In den ausgewählten Kurzgeschichten geht es inhaltlich um Großstadtanekdoten. Das Genre wird bereits im Titel mit „Noir“ deklariert und die geographische Einordnung „Lagos“ entspricht dem tatsächlichen Setting der Erzählungen. Der Sammelband an sich ist zwar nicht direkt als eine Sammlung von Krimi-Geschichten gekennzeichnet, erweckt aber diesen Eindruck durch den Inhalt und die Figuren in einzelnen Werken. Es geht meistens um Polizisten, Detektive, Verbrecher und Verbrechen. Besonders oft um Mord. Jede Geschichte hat einen anderen Autor. Dadurch verstärkt sich die Vielfalt der Charaktere noch mehr. So geht es um ehrliche und um korrupte Polizisten, um nette und um eiskalte Verbrecher. Die verschwommene Grenzen zwischen Gut und Böse sind auch ein Teil des Noir-Genre per Definition.
Die Sprache und die Beschreibungen sind zugänglich für jedes Publikum. Der Leser kann leicht und schnell in die aufgebaute Atmosphäre eintauchen. Es muss auch nicht viel im Hintergrund überlegt werden, um der Geschichte folgen zu können. Nur am Ende jeder Erzählung wird man nachdenklich und sollte die Zeit des Nachgeschmacks genießen.
Literarisch gesehen ist die Qualität zwar variabel, aber in einem akzeptablen Bereich. Die Autoren sind talentiert und beherrschen ihr Handwerk. Die Originalität des Plots und der Charaktere ist nicht unbedingt auf dem höchsten Niveau. Wie soll man auch etwas Neues in einem Genre des „Roman noir“ schaffen, das bereits seit 80 Jahren von zahlreichen Autoren weltweit abgearbeitet wurde? Mit einem korrupten Polizisten oder einem postmortalen Coming-Out des Opfers wird man im 21. Jahrhundert kaum jemanden überraschen können. Auch der Anspruch im Sinne von Postkolonialismus sozialkritisch zu wirken wurde um mehr als 50 Jahre verpasst.
Nehmen wir auch mal die Geschichte „Killer Ape“ von Chris Albani, die originellste Idee, dass ein Affe einen Mann umgebracht hätte und zwar auf eine Weise, die nur einem Menschen zumutbar wäre. Im Jahr 2005, also 13 Jahre früher, wurde eine Episode „Mr. Monk and the Panic Room“ der TV-Krimi-Serie „Monk“ ausgestrahlt, in der ein Affe mit einem Revolver einen Mann angeblich erschossen hätte. Vor ein paar Tagen lief mal diese Episode auch bei ZDF-Neo wieder.
Der Titel „Lagos Noir“ weist darauf hin, dass die Geschichten in dem Band solche sind, die in Lagos passiert sein könnten. Es stellt sich die Frage ob, wenn man nur wenige Attribute wie geographische Bezeichnungen, Namen der Figuren und einige wenige Praktiken austauschen würde, dies nicht genauso Geschichten sein könnten, die in Nairobi, Tel Aviv, Moskau oder Boston passiert sein könnten? Was in den Erzählungen fehlt ist ein tatsächlicher lokaler Bezug. Nur dann könnte man nach dem Lesen sagen, dass man die Metropole Lagos ein wenig mehr kennengelernt hat.
Wem könnte dieser Sammelband und die komplette dazugehörige Noir-Serie aus dem Verlagshaus Akashik gefallen? Jeder der Bände fokussiert sich auf eine andere globale Großstadt. Zielgruppe könnten in erster Linie Touristen sein, die durch die Lektüre ein Stück der lokalen Atmosphäre mitnehmen könnten, in einer Kurzgeschichte mal den bekannten Namen der Straße oder des Bezirks wiedererkennen und einen Aha-Effekt „Hey! Da sind wir doch vorbei gegangen!“ haben. Echte Fans könnten sogar die ganze Serie der Sammelbände abarbeiten und systematisch jeden erwähnten Ort in jeder Kurzgeschichte besuchen. Die zweite Zielgruppe wäre jung und in Noir sowie in Krimi Genre unerfahren. Für sie wäre das Ganze sehr lesenswert, neu und überraschend. Die dritte Gruppe der Leser, vielleicht die größte, wären einfach Menschen, die gerne gute Geschichten lesen. Sie wollen einfach der reellen Welt für ein paar U-Bahn-Stationen entfliehen und ein Detektiv oder ein Gangster im weiten Lagos werden.