrom, der die Hauptfigur zu merkwürdigen Taten verleitet, aber auch zu pragmatisch hochpräzisen Feststellungen.

Trotz des vermeintlichen Siegels der „afrikanischen Literatur“ schafft Diop tatsächlich den typischen und floskelartigen anti-rassistischen Zeigefinger komplett zu ersparen. Auch die afrikanische Kulissen sind so harmonisch und natürlich eingewebt, dass der europäische Leser kaum das Gefühl bekommt, dass es sich dabei um etwas Fremdes und Exotisches handeln könnte. Das Nachvollziehen der Umstände und Geschehnisse aus der Kindheit und Jugend des Soldaten fällt einem ziemlich leicht dank der universalen humanistischen Sprache, wo es einfach um die Menschen geht mit all seinen Freuden, Ängsten, Träume und Wunden.

Die sozialkritische Funktion des Romans bzw. sein Beitrag zu der äußeren und inneren Befreiung des Menschen als Individuum lässt das Werk als klar humanistisch und aufklärerisch Bezeichnen.

„Nachts ist unser Blut schwarz“ kann jedem empfohlen werden. Es ist nicht nur ein Vergnügen an originellen Formen und Gedanken, sondern auch ein guter moralischer Uhrenabgleich, der vielleicht ein Teil des Schulprogramms werden sollte.

Ein unterschwelliger Angriff auf die Normen der Gesellschaft

Der Sammelband She Called Me Woman ist einer der Fälle, in denen die Einleitung die tragende Rolle des Werkes übernimmt. Man denke an die moderne Kunst, bei der das einfache Betrachten des Objektes nicht unbedingt zur vollen Verinnerlichung der Künstlerbotschaft führt. Es ist wichtig den „Begleitzettel“ aufmerksam zu lesen.

She Called Me Woman ist das Ergebnis einer umfangreichen Arbeit, die quasi an eine sozialwissenschaftliche Studie grenzt. Es wurden zahlreichen Interviews mit Queer-Frauen aus und in Nigeria geführt, die zwischen 20 und 42 Jahre alt waren. Zwanzig von diesen Interviews wurden in den Sammelband aufgenommen. Die Aufbereitung des Materials wurde minimal gehalten, um Authentizität zu bewahren. Die Erzählungen wurden anonymisiert.

Es ist ein politisch motiviertes Werk. Es geht darum die Situation der Queer-Communities in Afrika am Beispiel Nigeria‘s durch die autobiographischen Geschichten zu vermitteln und den queeren Menschen eine moralische Unterstützung zu geben. In einigen Erzählungen handelt sich auch um Auswanderer in die westliche Welt, bzw. deren Kinder, die sich aber trotzdem dem Einfluss der kulturellen Wurzeln nicht vollkommen entziehen können, wie in dem Beitrag „Focusing On Joy“ einer US-Amerikanerin mit nigerianischen Wurzeln. Diese Betrachtungsperspektiven bieten die Möglichkeit eines zusätzlichen Vergleichs der Situation in unterschiedlichen geographischen und vor allen sozial-politischen Strukturen.

Einzelne Kurzgeschichten sind als autobiographische Monologe aufgebaut und meistens chronologisch, ähnlich der Antwort auf die Frage „Wie war dein Leben bis jetzt als Queer? Erzähl mal!“. Es ist eine Erzählung unter Freunden, entspannt, ohne Hektik, ohne einen aufgebauten Spannungsbogen, so trivial und banal, wie das Leben manchmal ist, aber auch mit ergreifenden Momenten, die manchmal distanziert und ohne Dramatisierung erzählt werden und trotzdem, oder vielleicht deswegen, zur Gänsehaut beim Leser führen. Einige Frauen werden emotionaler, drücken ihre Empörung, Angst oder Traurigkeit offen aus und anscheinend schaffen die Interviewenden es diese Emotionalität zu Papier zu bringen zu können.

Inhaltlich hält sich das Thema „Queerness“ in Grenzen und wird nicht zum Selbstziel der Geschichten. Die Beziehungsdramen oder Kindheitserinnerungen sind trotz spezifischer Aspekte meist nicht von Lebenssituationen Heterosexueller zu unterscheiden. Das ist vermutlich einer der „Geheimwaffen“ des Sammelbands – ein Schleichangriff auf die Normen der Gesellschaft. Die Queer-Frauen werden der Gesellschaft nicht entgegen gesetzt, nicht marginalisiert, sondern als Teil der „normalen“ Gesellschaft dargestellt. Genau darauf beruht die Empörung der Queer-Community, wenn deren Mitglieder als Außenseiter, als Werk Satans oder als psychisch krank bezeichnet werden, obwohl die sexuellen Vorlieben einiger „Heteros“ deutlich weiter in ihrer Abweichung von den Normen gehen.

Die deklarierten Ziele des Sammelbandes scheinen erreichbar zu sein. Das Zielpublikum aus der Queer-Community wird sein Gefallen am Buch finden und eine moralische Unterstützung in schwierigen Zeiten oder Regionen finden. Andere Leser, die nicht in der Materie stecken, erfahren nicht zu viel Neues. Vielmehr ist das eine quasi dokumentarische Bestätigung, dass die Welt nicht untergehen wird, wenn ein paar Gay-Paraden mehr stattfinden oder wenn das eigene Kind sich als queer entpuppt.

Rezension zu ausgewählten Kurzgeschichten aus Lagos Noir und vielleicht ein wenig mehr.

In den ausgewählten Kurzgeschichten geht es inhaltlich um Großstadtanekdoten. Das Genre wird bereits im Titel mit „Noir“ deklariert und die geographische Einordnung „Lagos“ entspricht dem tatsächlichen Setting der Erzählungen. Der Sammelband an sich ist zwar nicht direkt als eine Sammlung von Krimi-Geschichten gekennzeichnet, erweckt aber diesen Eindruck durch den Inhalt und die Figuren in einzelnen Werken. Es geht meistens um Polizisten, Detektive, Verbrecher und Verbrechen. Besonders oft um Mord. Jede Geschichte hat einen anderen Autor. Dadurch verstärkt sich die Vielfalt der Charaktere noch mehr. So geht es um ehrliche und um korrupte Polizisten, um nette und um eiskalte Verbrecher. Die verschwommene Grenzen zwischen Gut und Böse sind auch ein Teil des Noir-Genre per Definition.

Die Sprache und die Beschreibungen sind zugänglich für jedes Publikum. Der Leser kann leicht und schnell in die aufgebaute Atmosphäre eintauchen. Es muss auch nicht viel im Hintergrund überlegt werden, um der Geschichte folgen zu können. Nur am Ende jeder Erzählung wird man nachdenklich und sollte die Zeit des Nachgeschmacks genießen.

Literarisch gesehen ist die Qualität zwar variabel, aber in einem akzeptablen Bereich. Die Autoren sind talentiert und beherrschen ihr Handwerk. Die Originalität des Plots und der Charaktere ist nicht unbedingt auf dem höchsten Niveau. Wie soll man auch etwas Neues in einem Genre des „Roman noir“ schaffen, das bereits seit 80 Jahren von zahlreichen Autoren weltweit abgearbeitet wurde? Mit einem korrupten Polizisten oder einem postmortalen Coming-Out des Opfers wird man im 21. Jahrhundert kaum jemanden überraschen können. Auch der Anspruch im Sinne von Postkolonialismus sozialkritisch zu wirken wurde um mehr als 50 Jahre verpasst.

Nehmen wir auch mal die Geschichte „Killer Ape“ von Chris Albani, die originellste Idee, dass ein Affe einen Mann umgebracht hätte und zwar auf eine Weise, die nur einem Menschen zumutbar wäre. Im Jahr 2005, also 13 Jahre früher, wurde eine Episode „Mr. Monk and the Panic Room“ der TV-Krimi-Serie „Monk“ ausgestrahlt, in der ein Affe mit einem Revolver einen Mann angeblich erschossen hätte. Vor ein paar Tagen lief mal diese Episode auch bei ZDF-Neo wieder.

Der Titel „Lagos Noir“ weist darauf hin, dass die Geschichten in dem Band solche sind, die in Lagos passiert sein könnten. Es stellt sich die Frage ob, wenn man nur wenige Attribute wie geographische Bezeichnungen, Namen der Figuren und einige wenige Praktiken austauschen würde, dies nicht genauso Geschichten sein könnten, die in Nairobi, Tel Aviv, Moskau oder Boston passiert sein könnten? Was in den Erzählungen fehlt ist ein tatsächlicher lokaler Bezug. Nur dann könnte man nach dem Lesen sagen, dass man die Metropole Lagos ein wenig mehr kennengelernt hat.

Wem könnte dieser Sammelband und die komplette dazugehörige Noir-Serie aus dem Verlagshaus Akashik gefallen? Jeder der Bände fokussiert sich auf eine andere globale Großstadt. Zielgruppe könnten in erster Linie Touristen sein, die durch die Lektüre ein Stück der lokalen Atmosphäre mitnehmen könnten, in einer Kurzgeschichte mal den bekannten Namen der Straße oder des Bezirks wiedererkennen und einen Aha-Effekt „Hey! Da sind wir doch vorbei gegangen!“ haben. Echte Fans könnten sogar die ganze Serie der Sammelbände abarbeiten und systematisch jeden erwähnten Ort in jeder Kurzgeschichte besuchen. Die zweite Zielgruppe wäre jung und in Noir sowie in Krimi Genre unerfahren. Für sie wäre das Ganze sehr lesenswert, neu und überraschend. Die dritte Gruppe der Leser, vielleicht die größte, wären einfach Menschen, die gerne gute Geschichten lesen. Sie wollen einfach der reellen Welt für ein paar U-Bahn-Stationen entfliehen und ein Detektiv oder ein Gangster im weiten Lagos werden.

Respekt!

Ein kleiner Junge. Irgendwo in Kinshasa. Barfuß. In einem weißen Hemd und blauen Denimshorts. Hält einen Mikro. Er schaut dich an. Sein Blick ist selbstbewusst. Ein wenig traurig. Mit einem Vorwurf in den Augen:

„[…] we lose our humanity. every time we stare at television. every time we eat in McDonalds. sat by the window seat of a Starbucks with a cappucino reading the latest pop book. every time we download an app on our iPhone. iPad. I am alone.“
– This Is Not Just (S. 51)

Etwa so trifft uns JJ Bola mit seiner Gedichtsammlung Refuge und heißt uns willkommen in seiner Welt. In einer Welt voller Liebe, Schmerz, Empörung und Imperativ. Der Sammelband besteht aus ausgewählten Gedichten, die bereits früher publiziert wurden, sowie neuen Material.

Der Sammelband ist sehr konsequent aufgebaut, was die Entwicklung des Autors betrifft. Ob dieser Aufbau bewusst gewählt wurde oder eine Chronologie als Basis diente, ist unbekannt. Tatsache ist, dass der Entwicklungsweg von JJ Bola als Dichter nicht nur lang, sondern auch steinig und schwer war.

In der ersten Hälfte des Bandes wird so wild mit Klischees gestempelt, dass man sich fast in der Quizsendung „Erkennen Sie die Melodie?“ wiederfindet, wo die Hauptunterhaltung daraus besteht sich an das Lied oder an zahlreiche Lieder zu erinnern, wo der vorgespielte Ausdruck bereits vorkam. Die erste Zeile des ersten Gedichtes „she wears a cage around her heart“ lässt nichts Gutes ahnen und bestätigt es auch der Schluss „but you‘re the one who holds the key“.

Die nächste Entwicklungsstufe innerhalb des Bandes ist der Hip-Hop. Die Ausbreitung des Einflusses findet in „I Found Hip Hop“ seinе Apotheose. Der Dichter ist noch auf der Suche nach der Tiefe für seine Texte und bedient sich erstmal mit den oberflächlichen Referenzen zur Antike, zu großen Königreichen in Afrika und Michael Jackson.

„[…] hip is the knowledge. Like the construction of the pyramids.“
– I Found Hip Hop (S. 45)

Parallel dazu kommt bei JJ Bola der Prediger-Imperativ immer wieder zum Ausdruck. Er spricht von einem schrecklichen Wir in Politics 101 und endet darin mit einem ausgelutschten Mantra der Verschwörungstheoretiker „[.. ] dont‘t trust what you read in the news or what you see on TV“

Das Gute an dem Sammelband ist der positive Entwicklungsweg, der da ist. Irgendwann zum Ende des Bandes fängt man an neue Versionen der früheren Inhalte wiederzuerkennen bzw. man erkennt diese auf den ersten Blick gar nicht wieder, weil sie jetzt sprachlich viel besser geworden sind. Ein gutes Beispiel dafür ist real man (S. 29)vs. man, listen (S.67):Hip-Hop-Möchtegern vs. Dichter. So kommt die Freude beim Lesen der letzten Gedichte um so mehr „like the sunshine after the rain“ oder so ähnlich.

Wer sollte sich diesen kompakten Sammelband von weniger als ein hundert kleinen Seiten zu Herzen nehmen? Die ersten fünfzig Seiten sind für Teenager und junge Erwachsene mit einem Instagram-Account zu empfehlen. So findet man viele schöne Zitate zum Reposten. Die zweite Hälfte des Sammelbandes ist uneingeschränkt empfehlenswert, man findet in den Texten eine starke Schulter in schweren Zeiten sowie eine gute Motivation zu fliegen anstatt zu rennen und zu leben anstatt zu sterben. Eine andere Zielgruppe für den gesamten Sammelband sind die (Hip-Hop)Dichter, die sich ein Beispiel an dem Entwicklungsweg von JJ Bola nehmen könnten und einen Respekt an ihn twittern.